Frau Deuerling, Sie haben in Ihrer Dissertation das Innovationsmanagement in der TV-Branche untersucht. Wie steht es um den deutschen Markt?

Wir sind unterwegs in die richtige Richtung – wenn auch in sehr langsamem Tempo. Der deutsche TV-Markt war zwischen 2008 und 2010 auf einem Tiefpunkt angelangt, da passierte ziemlich wenig und wir hatten ein extrem mutloses Fernsehen. Über die letzten Jahre ist immerhin wieder mehr Geld für qualitativ hochwertige Produktionen in den Markt geflossen. Die Bereitschaft, neue Wege zu gehen, ist ein bisschen gewachsen. Das hat nicht zuletzt mit dem so genannten "Serienboom" zu tun. Allerdings ist der vermeintliche Wille zur Innovation bei genauerem Hinsehen gar nicht so innovativ, weil es oft nur um eine Orientierung an anderen Märkten geht, ohne wirklich etwas eigenes hervorzubringen.

"Innovation" ist eines der meistmissbrauchten Etiketten im TV-Markt. Wie muss eine Innovation sein, damit sie den Namen verdient?

Innovation ist nicht gleich Innovation. Es gibt verschiedene Abstufungen und Innovationsgrade, die alle ihre Berechtigung haben. Es kommt immer darauf an, was man vorhat: Will man einen Markt radikal erneuern? Oder will man sich auf Basis eines bestehenden Erfolgsformats mit geringfügigen Abänderungen ein Stückchen vom Markt sichern? Wenn viele so undifferenziert von Innovation reden, zeigt das auch die Hilflosigkeit. Der Markt ist im Moment so stark in Bewegung, dass jeder weiß: Wir müssen etwas tun, um konkurrenzfähig zu bleiben – nur was?

 

Und aus der Kombination von Aktionismus und Hilflosigkeit entstehen dann Fehler...

Es ist ein Phänomen, dass Bewegtbildplattformen wie YouTube klassische Sender und Produzenten immer noch stark verunsichern. Das ist in gewisser Weise verständlich, weil junge Nutzer dort einen Großteil ihres Videokonsums decken. Wenn in diesem Zusammenhang von Innovation die Rede ist, bedeutet das oft nur, dass man das, was die YouTuber machen, fürs Fernsehen zu kopieren versucht, um innovativ zu sein. In Wahrheit ist das nicht innovativ, sondern nur die Kopie dessen, was in einer anderen Welt bereits existiert.

Sie haben ein "Grad-Phasen-Modell" entwickelt, das zwischen radikalen, echten und inkrementellen Formatinnovationen unterscheidet. Können Sie uns konkrete Beispiele nennen, die aus Ihrer Sicht gelungen sind?

Radikal-innovativ ist sicher das "Neo Magazin Royale". Und zwar nicht in erster Linie aus inhaltlichen Gründen, obwohl Jan Böhmermann natürlich eine tolle Show macht. Neu ist vor allem, wie hier mit den sozialen Medien gespielt wird und wie ein eigentlich linear geplantes Format durch Herauslösen einzelner "Hero"-Content-Beiträge [Anm. d. Red.: im Sinne des YouTube-Playbooks virale Videos, die auf einen Schlag ein großes Publikum erreichen] am Ende relativ unabhängig von der linearen Ausstrahlung wird. Das ist eines der ganz wenigen deutschen Formate, die die Klaviatur mehrerer Plattformen wirklich gut bespielen. Ein etwas älteres Beispiel ist "Berlin – Tag & Nacht". Die Neumischung der beiden Genres Scripted und Soap hat dazu geführt, dass eine Form der Fiktionalisierung bezahlbar gemacht worden ist, wo sie das vorher nicht war. Erfolgreiche radikale Innovationen zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie – wie in diesem Fall geschehen – Nachahmer hervorrufen.

Am anderen Ende der Skala sprechen Sie von inkrementeller Innovation oder auch "Me-too-Innovation". Damit haben wir es im deutschen Fernsehen wohl wesentlich häufiger zu tun.

Eines meiner Lieblingsbeispiele ist immer noch "Rosins Restaurants", das 2009 als klares Me-too-Format nach dem Erfolg von "Rach – der Restauranttester" entwickelt wurde – mit minimalen Konzeptänderungen. Das Vorbild ist nicht mehr on air, "Rosins Restaurants" hat sich bis heute gehalten. Manchmal verträgt der Markt eben mehr vom Gleichen – oder besser gesagt: vom Ähnlichen. Das Neue war in diesem Fall der Hauptprotagonist, der durch seine Persönlichkeit und seine besondere Art zu handeln das Format bestimmt. Bloßes Imitat würde der Auffassung von Innovation als Schaffen von etwas Neuem widersprechen.

Wie professionell ist das Innovationsmanagement der deutschen TV-Branche im Vergleich zu anderen Branchen, etwa der Konsumgüterindustrie, aufgestellt?

Was mich zu meiner Dissertation bewogen hat, ist das spannende Phänomen, dass ausgerechnet die Fernsehbranche mit dem Thema Innovation, das ja auf Kreativität basiert, oft so unprofessionell umgeht. Ich glaube, das kommt daher, dass man denkt: Wir sind ja sowieso kreativ, und die Innovation kommt dann schon von allein. Die Bereitschaft, sich professionell, emotionslos und fernab eines Geniegedankens mit dem Thema zu befassen, ist den meisten TV-Produzenten eher fremd. Für andere Industrien, die sich selbst nicht als kreativ bezeichnen, ist Innovation dagegen ein klar definiertes Feld innerhalb der Unternehmensstruktur, das man mit empirisch belegten Tools und Ansätzen bearbeitet.

"Rückblickend muss ich sagen, dass wir als Sender sicher dazu beigetragen haben, die Produzenten in ihre devote Haltung zu treiben"

Tanja Deuerling, Unternehmensberaterin & Hochschuldozentin


Woran liegt diese Diskrepanz?

Gerade in Deutschland wird Innovation noch zu sehr mit einem überladenen Kreativitätsbegriff und Geniegedanken in Verbindung gebracht. Das stammt noch aus der Tradition des Autorenfilms – der unantastbare Autor, der als Genie ein Werk schafft. Irgendwie lebt er in unserer heutigen TV-Welt weiter. Anderswo können wir einen pragmatischeren Ansatz der Formatentwicklung beobachten. In der modernen amerikanischen oder skandinavischen Serie ist es beispielsweise der Writers' Room – während der klassische deutsche Filmautor zu Hause sitzt und sein Drehbuch im stillen Kämmerlein verfasst. Was man bei alldem nicht vergessen sollte: Wir reden hier über einen kreativen Prozess, der zu einem wirtschaftlichen Produkt führen soll, nicht zu einem Kunstfilm.

Was sollte ein kleiner oder mittlerer Produzent tun, der sich keine riesigen Investitionen und keine große Entwicklungsabteilung leisten kann?

Beides ist gar nicht unbedingt nötig. Ich halte es bei kleinen Firmen sogar für kontraproduktiv, Innovationsabteilungen aufzubauen, die nichts anderes mehr machen und die vom operativen Produktionsgeschäft abgekoppelt sind. Es sollte aber zumindest eine Person in der Firma geben, die sich überwiegend um Entwicklungen kümmert, sie anstößt und vorantreibt – allerdings nicht völlig losgelöst vom laufenden Betrieb. Viele Ideen kommen ja aus laufenden Produktionen, aus dem Input von Kollegen, aus Sendergesprächen. Meist mangelt es nicht an guten Ideen, sondern eher an Zeit, Geld und Strukturen, um diese Ideen professionell weiterzuentwickeln. Mit einem Onepager ist es nicht getan – dann fängt die eigentliche Arbeit erst an. Um knappe Ressourcen richtig einzusetzen, ist es extrem wichtig, sich zu fokussieren. Jeder Produzent sollte sich erst strategisch überlegen, was er erreichen will und leisten kann: radikal neu zu sein, was riskant ist, aber entscheidende Wettbewerbsvorteile bringt, oder Trends bedienen, was kurzfristig funktioniert, aber langfristig kaum den großen Wurf bedeutet. Danach kann dann die Entwicklungsarbeit individuell ausgerichtet werden. Eine Formel, die für alle Unternehmen gilt, gibt es also nicht. Dringend abraten würde ich übrigens von folgendem Modell: Wir haben einen Redakteur, der operativ nicht so gut ist – also machen wir ihn zum Entwickler. Das ist eine der schwierigsten Aufgaben. Das müssen die besten Leute machen und nicht die, die gerade nichts anderes zu tun haben.

Welche Rolle spielen die TV-Sender für den Innovationsprozess?

Im anglo-amerikanischen Raum ist die Kreativität komplett an die Produktionsfirmen ausgelagert – mit einer besseren Innovationsbilanz als bei uns. In Deutschland ist man da ziemlich unentschlossen. Auf der einen Seite beklagen sich die Sender immer gern: Die Produzenten liefern uns nichts! Auf der anderen Seite wollen sie aber doch sehr gern wesentliche Impulse geben und im gesamten Prozess kreativ mitarbeiten. Das führt dazu, dass die Erwartungshaltung an den Produktionsmarkt oft nicht ganz klar ist. Die Frage ist doch: Muss ein Sender überhaupt kreativ sein oder muss er nur wissen, wie er mit der Kreativität seiner Produzenten umgeht? Aus meiner Sicht wäre es der klarste Weg zu sagen: Der Produzent liefert die kreativen Ideen, wir managen sie. In der Realität sieht es anders aus: Die großen Sender haben über die letzten Jahre zusätzliche Stellen für hausinterne Programmentwickler geschaffen. Interne und externe Kreativität sinnvoll miteinander zu verbinden, macht die Sache nicht gerade einfacher.

Wie haben Sie's denn selbst gehalten, als Sie im Sender verantwortlich waren?

Genau das habe ich mich im Zuge meiner Dissertation auch gefragt. (lacht) Ich habe mich immer über einen starken Produzenten gefreut, der hinter seiner Idee stand, mich überrascht und überzeugt hat. Das ist seltener vorgekommen, als ich mir das gewünscht hätte. Rückblickend muss ich sagen, dass wir als Sender sicher dazu beigetragen haben, die Produzenten in ihre devote Haltung zu treiben. Aber als Senderverantwortlicher ist man auch nur begrenzt handlungsautonom. Man steckt in seiner Struktur, man hat seine Vorgaben zu erfüllen. Wie viel Raum für Innovation man seinen Produzenten gibt, hängt dann oft vom eigenen Mut und vom eigenen Standing innerhalb des Senders ab.

Frau Deuerling, herzlichen Dank für das Gespräch.

Mehr zur Dissertation von Tanja Deuerling