Vorurteil der Jorge: Nichts beherrscht das deutsche Reality-Fernsehen so gut wie das Nichts.
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Was die Langstreckengutelaune betrifft, macht Jorge Gonzáles im Fernsehen so schnell keiner was vor. "Deutschlands bekanntester Exil-Kubaner", wie ihn sein derzeitiger Arbeitgeber Vox nennt, ist der ideale Showgast: Jorge ist verlässlich gut drauf, immer bereit für einen Plauderwelsch (die ihm eigene Mischung aus Plauderei und Kauderwelsch) und bringt als studierter Atomnuklearökologe automatisch den richtigen Markus-Lanz-Gesprächsstartgrund mit. Eigentlich sollte jede deutsche TV-Show einen Notfall-Gonzáles im Schrank haben, der – wenn die Stimmung gerade durchzuhängen droht – einmal auf Highheels duchs Studio stöckelt und das Publikum wieder eine zeitlang versöhnt.
Diese unbestrittenen Qualitäten haben Vox zu der Annahme irrgeleitet, Jorge bräuchte eine eigene Primetime-Show.
Vor anderthalb Wochen startete deshalb "Chicas Walk Academy", eine ursprünglich sechsteilige Reihe, in der Damen das Geradeauslaufen auf Riesenabsätzen beigebracht kriegen sollten, um damit ihr Selbstbewusstsein zu stärken (aktuelle Folge bei voxnow.de ansehen). Oder wie's offiziell heißt: "Jorge hilft den Chicas ihre innere Göttin zu entdecken."
Dass dafür gleich eine ganze "Academy" gegründet werden musste, liegt daran, dass Vox kein "taff" hat, wo Jorge einfach regelmäßig hätte auftauchen können, um dort seine Motivationstipps weiterzugeben. Stattdessen sollten 45 Minuten Sendezeit am Dienstagabend gefüllt werden, damit kein Testbild zu laufen braucht bis endlich "Goodbye Deutschland!" anfängt.
Das hat nicht funktioniert: Am Freitag gab Vox bekannt, die Sendung vorzeitig einzustellen. Weil sie "von den Zuschauern nicht so gut angenommen" worden sei.
"Chicas Walk Academy" ist bloß das neuste Beispiel dafür, wie eine mittelmäßige Grundidee zur Reality-Reihe aufgeblasen wird, um in die Primetime zu passen – obwohl das Wichtigste eigentlich innerhalb weniger Minuten erzählt gewesen wäre. In der Auftaktfolge verbrachte Jorge massig Zeit damit, die Bedeutung des weiblichen Hüftschwungs zu erklären ("Das ist ein Signal, das die gebe zu de Chicos!"), sein Lebensmotto zu wiederholen ("Wie du gehst, so gehst du durchs Leben!") und diverse ungeeignete Räumlichkeiten für seine neue "Academy" abzuwandern, deren löchrige Holzfußböden sich zur "Katastrophe!" stilisieren ließen.
Einem ersten "Hilferuf" der "Ice Girls" folgend, die sich bei ihren Pausentänzen von den Fans der Eishockeymannschaft Hamburg Freezers missachtet fühlten, lud Jorge zum Catwalk-Training samt Salsa-Hüfttraining, Spiegel-Sexyblick-Training und Treppentanz-Training, riet eindringlich zu "sexy in die Augen!" und "mehr Mut, ihre Hüfte zu bewegen" – und siehe da, ein paar Tage später waren die Fans plötzlich Feuer und Flamme. Weil "wir auch dieses 'Bäm!' haben", wie es eines der "Ice Girls" auf den Punkt zu bringen versuchte.
Jeder einzelnen Minute war anzusehen, wie sehr sich die Produktionsfirma ITV Studios Germany ins Zeug legen musste, um überhaupt einen halbwegs glaubwürdigen Vorher-Nachher-Effekt zu simulieren und am Ende den schiefen Satz zu behaupten: "Der innere Glam sprüht in großen Funken nach außen. Jorge hat es geschafft!" Dass die Stadionbesucher, die zu Beginn der Sendung kaum was für die Tänzerinnen übrig hatten ("die Mädels, die die Pucks einsammeln", "wir sind wegen des Sports hier") ...
... dieselben waren, die sich nach dem grundlegend überarbeiteten Auftrittt Tage später plötzlich überschwänglich positiv äußerten ("haben ordentlich Stimmung gemacht", "kann sich meine Freundin auch was von abschneiden") ...
... war sicher bloß ein dummer Montagefehler. Oder das Fernsehen hält seine Zuschauer inzwischen für so doof, dass sie gar nix mehr merken. (Die dritte Möglichkeit, dass die befragten Fans da im Stadion einfach in denselben Klamotten bis zum nächsten Spiel wohnen bleiben, wäre freilich noch beunruhigender.)
In der zweiten Folge verpasste Jorge einer jungen Erzieherin ein Umstyling, wie es derzeit im Fernsehen unvermeidlich ist, und beide stellten sich dabei derart sympathisch an, dass es ein Spaß war, zuzusehen – für eine Viertelstunde. Die übrige Zeit füllte der Sender mit Belanglosigkeiten und Irreführungen. Der Off-Sprecher raunte: "Sehen Sie gleich: große Aufregung vor dem Schnupperkurs! Wird der Probetag zum Reinfall?" (Antwort: Nein.) Jorge half Frauen, "den Laufsteg des Lebens zu bewältigen", und zwar mit Haltungstipps wie: "Nach vorne, der Becken, bleib oben, bleib unten – aber oben! Atmen!" Zu den Höhepunkten gehörte der Moment, in dem "Academy"-Leiterin Madita "im Eifer des Gefechts" der Ärmel an der Leopardenbluse einriss.
"Da denkt man: Was soll das? Wieso, verflixte Sch...?", fragte die Gute danach. Und hat Recht: Was soll das, wenn das Fernsehen jeden Magazinbeitrag zur Stundensendung aufbläst, indem es ihn mit immer mehr Nichts anreichert?
Vox ist da keine Ausnahme. Die meisten anderen Privatsender beherrschen die Kunst, aus einer Mückeinidee einen Sendezeitelefanten zu machen, genauso. (Und die öffentlich-rechtliche Konkurrenz holt schnell auf.) Zukunftsträchtiges Reality-Fernsehen sieht anders aus. Vor allem, wenn Zuschauer aus immer mehr alternativen Quellen wählen können, um sich die Zeit mit möglichst dicht erzählten Geschichten zu vertreiben.
Wie groß das Nichts sein darf, um noch genügend Zuschauer zum Einschalten zu kriegen, testet derzeit RTL II mit den "Wollnys", von denen einfach ständig neue Folgen bestellt werden. Den 42-minütigen Auftakt zur fünften Staffel verbrachte RTL II Mitte Juni damit, die Ereignisse des Tages zu schildern, an dem Teenager-Sohn Jeremy-Pascal seinen Turnbeutel samt Haustürschlüssel verlor. Derart detailreich, dass ich beim Zuschauen aus Bewunderung über soviel Mut zu so wenig Inhalt kaum umzuschalten wagte.
Nach Täterfahndung, Flugzettelaushang, dem Aufbau eines dilettantischen Einbrecherwarnsystems, Türschlossaustausch und dem Besuch eines Selbstverteidigungskurses stellte sich am Ende heraus, dass der Turnbeutel bloß unters Sofa gerutscht war.
Das hätte man natürlich, um die Spannung auszudehnen, auch erst in der Woche drauf auflösen können. Es gibt also noch Raum zur Nichtsoptimierung im deutschen Fernsehen. Jorge kann froh sein, da jetzt nicht mehr mitmachen zu müssen.
Das Vorurteil: stimmt.