Vorurteil der Woche: Helena Fürst ist "Kämpferin aus Leidenschaft". Und bei RTL arbeiten ausgebuffte Reality-Profis.
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Fast ein ganzes Jahr hat sich Helena Fürst nicht mehr im RTL-Programm blicken lassen, und das ist ja auch kein Wunder, weil sie von "Anwältin der Armen" auf "Kämpferin aus Leidenschaft" umschulen musste. Ist ja modern geworden, sich beruflich noch mal neu zu orientieren. (Wobei sich "Leidenschaft" im neuen Sendungstitel natürlich auch als Herkunftshinweis verstehen ließe und z.B. neben dem kleinen Örtchen Kaltschnäuzigkeit liegen könnte.)
"Ist das gut, Melanie?", fragt sie die Mutter, die beim Wäscheaufhängen in Tränen ausbricht, als Fürst ihr die Botschaft überbringt, dass ihr Ex jetzt doch Unterhalt bezahlen will. "Freun Sie sich? Geht's Ihnen jetzt besser?" Dann kriegt die weinende Frau einen Patsch auf die Schulter, "Na dann, Kopf hoch!", und tschü-hüß! Als einem gestandenen Mann, dem Fürst erfolgreich beim Autoverkauf geholfen hat, vor Freude über die verdienten 1000 Euro die Stimme zu zittern beginnt, meint Fürst: "Och jemineh!" Und später: "Jetzt fangse nicht schon wieder an, ich geh jetzt lieber!" Und nachdem die Frau, deren Haus zwangsversteigert werden soll, während des gemeinsamen Gesprächs heulend aus dem Zimmer geflüchtet ist, realisiert Fürst, dass sie jetzt hinterher muss, um und mit der Feinfühligkeit eines Betongießers zu trösten: "Sie dürfen gerne Ihre Gefühle rauslassen, denn das belastet Sie ja. Sie dürfen auch mal weinen. Das mach sogar ich auch." (Dann aber vermutlich: Hagelkörner.)
Es sind Momente, in denen man kurz versucht ist, sich danach zu sehnen, dass augenblicklich jemand Vera Int-Veen mit dem Fallschirm vor der verkorksten Situation abwirft, um noch das letzte bisschen Herzlichkeit aus der Situation rauszuquetschen, für deren Inszenierung solche Sendungen bei den Privaten gemacht sind.
Aber da ist bloß – Helena Fürst, die Betroffenen im Oberfeldwebelton befiehlt: "Alle beide: Kopf hoch!", bevor sie davonrauscht, um ein Amt, eine Bank oder einen Privatschlingel zur Sau zu machen (und nachzuschauen, ob sie die Leidenschaft vielleicht im Auto hat liegen lassen).
Für Fürsts Rückkehr als "Kämpferin" (aktuelle Sendungen bei rtlnow.de ansehen) hat RTL mit seiner Produktionsschwester InfoNetwork eine krude Mischung aus Quatschproblemen und Geschichten von Menschen zusammengerührt, die tatsächlich in bedrohlichen Situationen stecken. Lächerlich undramatische Azubi-WG-Streits werden mit "Treffen auf neutralem Boden" (einer "Waldlichtung außerhalb der Stadt") zu Großkonflikten aufgeblasen. Der dubiose Konzertveranstalter, der eine eher mittelbegabte Möchtegern-Schlagersängerin übers Ohr gehauen hat, ist "ihr bisher aggressivster Gegner" (weil er Fürst wegdrängt, um vor der Kamera zu flüchten). Und die Hauptprotagonistin muss sich jedes Mal arge Mühe geben, den Off-Sprecher mit seinem Satz "Helena Fürst fühlt mit" nicht Lügen zu strafen.
Das endet entweder in Situationen wie den oben beschriebenen – oder in Gameshow-haften Inszenierungen, bei der Fürst Erfolgsmeldungen erst nach dramatischen Pausen rausrückt, um den Spannungsmoment gegenüber den verzweifelten Protagonisten noch länger wirken zu lassen. Wird der 200 Kilo schwere Mann, dem der Arzt bescheinigt hat, nicht mehr lange zu leben, seine dringend notwendige Magenverkleinerung bekommen? Oder stellt sich die Krankenkasse immer noch quer?
"Sie haben die OPPPPPPPPP!!!", brüllt Fürst den Mann nach einer Kunstpause an. Ein andermal bescheinigt sie sich vor der Kamera selbst: "Die Überraschung ist mir wirklich gelungen!" Und wenn ihr zum Schluss im Weggehen kein angemessener Satz einfällt, sagt sie einfach stockend "Toll!" – und geht.
Wie sehr sich ausgerechnet die Reality-Profis von RTL bei der Besetzung einer solchen Sendung mit ihrer Hauptprotagonistin vergriffen haben (und dass irgendwer geglaubt hat, Fürsts fehlende Fernsehherzlichkeitseignung mit einer gegensätzlichen Behauptung im Titel ausgleichen zu können) ist ebenso erstaunlich wie die Tatsache, dass der Sender die erzählten Fälle den Zuschauern weiter als "Fernsehsendung" zumutet. Zu sehen gibt es in der Regel nämlich meistens – gar nichts.
Fürst mag sich zwar krawalllaunig mit allen und jedem anlegen, um es den Hilfesuchenden nachher recht zu machen. Mit Klagen heimlich gefilmter Beteiligter oder Unternehmen will sich der Sender aber nicht belasten. Deshalb passieren die meisten Szenen bei "Helena Fürst – Kämpferin aus Leidenschaft" im Unscharfen – damit nichts und niemand zu erkennen ist, der sich dagegen wehren können wollte.
So sieht beispielsweise das Elternhaus der WG-Mitbewohnerin aus, die sich ohne Mietzahlung aus dem Staub gemacht hat:
Das ist die Krankenkasse, der Helena Fürst gleich mal die Meinung sagen wird:
Hier verhandelt sie hart mit der Bank, um die drohende Zwangsversteigerung doch noch abzuwenden:
... und so weiter:
Nachbearbeitete Szenen sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel, und wahrscheinlich war die spätere Unschärfungsorgie deutlich aufwändiger als die (zum Teil) arg läppischen Drehs. Mit anderen Worten: RTL zeigt derzeit auf dem prominenten Sonntagssendeplatz um 19 Uhr, der lange Zeit ein Garant für den nächsten Reality-Hit war, eine Sendung, deren Protagonistin nur in Situationen gut ist, die visuell verfremdet und im "Gedächtnisprotokoll" nachvertont werden müssen, und die zugleich Schwierigkeiten im Umgang mit den emotional angefassten Leuten hat, die RTL zeigen darf.
Das Vorurteil: stimmt nicht.