Herr Gorny, was waren Ihre Gedanken, als sie im Sommer vom Aus für VIVA zum Jahresende hörten?
Das wird sozusagen der zweite Schlussakt. Der Verkauf von VIVA war damals schon mein erster persönlicher Schlussakt, als meine eigene VIVA-Geschichte endete. Jetzt endet die Geschichte von VIVA endgültig. Natürlich ist da ein bisschen Wehmut dabei, auch ein bisschen Enttäuschung, dass die Hoffnungen, die damals mit dem Zusammengehen der VIVA- und MTV-Sender verbunden waren, dann doch nicht aufgegangen sind. VIVA ist sicherlich auch ein weiteres Indiz dafür, wie schwer es für Spartenfernsehen in einem sich digitalisierenden individualisierten, immer häufiger on demand konsumierten TV-Markt ist, noch profitabel zu agieren, ganz besonders,wenn es um junge Zielgruppen geht.
Viva war als zentrale Marke einst auch Inbegriff von Pop-Kultur. Ist populäre Kultur in Zeiten von immer individualisierter Nutzung ein Relikt von früher?
Nein, dem würde ich widersprechen. Diese individualisierten Angebote geben mir im Gegenteil ja sogar die Möglichkeit, mich viel direkter als früher mit Gleichgesinnten zu vernetzen und damit mit sehr individuellem Geschmack trotzdem Teil einer Community zu sein: Musik verbindet unverändert wie kaum ein anderes Medium. Die Frage ist nur, welche digital-medialen Angebote sind die richtige Antwort auf diese Bedürfnisse. Und da muss man sagen: Das Musikfernsehen ist nicht mehr die richtige Antwort. In den 90ern war VIVA eine erfolgreiche Plattform und gab einer ganzen Generation ein Gefühl der Zugehörigkeit, wie es bis dato kein anderes Fernsehangebot gemacht hatte.
Liegt es an meinem fortschreitenden Alter, dass ich anders als früher kaum noch Musikvideos kenne oder ist das Musikvideo in Folge des Niedergangs des Musikfernsehens tot?
Musik greift ja immer noch stark auf Visualisierungskonzepte zurück, sie wird milliardenfach abgerufen, auch als Video, aber eben kaum noch im Fernsehen. Die gesamten Debatten der letzten Jahre um die Haftungsprivilegierung oder die gesamte Rechte-Debatte, hat ja genau damit zu tun, dass Plattformen wie YouTube die Rolle der Musiksender übernommen haben, ohne dass anfangs die lizenzrechtlichen Spielregeln geklärt waren wie es früher bei Radio und Fernsehen selbstverständlich war und noch ist. Aber klar: Früher war VIVA für eine ganze Generation Tagesbegleiter. Nach der Schule wurde eingeschaltet. Das war lange ein allein von uns entworfenes Angebot, das wir später bei VIVAplus dann zwar ein bisschen individualisiert haben, als die Zuschauer per Anruf oder SMS die Rotation bestimmen konnten. Aber als dann das Internet gleichermaßen an Verbreitung wie auch Geschwindigkeit gewann, brauchte man nicht mehr auf uns zu warten. Für Konsum von Musik und Kommunikation darüber war VIVA irgendwann nicht mehr die wichtige und einzige Schaltzentrale. Da standen wir wie alle anderen vor der Frage: Wie gehen wir mit dem Internet um?
Und was war damals Ihre Antwort darauf?
Damals war die vorherrschende Meinung ja noch, dass man dieses Internet am besten als Promotion-Plattform für das Kerngeschäft nutzt. Nur Wenige haben damals rechtzeitig verstanden, dass sie sich eigentlich ganz neu erfinden müssen. Im Grunde hätten doch die Musiksender auf so etwas wie YouTube oder Spotify kommen müssen, aber das überstieg damals die Vorstellungskraft vieler Programmmacher, denn YouTube und Spotify wurden nicht von Programmmachern erdacht, sondern kommen aus der IT-Branche. Alle arbeiten mit Musik, aber auf ganz andere Art und Weise. Das Musikfernsehen wollte inhaltlich kuratieren, sah den Mehrwert im Programmangebot. Heute dominierende Angebote hatten nie ein solches Sendungsbewusstsein. Da kam die technische Möglichkeit und erst jüngst sieht man, dass diese Plattformen auch wieder zwecks Individualisierung auf eigene, exklusive Inhalte setzen.
Sie haben 1998 in einem Interview mit dem „Musikexpress“ gesagt, dass sie das Geld, was sie im Netz investieren müssten, viel lieber in gutes Fernsehen investieren. Bereuen Sie rückblickend die Fehleinschätzung?
Wir hatten damals sogar Livestreaming auf der Website, weil wir eben mehr sein wollten als eine Promotion-Plattform, haben mit zusätzlichen Perspektiven einen Mehrwert zum linearen Programm gegeben. Wir hatten damals schon verstanden, dass man auch im Netz übertragen kann. Aber all das war einfach viel zu früh. Ich erinnere mich noch an Diskussionen darüber, dass sich unsere Website viel zu langsam lädt, weil wir zu viele Inhalte hatten und kein reibungsloser Stream so möglich war. Wir sind extra in die USA geflogen und haben uns die technischen Möglichkeiten demonstrieren lassen. Auch da wartete man mehrere Sekunden bevor, dann ein ruckelndes Bild in Briefmarkengröße den Spaß an der Musik verdorben hat. Das wollte man sich wirklich nicht anschauen. Also haben wir das nicht weiterverfolgt. Streaming bzw. Video im Netz hat dann im Fernsehen erstmal niemanden sonderlich interessiert, bis YouTube kam. Da haben alle über die Katzenvideos gelacht - bis plötzlich zwischen den Katzenvideos ein Michael-Jackson-Musikvideo auftauchte. Da dämmerte es dann allen Fernsehmachern, dass sie sich doch nochmal damit beschäftigten sollten.
Das Fernsehen hat aber, gemessen an der Tatsache, dass das 13 Jahre her ist, nicht viel daraus gelernt oder?
Der TV-Markt hat sich ja zunächst einmal erstaunlich konstant entwickelt. Ich erinnere mich noch an Reden vor 15 Jahren, die vorhergesagt haben, dass ganz bald alles anders wird. So gesehen muss man auch mal sagen, dass es eigentlich erstaunlich ist, wie solide das lineare Fernsehen immer noch läuft - und das 13 Jahre nachdem YouTube Video on demand etablierte. Es ist auch schon elf Jahre her, seit Hulu und Netflix dann auch professionellen TV-Content on demand zugänglich machten.
Seitdem hat Netflix aber ordentlich an Fahrt aufgenommen…
Netflix ist das neue MTV. Es kommt cool, es ist scheinbar am Puls der Zeit und wirkt wie ein medialer Treiber obwohl niemand genau weiß, wie viele Nutzer es nun wirklich hat. Aber Netflix schwimmt auf einer Welle des Zuspruchs wie es lineare Fernsehsender nicht mehr entwickeln konnten. Ihnen fehlte die Coolness, die jetzt Netflix über manche Fakten hinweg trägt. Damit können sie eine mediale Kraft aufbauen, die sie dann auch Schritt für Schritt mit reellem Erfolg füttern. Sie haben sich als sehr emotionale Medienmarke positioniert und kombinieren das mit einer Marktgröße, die oft als uneinholbar dargestellt wird, weil Netflix ja weltweit agiere. Große TV-Marken wie MTV waren das aber auch schon vor 25 Jahren.
Ein paar Jahre her: Dieter Gorny Mitte der 90er Jahre im Kreise von VIVA-Kollegen. (Foto: Franziska Krug / getty images)
Was war damals eigentlich der ausschlaggebende Gedanke hinter VIVA?
Wir wurden oft gefragt, woran wir uns denn jetzt orientieren würden. Am internationalen Musikgeschäft oder dem nationalen Fernsehmarkt? Das schien für manchen nicht zusammen zu gehen. Wir haben damals aber selbstbewusst gesagt: An Beidem! Sowohl in New York wie auch in Essen-Steele gab es Fans von Michael Jackson. Sie eint der internationale Musikgeschmack, vielleicht tragen sie auch die gleichen Marken-Klamotten, aber der kommerzielle Aspekt ist nur eine Seite. Wir waren überzeugt: Der Fan in Köln ist anders sozialisiert als der in New York und was dem Fan dort sehr nahe ist, hat für deutsche Fans vielleicht keine Relevanz. Und wir sahen die Chance aus einer Mischung von deutscher Ansprache und nationalem und internationalem Musikangebot eine vielversprechende Melange zu kreieren.
Wie hat sich das dann im Programm niedergeschlagen?
Wenn Heike Makatsch mit dem VIVA-Mikrofon ganz aufgeregt über den Hotelflur ging und die Zuschauer über die Schulter wissen ließ, dass sie total aufgeregt ist, jetzt gleich für die VIVA-Zuschauer Bruce Willis zu treffen, dann war sie sozusagen die Freundin der Zuschauer. Die Kollegen von MTV waren nicht so nahbar. Da wurde immer vermittelt: Wir sind auf Du und Du mit den Stars - weil wir dazugehören. Das war für mich der Unterschied, der VIVA den erfolgreichen Start beschert hat. Wir waren der gute Freund, nicht der coole und unerreichbare Typ. Und es kam die Tatsache dazu, dass die erste Nachkriegs-Generation aufwuchs, die vorurteilsfrei mit deutscher Musik umging.
Wenn VIVA am 31. Dezember Geschichte sein wird. Was bleibt? Was hinterlässt der Sender?
Wenn man sich rückblickend überlegt, was aus dieser Grundthese geworden ist; dass wir einfach mal frech losgelegt haben und lauthals 40 Prozent deutsche Musik versprachen, die es damals - überspitzt gesagt - ja noch gar nicht gab, dann bleibe ich stolz auf das, was VIVA in den 90er Jahren erreicht hat. Denken Sie auch nur mal an all die Talente, die bei VIVA ihren ersten TV-Auftritt hatten und jetzt in wirklich allen Genres des deutschen Fernsehens moderieren, dann hat VIVA zu meiner großen Freude ein anhaltendes Erbe hinterlassen. VIVA hat ein Stück deutscher Fernsehgeschichte geschrieben mit seinem unkonventionellen Ansatz in einem Jahrzehnt in dem die großen privaten Vollprogramme unbedingt erwachsen werden wollten. VIVA hat fast alle sozialisiert, die heute schreiben und denken. Den Stolz darauf kann niemand abschalten.