Dafür, dass dieses Thema in den kommenden Jahren einen Schaden in Milliardenhöhe anrichten kann und entsprechend viele Jobs kosten könnte, ist es bislang erstaunlich ruhig um die dramatischen Konsequenzen des im Sommer beendeten Nebenkostenprivilegs. Es wurde gefeiert als großer Independence Day für Millionen von Kabel TV-Haushalten, die jetzt nicht mehr automatisch über die Mietnebenkosten Kabelfernsehen mitbezahlen müssen. Doch aus heutiger Sicht zündete die Party nicht, lässt aber dennoch fast alle mit einem gehörigen Kater zurück.
Die jüngsten Quartalszahlen einiger mit dem Kabelfernsehen konkurrierenden Marktteilnehmer machen das Ausmaß des Problems sichtbar. Wieder einmal - wie einst bei der bewussten Entscheidung HD-Qualität gegen Aufpreis und damit im Schneckentempo in Deutschland zu etablieren - hat ein Distributionsthema enormen Einfluss auf das Medium als Ganzes und beschert dem linearen Fernsehen ausgerechnet zur Unzeit die nächste Hiobsbotschaft. Um das zu verstehen, muss man tiefer eintauchen ins Thema.
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Was ist in diesem Jahr überhaupt passiert? Seit 1. Juli dieses Jahres dürfen die Kosten für den TV-Anschluss nicht mehr automatisch von den Vermietern über die Mietnebenkosten abgerechnet werden. Das betrifft allein bei Vodafone, dem größten Kabelnetzbetreiber in Deutschland, rund 8,5 Millionen Haushalte, zu denen das Unternehmen bislang keine direkte Kundenbeziehung hatte. Mit einer kostspieligen Last-Minute-Werbekampagne machte Vodafone deshalb im Frühjahr und Sommer darauf aufmerksam, dass das Kabelfernsehen nun Mietersache sei. Immerhin gut vier Millionen TV-Haushalte konnte Vodafone bis zum Herbst so direkt für sich gewinnen, gab das Unternehmen Mitte November bekannt und erklärt auf DWDL.de-Anfrage: "Wir sind auf Kurs, unser gestecktes Ziel zu erreichen. Nämlich die Hälfte der 'betroffenen' Kunden für Vodafone zu gewinnen."
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Markus Härtenstein
Doch was passiert mit der anderen Hälfte? Haben die Wettbewerber von Vodafone etwa derart erfolgreich für sich und ihre alternativen Angebote geworben? Mitnichten, wenn gleich unisono eine grundsätzliche Zufriedenheit herrscht. "Unser Wachstum verläuft in einem gesunden Tempo, mit dem wir sehr zufrieden sind. Ob das nun primär an der Abschaffung des Nebenkostenprivilegs oder dem allgemeinen Trend Richtung IPTV liegt, lässt sich schwer isolieren", erklärt Markus Härtenstein, Vorstand bei der Exaring AG, gegenüber DWDL.de. Exaring betreibt das B2C-Produkt waipu.tv, das im zweiten Quartal 191.000 neue Abos verzeichnete, im dritten Quartal dann 132.000.
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Und die Deutsche Telekom? Magenta TV gewann nach eigenen Angaben im zweiten Quartal 114.000 neue Kundinnen und Kunden, im dritten Quartal dann 76.000. Das sind zunächst einmal nur die Zahlen der IPTV-Laufzeitverträge mit Telekom-Internetanschluss. "Sehr zufrieden" sei man mit dem Wachstum, das 2024 damit jedes Quartal über den Vorjahreswerten liege, teilt ein Sprecher der Deutschen Telekom auf Anfrage mit und ergänzt einen wichtigen Aspekt: "Zusätzlich hatten wir am Ende des dritten Quartals 2024 rund 300.000 Nutzer, die das OTT-Angebot in Anspruch genommen haben."
"Insgesamt hatten wir aber auf ein noch deutlicheres Wachstum gehofft"
Jörg Meyer, Chief Commercial Officer von Zattoo
© Zattoo
Jörg Meyer
Doch sind diese Zuwächse wirklich das, was sich die Vodafone-Konkurrenten erhofft hatten vom Wegfall des Nebenkostenprivilegs? "Unser Fazit fällt gemischt, aber eher positiv aus", erklärt Jörg Meyer, Chief Commercial Officer von Zattoo. "Seit Anfang 2024 beobachten wir eine deutlich gestiegene Nachfrage nach alternativen IPTV- und TV-Streaming Lösungen. Insgesamt ist die Anzahl der Zattoo TV-Streaming-Abos in Deutschland seit Jahresanfang um 20 Prozent gewachsen. Bei unseren B2B-Kunden sehen wir teils noch deutlich höhere Wachstumsraten im IPTV-Segment. Das sind sehr relevante Zuwächse - insgesamt hatten wir aber auf ein noch deutlicheres Wachstum gehofft."
Und erklärt auch gleich, warum. "Für einen Großteil der betroffenen Miethaushalte spielte der Stichtag am 1. Juli faktisch keine Rolle. Gründe dafür sind unter anderem eingeräumte Übergangszeiten der Netzbetreiber auch über den 1. Juli hinaus. Diese haben es einigen Betroffenen ermöglicht, ihre bisherige TV-Versorgung ohne Vertrag weiter zu nutzen." Ein Blick auf die veröffentlichten Zahlen macht, allein schon bei der Betrachtung des größten Kabelnetzbetreibers Vodafone, die Dimension des Problems deutlich: Von 8,5 Millionen betroffenen Miet-Haushalten konnte Vodafone nach eigenen Angaben gut vier Millionen Millionen für sich gewinnen.
© Christian Heinkele
Christian Heinkele
Im zweiten und dritten Quartal diesen Jahres - also rund um das Ende des Nebenkostenprivilegs zur Jahresmitte - gewannen Telekom und Exaring/waipu.tv zusammen etwa 800.000 Haushalte. Zattoo verzeichnete einen nicht genau bezifferten Zuwachs. Auch so wird aber deutlich: Die Wettbewerber der Kabelnetzbetreiber haben allein die Lücke von 4,5 Millionen bisherigen Vodafone-Haushalten nicht gefüllt. Branchenbeobachter wie Distributions-Experte Christian Heinkele gehen davon aus, dass auch unter Berücksichtigung einiger weiterer Anbieter, die ein kleines Stück vom Kuchen abbekommen haben, von den Vodafone-Haushalten mindestens drei Millionen bislang nicht aktiv geworden sind.
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Dazu kommen die Zahlen von Deutschlands zweitgrößtem Kabelnetzbetreiber, Tele Columbus. In den vergangenen zwölf Monaten verlor dieser heftige 40,4 Prozent seiner TV-Haushalte und liegt bei aktuell nur noch 1,1 Millionen Kundinnen und Kunden. Davon sind bis Ende des dritten Quartals nur 130.000 neue Einzelnutzerverträge neu dazugekommen. "Das Unternehmen geht davon aus, dass sich im vierten Quartal der Anstieg an Einzelnutzerverträgen auf Basis verstärkter Vertriebsaktivitäten weiter fortsetzen wird", heißt es in der Mitteilung zum Quartalsergebnis von Tele Columbus, die im Endkundenmarkt unter der Marke PŸUR agieren. Doch dieser Hoffnung stehen zunächst einmal hunderttausende verlorene Haushalte gegenüber.
Rund 3,5 Millionen Haushalte schauen derzeit illegal TV
© IMAGO / Raimund Müller
Damit verantworten die beiden größten deutschen Kabelnetzbetreiber im Herbst 2024 mehr als 3,5 Millionen TV-Haushalte, die ohne neue Einzelnutzerverträge derzeit illegal fernsehen. Unklar ist, wie viele sich dessen überhaupt bewusst sind. Denn die Nutzung ist in fast allen Fällen weiterhin problemlos möglich, weil die Sperrung nur mühsam Haushalt für Haushalt durch zeit- und kostenintensive Vor Ort-Besuche möglich ist. Vodafone beteuert: "Wir sperren schon seit Monaten zielgerichtet Kabelanschlüsse, sofern eine ungerechtfertigte Nutzung durch Mieter vorliegt. Die Sperrung erfolgt im Keller an den Hausverteilern durch einen Techniker, der Sperrfilter einsetzt oder Verbindungen trennt", so ein Sprecher auf DWDL-Anfrage.
Doch am Tempo dieser Abschaltungen haben mehrere Wettbewerber Zweifel, denn für Vodafone wie Tele Columbus dürfte es weitaus attraktiver sein, bestehende Haushalte in nächster Zeit vielleicht doch noch durch Werbung als Direktkunde zu gewinnen. Denn kommt erst einmal der überraschende Besuch vom Techniker, der möglicherweise ahnungslose Haushalte einfach abklemmt, dürfte es schwerer fallen, Sympathie und Kundenbeziehung neu für sich zu gewinnen. Der Vorwurf konkurrierender TV-Provider: Die Kabelnetzbetreiber würden deshalb auf Zeit spielen und damit den Markt verstopfen. Doch das ist nur eine Sicht auf das Thema.
© RTL / Pascal Bünning
Andre Prahl
Komplex wird es, weil die beiden deutschen Privatsender-Gruppen wiederum absolut kein Interesse an einer allzu schnellen Abschaltung haben: Sowohl RTL Deutschland als auch die ProSiebenSat.1 Media SE haben schon im Vorfeld der Abschaffung des Nebenkostenprivilegs wie auch danach - zuletzt im Rahmen der Medientage München - sehr deutlich gemacht: Abschaltungen von Millionen Haushalten schaden dem Medium und das nicht unerheblich. Bei der größten TV-Messe Deutschlands, der ANGA COM im Mai in Köln, wurde insbesondere Andre Prahl, Chief Distribution Officer bei RTL Deutschland, bei dem Thema sehr deutlich.
“Jeder abgeklemmte Zuschauer ist keiner mehr. Das wollen wir verhindern."
Andre Prahl, Chief Distribution Officer bei RTL Deutschland
"Das Letzte, was das lineare Fernsehen gebrauchen kann, ist, dass der Verlust an Sehdauer, den wir alle beobachten, jetzt auch noch durch einen Verlust von technischer Reichweite überlagert und verstärkt wird." Er könne verstehen, dass auch Kabelnetzbetreiber natürlich Geld für ihre Leistung sehen wollten, aber diese Maßnahme stelle für RTL Deutschland das "Worst Case Szenario" dar. Das physische Abklemmen von TV-Haushalten, die das lineare Fernsehen noch nutzen, dürfe allenfalls die allerletzte Maßnahme darstellen. Prahl: “Jeder abgeklemmte Zuschauer ist keiner mehr. Das wollen wir verhindern".
© AGF
Wenn von zuletzt rund 36 Millionen TV-Haushalten in Deutschland bis zu 3,5 Millionen abgeschaltet werden müssten, würde das Medium TV in seiner linearen technischen Reichweite um fast zehn Prozent schrumpfen. Das wiederum müsste auch die AGF als Hüterin der repräsentativ hochgerechneten TV-Reichweite in Deutschland abbilden. Mit fatalen Auswirkungen: In ohnehin schwierigen Zeiten würde das Medium durch die Bank geringere Reichweiten ausweisen, was die Refinanzierung für werbefinanzierte Programme weiter erschweren würde. Kein Wunder also, dass die Sender es nicht ganz so eilig haben mit den Abschaltungen der rund 3,5 Millionen illegalen TV-Haushalte in Deutschland.
Exaring: Vodafone und Co. verantworten "die größte illegale TV-Plattform"
© Deutsche Telekom
Jörg Richartz
"Eine Duldung der 'Schwarzseher' seitens Broadcastern ist inakzeptabel. Es stellt eine klare Wettbewerbsverzerrung da. Das Ziel der TKG-Novelle wurde nicht erreicht. Was hier passiert bzw. passiert ist, hatte ich bereits auf den Medientagen 2023 als ‚die größte illegale TV-Plattform‘ angekündigt", sagt Markus Härtenstein, Vorstand bei der Exaring AG. "Der Stichtag 1. Juli 2024 war über viele Jahre allen Marktteilnehmern bekannt. Was hat Vodafone & Co die ganze Zeit gemacht?" Und Jörg Richartz, Vice President Vermarktung & Steuerung TV bei der Deutschen Telekom erklärt gegenüber DWDL.de: "Wir plädieren dafür, dass diese Haushalte von ihren Kabelanbietern so schnell wie möglich vom temporär kostenfreien Kabel abgeklemmt und in den freien Markt überführt werden, damit sie sich anschließend frei für einen TV-Anbieter ihrer Wahl entscheiden können. So, wie es das Gesetz durch das Ende des Nebenkostenprivilegs vorsieht."
© Zattoo
Und dann gibt es noch eine weitere Ebene bei dem Thema. Von einer Wettbewerbsverzerrung spricht Jörg Meyer, CCO bei Zattoo und führt aus: "Wer TV-Signale weiterleitet, ist verpflichtet, die entsprechenden Gebühren zu entrichten. Geschieht das nicht, werden Marktteilnehmer benachteiligt, die diese Zahlungen leisten. Es liegt aus unserer Sicht in der Verantwortung von Sendeunternehmen und Verwertungsgesellschaften, für Chancengleichheit bei den Lizenzgebühren zu sorgen. Sollte sich zeigen, dass über längere Zeit für Millionen von TV-Haushalten keine Lizenzgebühren für die Weitersendung gezahlt werden, zitieren wir gerne Markus Härtenstein von Waipu: 'Im nächsten Jahr sehen wir die größte illegale TV-Plattform.' Dem hätten wir da wenig hinzuzufügen.“
3,5 Millionen TV-Haushalte, die derzeit illegal schauen, weil sie offiziell nicht existieren, schaden damit auch Urheberinnen und Urhebern, also der Kreativszene in Deutschland. Verwertungsgesellschaften wie Gema oder Corint Media fürchten, dass die Kabelnetzbetreiber ihre Zahlungen für Urheberrechte an den offiziellen Kundenzahlen orientieren und die erhebliche Anzahl an Haushalten, die ohne Vertrag aufgrund versäumter Abschaltung weiter fernsehen, außen vor lässt. Wenige Monate nach dem Ende des Nebenkostenprivilegs ist deshalb fast überall Ernüchterung eingetreten.
Sind die 3,5 Millionen Haushalte noch zurück zu gewinnen?
Zweifelsohne: Es gibt jetzt ein mehr an Transparenz für Endkunden, die nicht mehr gezwungenermaßen für etwas zahlen müssen, was sie vielleicht gar nicht nutzen. Dem gegenüber stehen Kabelnetzbetreiber mit erheblichen Einbußen und Wettbewerber, die langsamer wachsen als erwartet wurde - trotz Kampfpreisen überall, die im Übrigen langfristige Wirtschaftlichkeit bezweifeln lassen. Und bei den rund 3,5 Millionen Haushalten, die illegal schauen, gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Dringlichkeit der Vorgehensweise. Das wahre Dilemma ist für Branchenbeobachter Christian Heinkele allerdings ein viel grundsätzlicheres: Noch gehen die Kabelnetzbetreiber sowie die lauernden Wettbewerber davon aus, dass sich die 3,5 Millionen Haushalte - oder zumindest ein erheblicher Anteil davon - zurück gewinnen lassen.
Was, wenn dem nicht so ist? Selbst wenn diese Haushalte jetzt nicht unmittelbar abgeschaltet werden, dürfte ein entscheidender Teil davon trotzdem mittelfristig verloren sein und nicht als Neukunde auftauchen, egal bei wem. Dafür gibt es bei den 3,5 Millionen fraglichen Haushalten laut Christian Heinkele drei unterschiedliche Gründe: Einerseits muss man davon ausgehen, dass ein Teil bereits bislang alternative Angebote genutzt hat, z.B. IPTV, obwohl der Kabelanschluss schon bezahlt war. Ob nun bewusst oder unbewusst. Diese Haushalte brauchen keinen neuen Versorger, nur weil jemand das Kabel abklemmen kommt. Ähnlich gelagert sein könnte es bei einer Vielzahl von Migrationshaushalten, in denen zusätzlich zum vorhandenen Kabelanschluss eine Satelliten-Schüssel oder OTT-Plattformen genutzt wurden, um Programme aus dem Ausland zu empfangen.
Und dann ist da die dritte Gruppe, die besonders große Sorgen macht: Gen Z, die jüngste derzeit erwachsene Generation, die als erste im Streamingzeitalter groß geworden ist. Hier spielt der Internetanschluss mutmaßlich eine größere Rolle als die Frage der TV-Versorgung, geschweige denn Nutzung. Diese Generation wird erwachsen, wohnt in WGs oder ersten eigenen Mietwohnungen. Und da stellt sich die Besorgnis erregende Frage: Wie groß wird bei der Gen Z eigentlich der Aufschrei ausfallen, wenn ein Techniker vor der Tür steht, um das TV-Kabel abzuklemmen? Teile dieser Antwort könnten die Fernsehbranche verunsichern.