Am Ende eines Fiction-Jahres, das auf beiden Seiten des Atlantiks ereignisreich und einschneidend war, stehen sich zwei extreme Pole gegenüber. Auf der einen Seite ein Markt, der 2015 erstmals die Schwelle von 400 erstausgestrahlten Serien innerhalb eines Jahres überschritten hat und nun heftig darüber diskutiert, ob das auf Dauer nicht zu viel ist. Auf der anderen Seite ein Markt im Aufbruch, der 2015 mal beherzt, mal zögerlich die Lust am horizontalen Erzählen entdeckt hat, aber noch längst keinen befestigten Weg beschreitet.

Der Vergleich zwischen den USA und Deutschland drängt sich auf, solange Serienliebhaber beim Schlagwort "horizontal" eher an "Homeland" als an "Deutschland 83" denken. Er drängt sich auch deshalb auf, weil ein mögliches Platzen der Blase drüben das zarte Pflänzchen des hiesigen Aufbruchs natürlich beeinflussen würde. Daraus folgt: 2016 müssen sich Sender, Produzenten und Kreative noch mehr ins Zeug legen, wenn sie moderne, anspruchsvolle Serien schaffen wollen. Der eine oder andere Rückschlag sollte dabei niemanden irritieren.

 

In den ersten Tagen des Jahres hatte das Medienmagazin DWDL.de die Branchentrends 2015 prognostiziert – und dabei in Bezug auf Projekte wie "Deutschland 83", "Blochin" oder "Weinberg" angemerkt: "Doch bei aller berechtigten Euphorie muss auch die unangenehme Wahrheit ausgesprochen werden, dass nicht jedes Serienprojekt neuen Typs ein Erfolg werden wird. Gerade aufgrund der langen Entwöhnung kann es realistischerweise zu mancher Enttäuschung kommen. Dann ist es unerlässlich, dass die Macher – und mehr noch die Senderverantwortlichen – Stehvermögen beweisen. Sie werden es brauchen, um die Welle nicht vorschnell abebben zu lassen."

Wir zitieren das nicht, weil wir als Rechthaber erscheinen wollen. Wir finden nur, dass es wichtig ist, mit den konkreten Erfahrungen des Serienjahres 2015 genau dies zu berücksichtigen. Beginnen wir also mit einem ausdrücklichen Lob ans ZDF. Auch wenn der düstere Thriller-Fünfteiler "Blochin – Die Lebenden und die Toten" auf gemischte Kritik stieß, so zählte er zweifellos zur Speerspitze der neuen horizontalen Bewegung. Das ZDF räumte fast ein ganzes Wochenende frei und machte ihn konsequent zum Event.

Noch konsequenter zeigte man sich freilich im Anschluss. Die durchschnittliche Reichweite von 3,31 Millionen Zuschauern, die "Blochin" mit der linearen Ausstrahlung erzielte, war zwar nicht schlecht – aber von jedem herkömmlichen Samstagskrimi ist das ZDF locker das Doppelte gewohnt. Dennoch fiel die ausgeruhte Bilanz – inklusive Mediathek-Abrufe und qualitativer Bewertung – positiv aus. Matthias Glasner, der Creator der Serie, und die Produktionsfirma Real Film Berlin erhielten einen Entwicklungsauftrag für die Drehbücher der zweiten Staffel. Das heißt noch nicht zwingend, dass am Ende auch gedreht wird, ist aber schon mal ein beherzter Schritt in die richtige Richtung. Zumal am Ende von Staffel 1 ziemlich viele Fragen offen blieben.

Blochin© ZDF/Real Film

Genau das ist ja das Geheimnis einer guten Serie im horizontalen Erzählformat – dass sie Fragen aufwirft und nicht nur Antworten vorwegnimmt. Programmstrategisch gesehen, ist sie im Erfolgsfall eines der besten Mittel zur Zuschauerbindung, das man sich vorstellen kann. Auch "Deutschland 83" lässt am Ende der ersten Staffel manche Fragen offen. Begeisterte Zuschauer auf beiden Seiten des Atlantiks taten via Twitter und Facebook kund, dass sie die Fortsetzung kaum erwarten können. Sie werden sich noch eine Weile gedulden müssen.

Die beteiligten Unternehmen der RTL Group wollen im Januar darüber beraten, ob und wie die geplante zweite Staffel namens "Deutschland 86" gestemmt wird. Die durchschnittliche Reichweite von 2,10 Millionen Zuschauern bei der linearen RTL-Ausstrahlung war nicht genug für den erhofften ungebremsten Durchmarsch. Wie der Sender selbst mit verfehlter Marketing- und Social-Media-Strategie etliche Chancen liegen ließ, hat DWDL.de ausführlich analysiert. Aber ist "Deutschland 83" nun ein Erfolg oder ein Flop?

Die linearen deutschen Einschaltquoten sind bitter genug – doch sie sind die einzigen negativen Kennzahlen, die sich in der Zwischenbilanz der Serie von Anna und Jörg Winger finden lassen. Für die Produktionsfirma UFA Fiction hat der von Kritikern und Fans international gelobte Spionage-Thriller einen bedeutsamen Durchbruch im seriellen Erzählen gebracht, dem bereits mehrere horizontale Projekte folgen. Für den Vertrieb FremantleMedia International ist "Deutschland 83" schon jetzt eines der bestverkauften fiktionalen Programme deutscher Herkunft. Für den US-Sender SundanceTV war es die meistdiskutierte Serie des Jahres. Im US-Markt streamt seit kurzem Hulu "Deutschland 83". Ab Januar läuft es in der Primetime von Channel 4 in Großbritannien und Canal+ in Frankreich. Wer das einen Flop nennt, sollte langsam mal seine Scheuklappen abnehmen.