Liebe Frau Plich, stellen Sie sich unseren Lesern vor.
Ich bin Sofia Plich, 45 Jahre alt, Contergan-geschädigt. Ich arbeite derzeit an einem Kinderbuch, ich stehe vor der Kamera. Ich bin studierte Sozialpädagogin.
Warum Sozialpädagogik?
Gute Frage. Vielleicht war’s das kleinere Übel, Ahnungslosigkeit. Früher wollte ich Jura studieren. Dann habe ich 3 Monate vor dem Abitur die Schule abgebrochen. Ich wusste nicht, was ich wollte, es hat auch keinen interessiert.
Was hat sie dazu bewegt, die Schule zu schmeißen?
Es war wohl eine Sinnkrise. Es gab keine Eltern, die mich gepusht hätten. Ich bin nicht zu Hause aufgewachsen. Ich musste alles selbst entscheiden - als Kind muss man mit Informationen gefüttert werden, das ist nicht geschehen.
War es eine prägende Entscheidung?
Es war eine schwere Phase, in der ich mir immer wieder klar gemacht habe, was meine Behinderung bedeutet. Ich habe niemanden an mich herangelassen - die “Langarmer” oder “Normis”, wie ich sie nenne. Ich habe ihnen unterstellt, dass sie sich nur mit mir beschäftigen, weil sie eine gute Tat tun wollen.
Sie haben unterstellt, dass man ihnen immer nur mit einer sozialen Motivation begegnet.
Es ging nie um mich. Das war meine Unterstellung.
Wann haben Sie diese Phase überwunden?
Summa summarum hat es mich 6 Jahre lang beschäftigt. Eine meiner besten Freundinnen sagte irgendwann: ‘Wenn ich Dir anbiete, etwas für Dich zu tun, dann glaube mir das. Ich tue es, weil wir befreundet sind.’ Die Klarheit in dieser Aussage hat mich zum Umdenken bewogen.
Ihre Freundin musste es Ihnen einbläuen.
Nicht einbläuen - sondern es klar aussprechen. Das saß.
Was hat sich danach geändert?
Für manche meiner Mitmenschen tat es mir regelrecht leid. Ich kam ja mit den meisten gut aus. Ich war zwar nie garstig, letztendlich habe ich durch diese Umweltwahrnehmung aber manche Chance vertan. Ich habe nichts von meinem Mitmenschen gefordert und keine Tiefe und Nähe zugelassen.
Vielleicht war’s ein Selbstschutzmechanismus.
Im Nachhinein hab’ ich es so realisiert. Ich will kein Kleiderständer für die Conterganschädigung sein. Ich bin Sofia.
Trotzdem haben Sie sich selbst gerade so vorgestellt: ‘Ich bin Sofia Plich, 45 Jahre alt, Contergan-geschädigt.’
Ja. Das ist zwanghaft. Leider werde ich bei der ersten Begegnung darauf reduziert. Die Leute fragen: Arbeiten Sie eigentlich? Gehen Sie einer Erwerbstätigkeit nach? Herr Boss, werden Sie das gefragt? Und dann: Ach, das muss ja schwer sein. Ich bewundere Sie. Das kommt spätestens beim fünften Satz.
Können Sie von den Menschen, die Ihnen flüchtig begegnen, verlangen, dass sie über Ihre Kurzarmigkeit hinwegsehen?
Nein, die dürfen gerne hinsehen. Aber Sie werden ja auch nicht bei jeder Begegnung gefragt, ob Sie überhaupt arbeiten können. Ich stehe unter Beweisdruck, dass mein Mund nicht nur zur Nahrungsaufnahme existiert und in meinem Kopf kein schwarzes Loch ist. Ich muss immer den ersten Schritt tun.
Müssen Sie es sich erarbeiten, ernst genommen zu werden?
Ja. Als ich bei Johannes B. Kerner zu Gast war, wurde das von der Redaktion übernommen. Ich vermute, dass sie ihn vorher gebrieft haben. Normalerweise muss ich in Vorleistung treten und mich intellektuell beweisen.
Gibt es aus diesem Grund keine körperbehinderten Nachrichtensprecher?
Das glaube ich. Ich würd’s ja machen. Es gab mal einen im Rollstuhl, aber den sieht man ja nicht. Sonst soll alles ultrarealistisch sein - aber man traut sich nicht, einen ‘Conti’ ans Mikro zu setzen.
Man kann jedenfalls nicht davon sprechen, dass das Fernsehen hier einen Bevölkerungsquerschnitt abbildet. Woher kommt die Scheu?
Vielleicht würde es die Quoten gefährden. Es traut sich niemand, Behinderte hier zu protegieren. Das ZDF macht ja “Aktion Mensch”, ich könnte mir nie vorstellen, das zu moderieren.
Warum?
Ich bin behindert genug, da muss ich nicht auch noch ein Magazin drüber moderieren! Ich hab nichts gegen die Sendung, aber ich bin mein ganzes Leben lang Contergan-geschädigt. Wenn ich vor der Kamera stehe, dann als Sofia. Punkt.
Sie lehnen es ab, nur mit diesem, “ihrem Thema” in die Öffentlichkeit zu treten?
Es wird immer umgekehrt gewichtet. Aber meine Arme hängen an mir, nicht ich an meinen Armen. Nicht die Behinderung sollte die Rolle spielen, sondern ich, mit allem was an mir dran ist oder nicht. Ich bin jetzt in einer Agentur, das ist noch recht frisch, aber ich habe eine klare Vorstellung, die ich auch Regisseuren und Produzenten so kommuniziere: Ich will schauspielern. Keine Behinderten-Rollen, sondern eine Liebhaberin, eine Mörderin. Warum kommt kein Produzent drauf, dass das funktionieren kann? Warum soll ich keine Mörderin spielen können?
Vielleicht fehlen die Ideen für die passenden Figuren. Zur Zeit spricht man über den Contergan-Film von Benedikt Röskau. Wie haben Sie ihn erlebt?
Er hat mir gefallen, weil nicht auf die Tränendrüse gedrückt wurde. Er hat persönliche Gefühle gespiegelt. Auch die Berichterstattung war sehr passend.