Vorurteil der Woche: Judith Rakers hat eine große Zweitkarriere als Gesellschaftsreporterin vor sich.
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Wenn Sie demnächst in der Stadt unterwegs sind, schauen Sie sich ab und an mal um. Sollte Ihnen "Tagesschau"-Sprecherin Judith Rakers mit einem NDR-Kamerateam folgen, läuft höchstwahrscheinlich etwas grundlegend falsch in Ihrem Leben.
Für ihre erste eigene Reportage-Reihe hat Rakers es sich nämlich zum Ziel gesetzt, gesellschaftliche Missstände anzuprangern, indem sie sich ihnen gemeinsam mit Betroffenen selbst aussetzt. Angesichts der Tatsache, dass das Genre der Ausprobier-Reportage seinen Zenith schon seit längerer Zeit überschritten hat, ist das ein gewagtes Unterfangen. Jeder Digitalkanal und fast jedes Dritte Programm kann bei Bedarf nachts um halb drei ein paar Nachwuchsjournalisten anrufen, die augenblicklich bereit wären, sich stunden-, tage- oder wochenweise in Situationen hineinversetzen, in denen sie sonst nicht wären, würde nicht eine Kamera dazu laufen.
Mit Rakers hebt der NDR die ausgelutschte Grundkonstellation aber noch mal auf ein neues Peinlichkeitsniveau.
Ungelenkt wechselt die Nachrichtenfrau aus ihrer Welt der großen, weltumspannenden Unglücke in die der kleinen und tauscht in der zweiten Ausgabe mit dem (kuriosen) Titel "Schicksal Armutsfalle - mit Judith Rakers", die am Freitagabend im NDR lief, den Blazer erstmal gegen ein Kapuzenjäcken, um zu demonstrieren, dass sie es auch wirklich ernst meint. (Ganze Sendung auf ndr.de ansehen.)
Für 24 Stunden begleitet sie anschließend eine alleinerziehende berufstätige Mutter in ihrem Alltag, um zu den – erwartbar – anstrengenden Pflichten ihrer Protagonistin mit hochgezogenen Augenbrauen wechselnde Betroffenheitsgesichter zu machen.
Dabei schwebt Rakers wie eine Außerirdische durch die Realität der anderen und nimmt mit großem Staunen zur Kenntnis, mit was sich Nicht-"Tagesschau"-Sprecherinnen den ganzen Tag so herumschlagen müssen. Die Kita hat ganz lange geöffnet, weil so viele Eltern Jobs haben und sonst nicht wissen, wohin mit ihren Kindern? Aha, soso, noch nie gehört. Der lange Weg zur zur Arbeit zermürbt – "24 Minuten sind ja morgens – mein Gott!" Und: "Zentral wohnen bedeutet hohe Mieten, außerhalb ist es günstig, aber da sind die Wege länger – ein Teufelskreis", findet Rakers. Gerade so als sause sie nach der Arbeit auf einen völlig anderen Planeten, um dort zu nächtigen.
Je länger das geht, desto stärker schleicht sich das Gefühl ein: Sie ist hier nicht nur fremd. Sie ist hier falsch.
Mit Sicherheit ist all das gut gemeint, und Rakers sagt, es sei ihr wichtig, sich von den verpönten "Helptainment"-Dokusoaps der Privaten abzuheben. Dabei unterscheiden sich die Mittel, mit denen die Produktionsfirma doclights die NDR-Reihe inszeniert, kaum.
Bereits ab der ersten Sekunde klimpert die Betroffenheitsmusik und die Moderatorin leiert aus dem Off den Standardsatz "Die Kluft zwischen Arm und Reich wird in Deutschland immer größer" herunter. Als Rakers nachmittags mit ihrer Protagonistin und deren Sohn einkaufen geht und dieser immer neue Süßigkeiten in den Wagen legt, die sich die junge Mutter nicht leisten kann, raunt Rakers: "Wie wird Lukas damit umgehen, wenn er merkt, dass er in Armut aufwächst – und andere nicht?" Und: "Wenn jetzt schon kein Extra drin ist – was wird später?"
Bevor sie verrät, was später wird, ist sie – selbstverständlich im Nachrichtenblazer – zum Hamburger Jobcenter gefahren, um dem dortigen Leiter Fragen zu stellen, deren Antworten sie schon kennt ("Was glauben Sie, woran liegt es, dass immer mehr Menschen einer Nebenbeschäftigung nachgehen?" und "Steuern wir auf ein gesamtgesellschaftliches Problem zu?"). Damit war der journalistischen Pflicht genüge getan.
Und das wäre halb so schlimm, hätte Rakers für die von ihr porträtierte Mutter nicht so überschwänglich viel Bedauern übrig, dass man es ihr am liebsten um die Ohren knoten würde. Mit weicher, mitleidiger Stimme fragt sie ihre neue, eigentlich ziemlich taffe und sympathische Bekanntschaft suggestiv, wie sie abgesichert sei (natürlich gar nicht) und wieviel Geld sie zurücklege (natürlich keins). Den Zweitjob in einer Bar auf der Reeperbahn kommentiert sie mit den Worten: "Während Partyvolk und Touristen das Vergnügen suchen, schuftet Tanja in der Doppelschicht, um sich und ihr Kind zu ernähren."
Schon die erste Folge "Schicksal obdachlos" war vor einem Jahr wegen ihrer ärgerlichen Inszenierung institutionalisierter Hilflosigkeit nur schwer zu ertragen (in der ARD-Mediathek ansehen). Nach einer Nacht auf der Straße wusste Rakers: ui, das ist kalt, gefährlich und ungemütlich draußen. Wünscht man keinem, sowas.
Diesmal steht nach dem Probetag für sie fest: "Viele Möglichkeiten hat Tanja nicht, hier herauszukommen." Arm bleibt arm, und Zuschüsse "bieten ihr keinen Ausweg aus der Altersarmut". Diese Einstellung passt immerhin konsequent zum Titel der Reihe, in der gesellschaftliche Probleme nicht als Folge konkreter Verfehlungen (zum Beispiel in der Politik) benannt werden, sondern als – "Schicksal", im Duden definiert als "höhere Macht, die in einer nicht zu beeinflussenden Weise das Leben bestimmt und lenkt".
Diese halbe Stunde festzementierte Chancenlosigkeit ist eine unfassbare Herabsetzung all derer, die daran glauben, dass es sich zu kämpfen lohnt, um die eigene Situation zu verbessern – und auch deshalb so perfide, weil sich Rakers am Ende wieder den Blazer überstreift, um sich im selben Ton, mit dem man Kleinkinder tröstet, die gerade vom Dreirad gekippt sind, von ihrer Protagonistin zu verabschieden: "Danke, dass ich in dein Leben gucken durfte." Dabei hat die gar keine Zeit für lange Prozeduren: Die U-Bahn kommt, die Arbeit wartet, die Zeit drängt, und als der Zug für sie abgefahren ist, bilanziert Rakers: "Hier kommt ein Problem auf unsere Gesellschaft zu, dass wir uns – so Experten – nicht leisten können."
Dann trottet sie davon mit ihrem Rollköfferchen voller Mitleid, ohne jegliche Lust auf Wut oder Empörung oder darauf, Politiker zur Rede zu stellen und mit ihren Erfahrungen zu konfrontieren, einfach ohne Lust zu kämpfen.
An der nächsten Ecke wartet sicher schon die fliegende Untertasse, um sie nachhause zu bringen. Weit weg von dieser Welt, in der man's echt nicht gut getroffen hat, wenn man nicht Judith Rakers ist.
Das Vorurteil: stimmt nicht.