Die Zeiten ändern sich, und wenn "Deutschland 83"-Produzent Jörg Winger in der "FAZ" von einer "Zeitenwende im Fernsehen" spricht, dann trifft er damit den Nagel auf den Kopf. Die Option des einfachen "weiter so" kommt immer weniger in Betracht, je mehr Qualität Netflix, Amazon & Co. in den Markt hineinpumpen – und je mehr der Konsum via Laptop, Smartphone und VoD-Plattformen jüngeren Nutzern als ganz normales "Fernsehen" gilt. Längst sind Amazon Prime Instant Video und Netflix laut Goldmedia-Serien-Studie gemeinsam mit klassischen TV-Sendern unter den Top 10 der beliebtesten Serienkanäle der Deutschen, sogar unter den Top 5 für die 18- bis 29-Jährigen.

Manch einer im Markt hat die Zeitenwende schon klarer erkannt als andere. Schauspieler und "Tatort"-Kommissar Ulrich Tukur warf den Sendern unlängst im "Hörzu"-Interview vor, ihr Publikum "im Lauf der Jahre mit so viel Mindersinn beworfen" zu haben, dass das "aktive Zuschauen, bei dem man auch mal seine eigene Fantasie einsetzen muss", verkümmert sei. Tukur weiter: "Wenn das TV überleben will, muss es die Latte entschieden höher legen. Warum soll etwas, das massenhaft gesehen wird, besonders gut sein? Es ist doch möglich, dass etwas gut ist und sich nicht sofort erschließt. Es ist sogar wahrscheinlich." Recht hat der Mann. Nur müssen Sender, deren Konzept bislang vor allem auf Reichweitenmaximierung basierte, erst einmal eine Antwort darauf finden.

 

Wie sich beides hervorragend miteinander vereinbaren lässt, wenn Wille und Mut zu neuen Wegen vorhanden sind, hat dieses Jahr Vox bewiesen. Mit durchschnittlich 2,49 Millionen Zuschauern in der linearen Ausstrahlung und mit 13,8 Prozent Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen ist "Club der roten Bänder" die erfolgreichste neue TV-Serie in der klassischen Werbezielgruppe (und die zweiterfolgreichste insgesamt hinter "Der Lehrer"). Eine Serie, die schonungslos von Krebs und Magersucht erzählt, die nur jugendliche Hauptfiguren hat und die dann auch noch eine ihrer Hauptfiguren in der ersten Staffel sterben lässt.

Dass der jungen Produktionsfirma Bantry Bay um Gerda Müller und Jan Kromschröder (zwei der DWDL.de-Aufsteiger des Jahres) ein Werk von herausragender Qualität gelungen war, konnte man vorab feststellen. Dass es beim Publikum so gut ankommen würde, hätten selbst die Macher nicht zu hoffen gewagt. Vertrauen und Kompromisslosigkeit sind die wesentlichen Werte, die im Zusammenspiel zwischen Vox-Chef Bernd Reichart, den Produzenten und den beiden Autoren Jan Martin Scharf und Arne Nolting zu einem ganz besonderen Ergebnis geführt haben. Neben der TV-Quote erreichte auch der Social-Media-Buzz ungeahnte Höhen, weil viele Menschen tief berührt waren. Die zweite Staffel war schon ausgemacht, während die erste noch lief.

Club der roten Bänder© VOX/Martin Rottenkolber
 
Mit Blick auf die Branche gibt es noch ein weiteres großes Verdienst von "Club der roten Bänder": Niemand kann jetzt mehr behaupten, dass es nicht geht. Dass deutsche Zuschauer nicht für neuartige Stoffe und horizontal erzählte Geschichten bereit seien. Oder dass deutsche Macher ein solches Format im Gegensatz zu ihren amerikanischen Kollegen nicht hinbekämen. Auch letztere stecken übrigens mitten im Umbruch.

"Es fühlt sich an, als ob wir gerade eine neue Kunstform erfinden", so Jill Soloway, preisgekrönte Autorin und Regisseurin der Amazon-Serie "Transparent", im Interview mit dem US-Portal "HitFix". "Wie sollen wir Kreative für ihre Arbeit an einzelnen Episoden einteilen und bezahlen, wenn wir in Wahrheit einen Fünf-Stunden-Film machen wollen? Es ist so kompliziert und wir klammern uns immer noch an die Regeln, die einst für episodisches Fernsehen gemacht wurden."

Also ist Ausprobieren angesagt. Wenn selbst die Meister des Storytelling aus Hollywood das freimütig einräumen – wie sollte dann der Aufbruch in Deutschland ohne Trial & Error hinhauen? Mehr Vertrauen in die Vision starker Autoren und Creator wird ebenso dazu gehören wie die Bereitschaft, ihr Werk ohne allzu viel Verwässerung durch unzählige redaktionelle Instanzen vom Papier auf den Bildschirm zu bringen.

Schon jetzt ist klar, dass zu Beginn des neuen Jahres mehr qualitativ hochwertiger Serien-Stoff made in Germany folgen wird. Von der "Blochin"-gestählten Studio-Hamburg-Tochter Real Film Berlin kommt Mitte Januar die sechsteilige ARD-Miniserie "Die Stadt und die Macht", eine äußerst gelungene Mischung aus Politthriller und Familiendrama mit Anna Loos als Berliner Bürgermeisterkandidatin. Annette Simon, Christoph Fromm und Martin Behnke haben die Drehbücher nach einer Idee von Martin Rauhaus geschrieben, Friedemann Fromm hat Regie geführt. Voraussichtlich Mitte Februar startet bei RTL II die zunächst dreiteilige Serie "Gottlos – Warum Menschen töten" von Autor und Regisseur Thomas Stiller und Produzent Marc Conrad. Sie ergründet die psychologische Entwicklung, die einem Gewaltverbrechen vorausgeht, auf mitreißende Weise und ohne zu moralisieren. So kann das deutsche Serien-Jahr 2016 sehr gern weitergehen.