Herr Bellut, was bleibt vom Jahr 2015 hängen, wenn Sie aus ZDF-Sicht zurückblicken?
Für uns war es aufgrund der aktuellen Nachrichtenlage ein sehr spannendes, dramatisches Jahr. Das Einstellen auf die Flüchtlingskrise war sicher das Wichtigste, aber auch davor war es nicht langweilig: Wir hatten mit der Euro-Krise ein weiteres wichtiges Thema, das der journalistischen Einordnung bedurfte.
Ist das dem ZDF Ihrer Meinung nach gelungen?
Es zeigte sich, dass die linearen Nachrichtenangebote im Fernsehen nach wie vor sehr gefragt sind, auch wenn das natürlich differenziert zu betrachten ist: Wir kämpfen offen gesagt weiterhin um mehr jüngere Zuschauer, wie wir es auch mit „heute+“ versuchen. Aber zunächst einmal ist das eine beruhigende Erkenntnis. Unser Nachrichtenangebot, insbesondere unsere Hauptplattform am Abend - das „heute-journal“ - ist intakt und gefragt. Es gibt sicher immer Anlass zur Kritik, aber ich sage meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern immer: Freut Euch auch über die Kritik; sie zeigt, dass wir bedeutend sind.
Kritik gibt es, wie zuletzt bei den Terroranschlägen von Paris, immer wieder an der Frage, wann die Öffentlich-Rechtlichen ihr Regelprogramm unterbrechen um über wichtige Ereignisse zu berichten. Sehen Sie hier einen Fehler des ZDF?
In dem konkreten Fall nicht. Man muss immer kritisch hinterfragen, wo man hätte mehr machen können oder auch mal weniger machen müssen. Ich habe ja den Vorteil, elf Jahre als Leiter der Innenpolitik und Redaktionsleiter beim ZDF selbst Sondersendungen konzipiert, organisiert und später auch moderiert zu haben. Das Thema ist mir nicht neu. Wann geht man drauf? Wie lange bleibt man drauf? Diese Fragen sind Klassiker.
Wie sieht es mit dem Abend der Terroranschläge von Paris aus?
An dem besagten Abend waren alle drei, die da zu entscheiden haben - der Chefredakteur, der Programmdirektor und ich - in einer Schaltkonferenz. Wir wussten schon während das Fußballspiel in Paris noch lief, dass etwas passiert ist und hatten das Studio auch relativ schnell einsatzbereit. Wir haben trotzdem die laufende Krimiserie zu Ende gezeigt, weil außer den Bildern vom Blaulicht von Einsatzwagen, die überwiegend von CNN angeboten wurden, noch nichts da war. Da muss ich die Redaktion auch vor sich selbst schützen: Wir müssen einen Ansatz von Substanz haben, um auf Sendung gehen zu können.
Das ist nachvollziehbar. Das Netz drängt die Fernsehsender in einen schwierigen Wettbewerb. Wer durch Push-Benachrichtigungen auf eine Nachrichtenlage aufmerksam wird und sich beim ZDF versichern will, hat zunächst keine Informationen erhalten.
Jede diese Situationen ist immer eine Ausnahmesituation, in der man immer Dinge hätte besser machen können. Aber Fehler sehe ich in dieser Situation bei uns nicht. Letztlich muss der Kompromiss zwischen Aktualität und Substanz stimmen. Wir müssen aber selbstkritisch feststellen: Offenkundig wird auch außerhalb der Kernzeiten und auch am Wochenende mehr von uns erwartet. Am Abend sind wir sehr gut aufgestellt, aber besonders im Tagesprogramm besteht Verbesserungsbedarf, so dass wir im Augenblick überlegen, wie wir das noch perfektionieren und die Teams von „MoMa“, „MiMa“ und Nachrichtenredaktion besser koordinieren können, so dass wir jederzeit die Infrastruktur in Bereitschaft haben, mit Substanz auf Sendung gehen zu können.
Die neue Aufstellung bezieht sich auf personelle Strukturen?
Genau, es geht um die Strukturen hinter dem sichtbaren Programm, so dass man jederzeit Sendeflächen hat, die im Falle einer aktuellen Nachrichtenlage noch schneller aktivierbar sind. Leider mussten wir in dem Bereich auch Personal abbauen und die Auswirkungen dieser Einsparungen spüren wir hier schon. Das darf aber nicht sein, weil die Erwartungshaltung an die Qualitätsmedien ARD und ZDF offenbar ist, jederzeit perfekt aufgestellt zu sein. Das sollten wir als Ansporn verstehen. Wir müssen die unverändert hohen Erwartungen mit weniger Personal erfüllen können.
In dem Zusammenhang wurde auch wieder einmal der Ruf nach einem öffentlich-rechtlichen Nachrichtensender laut, den es trotz der Vielzahl an Spartensendern nicht gibt.
Einer meiner Vorgänger wollte einen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanal. Das wurde von den Bundesländern leider eindeutig abgelehnt. Das ist politisch nicht gewollt. Es ist im Augenblick nicht die Zeit, diese Frage noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen, auch wenn mich als innenpolitischen Journalisten ein öffentlich-rechtlicher Nachrichtensender immer sehr gefreut hätte. Aber hier muss man die medienpolitischen Umstände realistisch betrachten. Außerdem gibt es mit n-tv und N24 zwei kommerzielle Anbieter, die sicher auch eine gute Arbeit leisten. Das will ich durchaus anerkennen. Und Phoenix geht auf aktuelle Nachrichtenlagen auch adäquat ein, ohne jedoch ein richtiger Nachrichtensender zu sein.
Angesichts so vieler schon existierender öffentlich-rechtlicher Spartensender erscheint es nur merkwürdig, dass ausgerechnet ein klassischer Nachrichtensender nicht darunter ist.
Nun, ein Nachrichtensender würde einige hunderttausende Zuschauer erreichen. Das ZDF ist ein erfolgreiches Vollprogramm, bei dem die integrierten Nachrichtenangebote ein Vielfaches der Reichweite erzielen, die sie auf einem Spartenkanal für Nachrichten erhalten würden. Ich sehe es als große Qualität eines Vollprogramms, ein Millionen-Publikum an Themen heranzuführen.
Wenn wir auf das Jahr 2015 zurückschauen, dann steht auch der Begriff „Lügenpresse“ im Raum.
Es gibt nichts, was wir in diesem Jahr intern mehr diskutiert haben als diese Entwicklung, die beim Ukraine-Konflikt zum ersten Mal aufkam und dort noch aus der politisch linken Ecke vorgetragen wurde. Dann kam Pegida in mehreren Wellen, was durch die Flüchtlingskrise auch nochmal befeuert wurde. Ich muss auch faktisch feststellen, dass unsere Teams nicht mehr immer ungefährdet arbeiten können. Wir müssen teilweise sogar Sicherheitskräfte einsetzen, um unser Team bei Demonstrationen vor Übergriffen zu schützen.
Was ist das Ergebnis dieser Diskussionen?
Ich glaube, dass man nicht den Fehler machen darf, jeden, der der Auffassung ist, wir haben zu viele Flüchtlinge im Land, gleich in die rechtsradikale Ecke zu stellen. Ich bin der Meinung, dass wir alle demokratischen Kräfte und ihre Meinungen - sofern sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen - abbilden müssen. Sachlich und nüchtern, aber punktuell durchaus auch wertend und pointiert, weil auch das Aufgabe von Journalisten ist. Ich ziehe nur eine klare Grenze. Rassismus werden wir niemals unkommentiert im Programm transportieren. Das ist mit mir nicht zu machen.
"Nachrichten und junges Publikum - das ist eine der härtesten Nüsse, die man im Fernsehen knacken kann."
Es tauchte in dem Zusammenhang auch der Begriff der Mainstream-Medien auf, die keine anderslautenden Meinungen zulassen.
Wenn man sieht, wie oft die Positionen von Pegida und politisch nahestehenden Parteien bei uns im Programm ihren Platz finden und diskutiert werden, dann kann ich den Vorwurf, andere Meinungen würden nicht dargestellt, faktisch nicht nachvollziehen. Und wenn ich mir ansehe, dass eine Partei wie die AfD ja doch erhebliche Umfragewerte erzielt, dann scheint der Vorwurf, man würde sie in den Medien totschweigen, ja ganz offenbar nicht zu stimmen. Die Opferrolle überzeugt mich nicht. Aber wir beobachten das Thema sehr aufmerksam. Diejenigen, die sich in der Minderheit fühlen, können sich über das Netz sehr effektiv organisieren und teilen ihre Gemeinsamkeiten viel leidenschaftlicher als die breitere Mehrheit. Das ist auch eine Veränderung der Demokratie, wenn Minderheiten das Votum der Mehrheit nicht mehr akzeptieren.
Sie sprachen eben schon mal kurz von „heute+“. Wie zufrieden sind Sie mit diesen neuen, jüngeren Nachrichten am späten Abend? Welche Erkenntnisse ließen sich gewinnen?
So weit sind wir meiner Meinung nach noch nicht. Ich freue mich über „heute+“ und sehe zwei sehr begabte, junge Moderatoren bei der Arbeit. Im Netz sind erste Anzeichen zu erkennen, dass dieser Ansatz goutiert wird. Aber hier brauchen wir einen langen Atem, weil „heute+“ gemessen an anderen Institutionen im ZDF-Programm ja noch in den Kinderschuhen steckt. Nachrichten und junges Publikum - das ist eine der härtesten Nüsse, die man im Fernsehen knacken kann. Ich will nicht sagen, dass wir sie schon geknackt haben. Aber wir probieren es und reden nicht nur darüber.
Es ist ja auch der Versuch, Nachrichten zu personalisieren. Fällt es der jungen Zielgruppe leichter Personen zu vertrauen als Marken bzw. Institutionen Vertrauen entgegen zu bringen?
Köpfe sind in jedem Fall wichtig, besonders wenn es um jüngere Zuschauer geht, wie wir zum Beispiel an Jan Böhmermann sehen. Die Fans suchen Böhmermann. Sie finden das ZDF über ihn und nicht umgekehrt. Das merken wir ja insbesondere durch die starken Abrufzahlen in der Mediathek. Die Mediathek wird für solche Programme immer wichtiger. An ihr arbeiten wir gerade sehr intensiv.
Was heißt das?
Wir waren die Ersten mit einem solchen Angebot im Netz. Die Technik dahinter hat damit aber auch schon einige Jahre auf dem Buckel. Anbieter wie Netflix und Amazon haben die Latte nochmal höher gelegt in der Bedienbarkeit von Video-on-Demand-Angeboten. Deswegen werden wir die ZDF-Mediathek im kommenden Jahr relaunchen.
Wenn junge Programme wie das „Neo Magazin Royale“ im Netz weit mehr Menschen erreichen als über die lineare Ausstrahlung. Was sagt das über die Zukunftsfähigkeit des linearen Fernsehens aus?
Wir hatten gerade die große Untersuchung zur Massenkommunikation, die ARD und ZDF alle fünf Jahre erstellen lassen. Da gab es die Frage „Glauben Sie, dass der Fernseher als Mittelpunkt des Haushalts Zukunft hat. Mehr als 90 Prozent aller Befragten - und da gab es keine signifikanten Unterschiede in verschiedenen Altersgruppen - haben das bejaht. Auch in anderen Gesellschaften - ich bin ja hin und wieder auch in den USA unterwegs, wenn auch nicht mehr so oft wie als Programmdirektor - ist das lineare Fernsehen sehr lebendig, auch wenn es sich verändert hat. Das Netz wird wichtiger, aber das lineare wird kurz- und mittelfristig seine Rolle behalten.
Schränken Sie das jetzt bewusst ein?
Nein, aber mehr als zehn Jahre in die Zukunft zu blicken, würde ich nie riskieren. Die Aufsplitterung des linearen Fernsehmarktes, die wir derzeit beobachten können, hätte vor zehn Jahren auch niemand vorhergesehen. Heute leben wir in einer Fernsehwelt, in der das ZDF mit voraussichtlich 12,5 Prozent Marktanteil meistgesehener Sender sein wird. Weniger Marktanteil brauchte es noch nie, um so deutlich Marktführer zu sein.
"Es ist nicht das Ziel, aus ZDFneo ein breiteres Programm zu machen, aber wir wollen in der von ZDFneo anvisierten Zielgruppe mehr Einschaltimpulse auslösen."
Böhmermanns Eskapaden am Programmrand finden im ZDF allerdings nicht nur Freunde. Seine aufmerksamkeitssuchende Art sorge für Spannungen, heißt es.
Das lese ich auch häufiger und erinnere mich dann - weil ich älter bin als Sie - an die jungen Jahre von Thomas Gottschalk. Der galt damals auch als revolutionär und mit Sendungen wie „Na sowas“ als viel zu spitz für ein großes Publikum. Will sagen: Erstens, ja Böhmermann mag es, im Mittelpunkt zu stehen. Zweitens bin ich darüber glücklich und drittens traue ich ihm noch viel mehr zu. Er wird nie volksmusikalische Breitenwirkung entfalten aber er erreicht die jüngere, politisch interessierte Zielgruppe und die wird auch älter. Da ist mit dem „Neo Magazin Royale“ noch nicht das letzte Wort gesprochen zum Thema Böhmermann im ZDF.
Es ist also mehr drin für Böhmermann als der Programmrand?
Ja, da bin ich mir sicher. Wenn er denn will.
Bleiben wir mal bei ZDFneo. Der Sender wurde 2009 als Experimentierfläche gestartet wurde, die dem ZDF helfen sollte, nicht mehr so sehr vom Hauptprogramm abhängig zu sein. Hat der Sender diese Erwartungen erfüllt?
Eindeutig ja. ZDFneo und ZDFinfo gleichen die Verluste beim jüngeren Publikum seit Anfang der 90er Jahre mehr als aus. Unser Flotten-Ergebnis ist jetzt besser als damals zu der Zeit, als die Privatsender stark geworden sind. Ich kann Ihnen aber versichern: Als ZDF-Intendant ist man selten zufrieden. Ich habe bei meiner Wiederwahl dem Fernsehrat versprochen, dass wir die beiden Sender ZDFneo und ZDFinfo zusammen in die Nähe von 5 Prozent Marktanteil bringen möchten.
Da muss aber dann was passieren. Geht das noch mit der bisherigen Strategie?
Da kann man mehr machen. Wenn wir uns das leisten können, und daran arbeite ich, wird es bei ZDFneo künftig mehr Eigenproduktionen geben und auch verstärkt besondere Angebote aus dem Kauf-Bereich. Es ist nicht das Ziel, aus ZDFneo ein breiteres Programm zu machen, aber wir wollen in der von ZDFneo anvisierten Zielgruppe mehr Einschaltimpulse auslösen. Die Priorisierung im Hause ZDF ist eindeutig: Hauptprogramm, Mediathek, ZDFneo, ZDFinfo.