Ich glaube, der Höhepunkt des FakeFakeFake-Wirbels um Böhmermann und den griechischen Finanzminister war erreicht, als ich beim Rewe stand und eine junge Frau vor mir allen Ernstes zu ihrer Freundin sagte, dass sie den Varoufakis ja immer gut leiden mochte, weil der so anders sei. Also anders als die anderen, die so sind wie die anderen anderen. Aber jetzt, wo klar sei, dass er den Stinkefinger wirklich gezeigt habe, da sei er bei ihr untendurch.
Ich konnte mühsam einen Totalkollaps vermeiden, auch mein Herz schlug nach kurzen Jazzattacken wieder im gewohnten Einkaufsblues, aber ich war trotzdem schweißgebadet. Ich dachte nur: Sie haben es geschafft.
Ich habe der Versuchung widerstanden, die Frau anzusprechen und zu fragen, wo sie denn ihre Meinung über Varoufakis hernimmt, ob sie sich mit der griechischen Finanzkrise mal näher befasst hat, ob sie mir sagen kann, aus welchen Elementen die Troika besteht, was diese mit dem griechischen Staatsbankrott zu tun hat und wieso wir in die ganze Sache so sehr verwickelt sind.
Ich schaute mich um, sah nirgendwo einen Defibrillator und wusste, ich würde das Gespräch nicht überstehen. Ich wusste nur, dass ich eine typische Mediennutzerin vor mir hatte. Sie schien zufrieden, denn sie hatte eine Meinung.
Meinung haben ist wichtig in diesen Tagen. Man muss eine Meinung haben, am besten eine von Kenntnis gänzlich ungetrübte. Eine zu Griechenland, eine zur Ukraine, eine zu Putin sowieso und dann auch noch eine zum IS und zu Blockupy.
Wichtig ist, dass die Meinung fest ist. Sie muss auf einem Betonsockel stehen, tief verankert, unumstürzbar. Wackelige Meinungen sind so was von 70er oder 80er oder 90er. Aber so was.
Das hängt auch und vor allem mit dem Fernsehen zusammen, das den Besitz einer Meinung über alles stellt. Zwar wird es immer schwerer, aus den kargen Infobröckchen, die aus Dokus und Nachrichtensendungen purzeln, Kenntnis zu saugen, aber eine Meinung sollte man trotzdem daraus destillieren.
Ich reihe mich ja ein, wenn auch äußerst verhalten. Ich äußere hier und jetzt ebenfalls eine Meinung, möchte diese allerdings eher als Ahnung verstanden wissen. Ich habe ein bisschen Ahnung, vielleicht sogar ein bisschen mehr als andere. Ich habe mich immerhin lange mit dem Thema befasst und nicht nur ferngesehen.
Mein Eindruck ist, dass der Besitz einer kenntnisfreien Meinung inzwischen offenbar dem Glücksgefühl gleichkommt, das neue iPhone befingern zu dürfen. Meinung kann schließlich auch berühmt machen. Wer Meinung hat, wird in Talkshows eingeladen, um sie dort zu vertreten. Talkshows werden besetzt nach dramaturgischen Gesichtspunkten. Gast X hat diese Meinung, und Gast Y hat jene Meinung. Am besten funktioniert die Show, wenn diese beiden Meinungen brutal kollidieren. Dann ist Drama, dann entstehen Momente, in denen Reibung Quote erzeugt.
Der Beruf des Meinungshabers ist bei der IHK noch nicht als Ausbildungsgang angelegt, aber das kann werden. Eine Meinung zu haben, kann lukrativ sein. Man bildet sich eine Meinung und vertritt diese dann mit einer Vehemenz, die auch geeignet schiene, den Heiligen Gral zu beschützen.
Einsichten sind in diesem System nicht vorgesehen. Oder wann hat jemand in einer deutschen Talkshow zuletzt die Sätze gehört: „Das ist ein gutes Argument. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Das leuchtet mir ein.“ Wackelige Meinungen sind nicht gefragt. Talkshows sind daher auch keine Debatten. Es geht nicht darum, ein Gegenüber zu überzeugen, es geht einzig und allein darum, eine Meinung zu haben und diese mit wenigen Standardargumenten zu verteidigen, koste es, was es wolle.
Es gibt indes durchaus auch Stuhlkreisgäste, die schon in der nächsten Sendung eine komplett andere Meinung vertreten. Hauptsache, sie selbst sehen gut aus. Gut aussehen beim Meinunghaben steigert den Marktwert. Irgendwann wird die Industrie auf solche Meinungsmietmäuler aufmerksam, und dann lohnt es sich wirklich. Dann werden sie Lobbyist.
Der Zuschauer akzeptiert das erst stillschweigend, dann als Role Model. Er lernt, dass es sich auszahlen kann, eine Meinung zu haben. Befeuert wird so etwas von Umfragen, die in Vertriebsmeldungen von Illustrierten oder in Sendezeitfüllern wie „Politbarometer“ oder „Deutschlandtrend“ das Licht der medialen Öffentlichkeit erblicken. Da stehen dann irgendwelche stocksteifen Moderatorendarsteller vor einer Bildwand und rattern Ergebnisse runter.
Das ist noch verständlich, wenn Befindlichkeiten abgefragt werden. Haben Sie Angst um Ihre Altersvorsorge? Fühlen Sie sich von Putin bedroht? Das sind Fragen, die jeder beantworten kann. Was aber, wenn die Frage lautet: „Finden Sie die Verlängerung des Hilfspakets für Griechenland richtig?“ So geschehen im Deutschlandtrend der ARD im März. Da stellt sich mir natürlich sofort die Frage, wie man ein Paket verlängert und ob der Zustelldienst da mitspielt.
Wichtiger aber ist, dass dem Zuschauer suggeriert wird, dass er zu dieser Frage dringend eine Meinung haben sollte. Und die hat der Zuschauer dann auch. 49 Prozent haben als Antwort Ja gesagt, 47 Prozent haben mit Nein geantwortet.
Die vier Prozent, die weder mit Ja oder Nein geantwortet haben, sind in der von der ARD präsentierten Grafik nicht verzeichnet. Was lerne ich als Zuschauer daraus? Dass ich nicht existiere, wenn ich vernünftiger Weise zu solch einem komplexen Thema, bei dem ich mich allenfalls ansatzweise auskenne, keine auf Ja und Nein beschränkte Auskunft geben möchte. Ich komme nicht vor. Wer kommt vor? Die Meinungshaber.
Ich wette, die Frau vor mir an der Rewe-Kasse hatte eine Meinung zu allem. Woher die Meinung kam? Egal. Hauptsache Meinung. Dann kann man es auch ins Fernsehen schaffen. Wenn oft auch nur als Zahl im Deutschlandtrend. Meinung, Meinung über alles.