Vorurteil der Woche: Sarah Kuttner nervt.
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Es ist ein bisschen schwierig mit Sarah Kuttner. Weil sie es aus unerfindlichen Gründen saucool findet, beim Moderieren zu essen. Weil jede ihrer Fragen immer gleich als Halbstunden-Motto für ein cooles Gesellschaftsmagazin im deutschen Spartenfernsehen taugt. Weil im Laufe eines Gesprächs, an dem Kuttner beteiligt ist, ab einem gewissen Zeitpunkt lauter "Ich"-Sätze aus ihr heraussprudeln.
Insofern ist Kuttners neuste Sendung "Kuttner plus Zwei", die am späten Donnerstagabend (22.45 Uhr) bei ZDFneo anläuft und auch "Kuttner kaut" heißen könnte, eine Bestätigung sämtlicher Klischees ist, die die frühere Viva-Moderatorin seit Beginn ihrer Karriere von sich ins Fernsehen tapeziert hat.
Gleich in der ersten Folge (Teaser bei zdf.de ansehen) fragt die 35-jährige Berlinerin ihre beiden Talk-Gäste stullenkauend Gesellschaftsmagazinfragen wie "Kann man überhaupt immer alles geben?" und "Findet ihr die Liebe in der gängigen Popkultur vernünftig repräsentiert?". Nachher erzählt sie zum hundertsten Mal: "Ich bin Scheidungskind. Ich glaub nicht an Für-immer." Und: "Ich hab keine Kinder, ich hab auch kein Interesse dran." Hat ja auch keiner gefragt.
An diesem Punkt könnte damit eigentlich auch schon Schluss sein, hätte Kuttner nicht irgendwann mal diese Eingebung gehabt, mit der sie sich seitdem bewundernswert konsequent und über sämtliche Senderhürden durchzusetzen vermag. Die Eingebung war, dass Talkshows meistens dann am besten sind, wenn man sie nicht in schrecklich dekorierten Fernsehstudios aufzeichnet, wo Träger sandfarbener Pullunder als lebende Kulisse Klatschlebenszeichen von sich zu geben haben, um den Zuschauern daheim Stimmung zu simulieren.
Sondern in einer Umgebung, wo sich die Gäste wohlfühlen. Weil sie dann ins Plaudern kommen und etwas von sich erzählen, das sie vor Beigepullunderträgern nie, nie, nie preisgegeben hätten.
Die Kulisse von "Kuttner plus Zwei" ist ein Wohnzimmer mit offener Küche in einer unverschämt gemütlich aussehenden echten Berliner Wohnung. Die Gäste werden von der Produktion ins Treppenhaus geleitet und müssen an der Tür klingeln. Kuttner macht auf, dann sitzen alle drei zusammen um einen großen, schweren Holztisch und trinken. Es gibt Abendbrot. Indirektes Licht. Und am Ende eines wein- und schnapsseligen Abends mit Wurstnascherei zeigt Schauspielerin Hannelore Elsner Fotos aus ihrer Jugend herum, holt sich vom Zweitgast, dem Sänger Bosse, Komplimente ab ("Du bist aber auch'n Feger"), zur Verabschiedung liegen sich die beiden in den Armen, Bosse macht den Vorschlag, noch um die Häuser zu ziehen Und Kuttner hat alles richtig gemacht.
Man muss ihre Fragen nicht mögen, man muss ihre Art nicht mögen – aber jedes Mal, wenn Kuttner Menschen im Fernsehen trifft, um sie zum Leben zu befragen, macht das ein kleines bisschen zufrieden und schlau. Weil man als Zuschauer das Gefühl hat, dass ihre Gäste nicht den hundertsten Promotion-Termin absolviert haben, der ihnen vom Management in den Kalender gestempelt wurde. Sondern dass da wirklich Spaß und Ehrlichkeit Schuld daran waren, wenn ein Gespräch gelungen ist. Obwohl eine Kamera dabei war.
In ihrer 2012 ausgestrahlten Einsplus-Reihe "Ausflug mit Kuttner" wirkte selbst Til Schweiger für ein paar Nanomomente sympathisch. Im Deutschen Museum tauschte Kuttner ihre DNA mit Trompeter Stefan Mross und bekam, weil sie ernst gemeintes Interesse an seiner beruflichen Parallelwelt zeigte, genauso ehrliche Antworten. Jetzt, bei "Kuttner plus Zwei", ist es halt kein Ferienprogramm mehr, das sie mit ihren Gästen veranstaltet, sondern ein fast privater Abend am Küchentisch.
"Können wir eine rauchen?", fragt Bosse nach dem ersten Höflichkeitsaustausch, Kuttner bejaht und schiebt den Aschenbecher in die Tischmitte, Elsner sagt: "Ich rauch ja nur am Abend", Kuttner meint: "Es ist Abend" – und dann wird geraucht, getrunken und gefuttert. Elsner erzählt, wie sehr sie Fragen übers Älterwerden als Frau ankotzen: "Och wurde schon mit 25 gefragt, ob ich Angst hab, 25 zu werden. Es ist unfassbar! Ich frag mich manchmal, was das für eine Welt ist." Bosse redet über Selbstfindung, Verlassenwerden und Kinderkriegen. Kuttner stellt Kuttner-Fragen: "Heiraten – ich schwör, ich kapier's nicht. Für mich ist Hochzeit...".
Am Ende werden selbstgemachte Marmelade, Bücher und Filme verschenkt. Und man hat das Gefühl, bei einem Abend mit ziemlich netten, interessanten Leuten dabei gewesen zu sein, nur halt im 30-Minuten-Zeitraffer. (Die nächsten Gäste stehen hier.)
Sarah Kuttner nervt dann zwar immer noch. Und das Vorurteil: stimmt. Aber niemand sonst produziert in Deutschland dabei so sehenswertes Gesprächsfernsehen.