Man wird sich noch an den Anfang dieses Films zurücksehnen. An jene Momente, als noch alles gut schien im Leben von Arne Kreuz, als er noch fabulierte von einem neuen Haus für seine Familie, von der danach rasch zu erfahren ist, dass sie genau die nicht mehr sein will. Dann bekommt der gescheiterte Vater nicht den Kredit, den er will, und schnell wird auch deutlich, dass er schon länger keine Arbeit mehr hat. Alles bricht zusammen, und das bedeutet das Todesurteil für seine Frau und seinen kleinen Sohn. Beide finden die Rostocker Ermittler Bukow und König aufgebahrt in der blutverschmierten Wohnung. Von da an stellt sich nur noch eine Frage: Wo sind die anderen beiden Kinder? Wo ist Arne Kreuz?
Der Zuschauer weiß immer mehr als die Ermittler, er ist ihnen stets einen Schritt voraus. So etwas kann von Vorteil sein, so etwas kann aber auch eine Last darstellen, wenn ein Film sein Publikum in solch einen Strudel von Verzweiflung und Brutalität zieht. Dieser „Polizeiruf 110“ ist ultrabrutal. Nicht so sehr durch die Bilder, die er zeigt, sondern vor allem durch die Andeutung dessen, was da noch kommt. Zu was ist dieser Arne Kreuz noch fähig?
Eoin Moore ist so etwas wie der Stammregisseur für die „Polizeiruf 110“-Mannschaft aus Rostock. Er inszeniert meist nach einem selbstgeschriebenen Buch. Daher ist ihm für diese Ausgabe gleich doppelter Respekt zu zollen. Für einen Film, der als durchgehende Verfolgungsjagd funktioniert, für die kunstvolle Verflechtung mehrerer Handlungsebenen und für einen Hauptdarsteller, der nie wie ein Monster wirkt, sondern immer wie ein Getriebener, der nach seiner inneren Logik handelt, die leider eine grundfalsche ist. Andreas Schmidt spielt diesen Arne Kreuz mit bewundernswerter Zurückhaltung. Er gibt seinem flüchtigen Vater immer jenen Glanz in den Augen, der von tiefer Zuneigung und innerer Verbundenheit zeugt. Nie wirkt er wie ein Killer, aber oft wie einer, dem die Gefühle im nächsten Augenblick zu entgleisen drohen.
Die große Kunst von Eoin Moore ist aber vor allem die Verflechtung. Zum einen ist da der gescheiterte Arne Kreuz, dessen Frau nicht mehr mit ihm will und kann, die längst einen Anderen hat, wovon Kreuz erst spät erfährt. Parallel zeichnet Moore das Bild des Kommissars Bukow. Der von Charly Hübner mal wieder mit zauberhafter Grummeligkeit gegebene Ermittler erfährt im Laufe dieses Films, was alle schon lange wissen. Seine Frau hat etwas mit einem Kollegen, zufällig mit dem Kollegen, der neben Bukow im Polizeiauto hockt. Und sie will nicht mehr mit Bukow. Das deutete sich in den vergangenen Folgen der Reihe schon an, nun eskaliert die Situation.
Wie Moore die beiden Handlungsstränge nebeneinander führt, sie immer wieder mal übereinander legt und dann wieder trennt, das verrät große Kunst. Es wirft vor allem die Frage auf, warum Lebensentwürfe so gleich und doch so verschieden sein können. Mehrfach stellt sich angesichts dessen, was Arne Kreuz da so treibt, die Frage, warum Bukow nicht einfach seine Familie meuchelt. Warum sind manche so und andere so?
„Familiensache“ berührt damit große Fragen der menschlichen Existenz. Dazu kommen die Widrigkeiten des Polizeialltags. „Das ist die absurdeste Verfolgungsjagd, die ich je erlebt habe“, sagt Bukows Kollegin Katrin König (Anneke Kim Sarnau), die versucht, neben dem bulligen Gehörnten kühles Blut zu bewahren, sich ihrer Machtlosigkeit aber durchaus bewusst ist. Immer wieder bemüht sich die LKA-Frau darum, aus den Handlungen des Täters ein Muster zu zeichnen. Aber irgendwann kapituliert auch sie. „Ich bin kein Psychiater, ich bin nur der Scheißbulle, der hinterher aufräumen darf“, mault sie.
Das ist so spannend, dass man es zwischenzeitlich kaum aushalten kann. Beklemmung macht sich breit, und die will auch nach dem Abspann nicht weichen. Und auch wenn Günther Jauch direkt im Anschluss das Thema des Films aufgreifen wird, so täte die ARD nach diesem "Polizeiruf" gut daran, 15 Minuten nichts zu senden, einfach nur Rauschen. Damit man als Zuschauer seine wild verstreuten Gedanken und Gefühle wieder einsammeln kann. Danach können dann die Hartgesottenen ihr Leben bei Jauch weiterführen, die nicht so grob Gestrickten sagen vielleicht einfach nur: Danke ARD, für so tolles Fernsehen, das manch hochgelobter amerikanischer Serie durchaus Paroli bieten kann. Danke.