"Oh, eine Satire auf Dating-Casting-Shows à la 'The Bachelor'. Nett. Da werden dann die Beteiligten durch den Kakao gezogen und die Mechanismen der Sendung offen gelegt. Aber interessiert mich das eine ganze Staffel lang?“ Das waren in etwa meine Gedanken, als ich im vergangenen Jahr zum ersten Mal von "UnREAL" hörte. Zur Erklärung: Ich habe einige Jahre das Unterhaltungsressort von "Stern Online" geleitet, wo wir uns ausführlich und intensiv mit immer neuen Varianten von unterschiedlichen Dating- und Castingshows beschäftigt haben. So intensiv, dass ich, seit ich im vergangenen Jahr dort gekündigt habe, in keine einzige dieser Shows mehr reingeschaltet habe. Denn die Dosis reicht bis an mein Lebensende oder mindestens noch ein paar Jährchen. Meine Herangehensweise an "UnREAL" war also denkbar arrogant: Hab ich doch alles schon gesehen, durchschaut und analysiert.
Doch ich lag falsch. Schon nach der ersten Folge war ich so fasziniert, gefesselt und berührt von den Ereignissen und Charakteren, dass ich nicht anders konnte, als weiter zu gucken. Und weiter zu gucken. Mein Mann, der eigentlich mit mir zusammen schauen wollte, hatte das Nachsehen. Gemeinsam gucken können wir nur abends. Doch nach den zwei ersten gemeinsamen Folgen machte ich am nächsten Tag ohne ihn weiter. Ich redete mir selbst ein, dass das schließlich mein Job sei und ich die Staffel jetzt schnell fortsetzen müsse. Doch in Wahrheit überwog eine Mischung aus folgendem: einige Charaktere waren mir schnell ans Herz gewachsen, und ich wollte dringend wissen, wie es weitergeht.
Denn "UnREAL" ist viel mehr als das, was ich anfangs dachte. Es ist eine klug geschriebene Geschichte, in deren Mittelpunkt zwei Frauen stehen, die ein ähnliches Schicksal haben und auf unterschiedliche Art voneinander abhängig sind. Die eine ist sympathisch, die andere unsympathisch. Und ich meine nicht die Frauenfiguren, die in der fiktiven Datingshow "Everlasting" die große Liebe suchen und um das "Herz" eines reichen Junggesellen konkurrieren. Sondern um zwei entscheidende Frauen hinter den Kulissen der ausgedachten Show: die Producerin und Kandidatenflüstererin Rachel (Shiri Appleby) und ihre Chefin und Showrunnerin Quinn (Constance Zimmer).
Rachel, die mit ihren Rehaugen und ihrer perfekt vorgegaukelten Empathie jede Teilnehmerin und jeden Teilnehmer - und die Leute um sie herum - manipulieren kann. Quinn, die Rachel in ihrer Hand hat und weiß, was sie will - und es auch fast immer bekommt. Es macht großen Spaß, den beiden zuzuschauen. Und es tut weh. Denn nicht nur die Geschichte ist klug geschrieben, auch die Charaktere sind gut beobachtet und mitreißend entwickelt. Rachel und Quinn sind Anti-Heldinnen, wie ich sie mir kaum besser wünschen kann: auf unterschiedliche Arten anziehend und doch immer wieder abstoßend. Gepaart mit dem, was ich erwartet habe - das Offenlegen der Mechanismen des TV-Geschäfts (man merkt, dass eine der Erfinderinnen der Serie drei Jahre lang als Producerin bei der US-Show "The Bachelor" gearbeitet hat) - ist "UnREAL" eine Serie geworden, die mich nicht loslässt. Und die meine Erwartungen an die Handlung immer wieder übertroffen hat - sowohl die Ereignisse in der fiktiven Show als auch die Entwicklung der Hauptfiguren betreffend. Einige Szenen, gerade was Rachel angeht, waren für mich nur schwer auszuhalten - zu sehr habe ich entweder mit ihr gelitten oder an dem gelitten, was sie angerichtet hat. Was "UnREAL" übrigens auf keinen Fall ist: leicht verdauliches Futter zum Lachen. Spätestens ab der zweiten Folgen bleibt einem oft das Lachen im Hals stecken.
Sehr wohltuend auch der Mut zur Unperfektheit: Shiri Appleby spielt mit Rachel eine Figur, die sich gehen lässt. Und entsprechend ungestylt ist sie zurechtgemacht. Die Haare ungewaschen und zu einem zerrupften Dutt zusammengebunden, das T-Shirt wird auf links gedreht, damit keiner merkt, dass sie es schon seit einigen Tagen trägt. Unperfektheit ist eine Sache, die man in amerikanischen Serien wirklich sehr selten sieht. Es unterstreicht Rachels Charakter und trägt auch zur Abgrenzung von den "Everlasting"-Kandidatinnen bei, die - da sie rund um die Uhr von der Kamera beobachtet werden - immer perfekt gestylt sind.
Das Finale traf mich völlig unerwartet. Und hinterließ bei mir zwei große Fragezeichen: "Was soll da noch kommen? Wäre es nicht besser, einfach keine zweite Staffel zu machen?" Doch jetzt, da die zweite Staffel begonnen hat, bin ich sehr gespannt, wie es mit Rachel und Quinn weitergeht. Allerdings muss ich mich noch so lange gedulden, bis mein Mann die erste Staffel beendet hat - denn ich habe ihm versprochen, wenigstens mit der zweiten Staffel auf ihn zu warten.
Es tut mir ein bisschen Leid, dass ich in diesem Text vage bleiben muss und nur Weniges anschaulich erklären kann - aber jedes noch so kleine konkrete Beispiel könnte hier das Vergnügen für diejenigen verderben, die nicht alle Folgen bereits kennen. "UnREAL" ist eine der Serien, von denen man jede Sekunde auskosten sollte.
Und noch drei Gucktipps und einen Hörtipp zum Schluss:
Die Pilot Season bei Amazon Video hat am Freitag begonnen: Amazon will dieses Mal zwei Dramaserien für Erwachsene und sechs Serien für Kinder austesten. Einfach mal reinschauen und überraschen lassen.
John Goodman in einer tollen Rolle: als engagierter Buchautor in der vom Tornado Katrina zerstörten Stadt New Orleans. Er ist nur eine von vielen interessanten Figuren, die hier im Mittelpunkt stehen. Es geht um gemeinsame Schicksale, Hoffnung, Verzweiflung und - Musik. "Treme" läuft ab 23. Juni auf Sky Atlantic HD. Die HBO-Serie gibt’s außerdem bei Amazon Video, iTunes und Maxdome.
Wer Lust auf Nordic Noir hat, für den könnte "Black Widows - Rache auf Finnisch" etwas sein. Drei Frauen verbünden sich, um ihre Ehemänner umzubringen. Was folgt, ist ein spannendes Beziehungsdrama. Die Serie wird ab 23. Juni beim Pay-Sender Sony Entertainment TV wiederholt. Eine ausführliche DWDL.de-Kritik dazu gibt's von mir hier: "Nordic Noir meets 'Desperate Housewives'"
Der Hörtipp ist natürlich die neue Folge der "Seriendialoge". In dieser Woche geht es im DWDL.de-Podcast tatsächlich um eine italienische Serie: Jan Kromschröder, geschäftsführender Gesellschafter der Produktionsfirma Bantry Bay und Professor an der Film-Uni Babelsberg, hat mit mir über den Politthriller "1992" gesprochen. Dabei ging es nicht nur darum, was diese Serie so gut macht, sondern auch, warum sie für uns Deutsche relevant ist und warum europäische Serien wichtig sind. Weitere Infos zur Serie und zum Gesprächspartner gibt's hier, zum Anhören klicken Sie auf folgenden Audioplayer:
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Jetzt zum wirklich Wichtigen: Wo kann man das gucken, über das ich schreibe?
"UnREAL": Die erste Staffel ist komplett bei Amazon Video (Prime) verfügbar, die neuen Folgen der zweiten Staffel werden nach Ausstrahlung in den USA dort veröffentlicht.
Wer mir auf Twitter folgen möchte, kann das hier tun: @FrauClodette.