Man spürt noch immer viel Herzblut in Ihren Erinnerungen. Sie werden sich das Finale von VIVA also anschauen?

Die letzten Minuten? Nein, ich habe mir aber neulich mal den Anfang von damals angeschaut. Da saß Heike Makatsch neben Mola Adebisi und Nils Bokelberg. Die präsentierten sich als die neuen Kumpels aus dem Fernsehen und dann sagte Makatsch den magischen Satz: „Wir sind VIVA, wir sind euer Freund und ab heute bleiben wir für immer zusammen.“ Das war die Idee von VIVA als ständigem Alltagsbegleiter. Aber diese Begleitung des Alltags, der Zugang zu den Stars - all das findet inzwischen in den Händen der Zielgruppe statt - permanent dank Instagram und Co auch auf Bildschirmen, aber nicht mehr auf TV-Bildschirmen Und dazu läuft Spotify.

Also hätte das damalige VIVA heute keine Chance?

So wie wir es in Erinnerung haben, nein. Dafür hätte sich VIVA schon vor fünfzehn Jahren wandeln müssen. Hätte der Hauptaktionär damals nicht an Viacom verkauft und wir hätten mit den Ideen, die da waren, dann zum richtigen Zeitpunkt den Sprung ins Netz geschafft, dann würde es VIVA vielleicht heute und noch über Silvester hinausgeben. Übrigens: MTV hat ja im Grunde das gleiche Problem. Im Kern ist die Marke noch heute ein Fernsehsender und hat sich nicht konsequent gewandelt. Man wollte sich lange nicht neu erfinden und ob das jetzt noch gelingen wird, ist fraglich.

Als das Aus von VIVA bekannt wurde, erschienen viele sentimentale Beiträge. VIVA ist retrospektive ernster genommen worden als damals zu seinen besten Zeiten. Oder täuscht der Eindruck?

Nein. Wir wurden damals erstmal lange belächelt. Gut, wir waren ein junger Sender und wollten plötzlich mitmischen. Wenn dann der Inhalt und die Präsentation so aus dem Rahmen des Bekannten fällt, dann erinnere ich mich gut an die Bewertungen der frühen Jahre, wo sich mancher wunderte, was wir da für eine Truppe seien. Ich erinnere mich noch an einen Artikel der damaligen Lifestyle-Zeitschrift „Tempo“, der damals die schöne Überschrift "Sesamstraße auf Speed" hatte. VIVA war Anarchie, aber dann irgendwann auch Erfolg. Wenn Harald Schmidt unsere VJs eingeladen hat, dann führte er sie manchmal vor, aber eingeladen wurden sie, weil VIVA wahrgenommen wurde. Das zählte. Weil wir uns so sehr unterschieden haben, konnten uns auch Markenartikler gut in ihren Mediaplan aufnehmen, weil wir jeden Mediaplan bei den jungen Zuschauern abrundeten. Und das vermarktete sich über Coolness. Wenn ein Moderator Turnschuh X tragen sollte, dann ging es dem Kunden nicht im Detail darum, wie viele Menschen gucken. Sondern dass der Turnschuh bei VIVA zu sehen war. Wir konnten Marken einen neuen Anstrich verpassen.

Weil Sie es ansprechen: Sie haben damals nie Quoten veröffentlicht bei VIVA. Abwärts ging es, als die Leistungswerte kommuniziert wurden…

Das stimmt. Erst Viacom hat damit angefangen. Ich war immer gegen Zahlenschlachten, weil wir als kleiner Musiksender daraus keinen Vorteil hätten ziehen können. VIVA war ein Gefühl, das erfolgreich transportiert wurde. Wir konnten Coolness vermitteln wie es sonst kein Sender konnte. Die Bestätigung lieferte eine Generation, die wie selbstverständlich VIVA einschaltete. Das war im Alltag aller Entscheider, die Kids hatten, unbestreitbar. Wir haben uns immer als Addition vermarktet, nie als Alternative zu anderen Werbeschaltungen. Ich glaube, dass es ein großer Fehler von Viacom war, für VIVA dann GfK-Quoten auszuweisen. Da hat das Ganze an Magie verloren. Wenn man mit Blick auf die Quote nur noch die Top 20 rauf und runter spielt und sich wiederholt, dann wird man ersetzbar.

Wann war für Sie VIVA auf dem Höhepunkt?

Das war um die Jahrtausendwende. Eher kurz davor, mit dem Börsengang. Dann krachte der Neue Markt, dann kam Brainpool dazu. Dann kam parallel diese Diskursphase, in der wir uns die Sinnfrage stellten: Was ist denn nun zeitgemäßes Musikfernsehen? Damals fing ja auch Wettbewerber MTV an, großflächig Musik durch Reality-Formate zu ersetzen.

War die Idee der VIVA Media AG und der damit verbundene Börsengang rückblickend eine Gute? Letztlich war das der Türöffner, dass am Ende Viacom übernehmen konnte…

Ja, aber es machte einfach Sinn, das fanden wir alle, zu diesem Zeitpunkt zu expandieren. Wir hatten ja allein schon durch den Satelliten-Feed, damals war es ja Eutelsat, eine Verbreitung in Osteuropa und wir wollten versuchen, aus VIVA ein Netzwerk von Sendern zu schaffen. Der Börsengang war das Vehikel, um an Kapital zu kommen. Das war meiner Meinung nach ein notwendiger Schritt für die Expansion

Damals gab es Spekulationen, dass auch ProSiebenSat.1 sich für VIVA interessieren würde. Es wurde dann Viacom. Wie bitter war es, von demjenigen gekauft zu werden, gegen die man ursprünglich gestartet ist?

Das war gar nicht bitter. Ich habe Viacom als sehr seriösen und zielorientierten Verhandler erlebt. Dazu kam damals noch der Gedanke: Wenn Viacom bereit ist, das zu tun, dann sind sie diejenigen mit dem einzigen weltweiten Musiksender also die, die am besten wissen, um was es geht. Deswegen erschien es mir damals konsequent.

VIVA ZWEI / Gorny

1997: Dieter Gorny mit den VIVA ZWEI-Moderatoren Marcus Kavka, Charlotte Roche, Rocco Clein (†).
(Foto: Franziska Krug / getty images)

VIVA hat in den 90er Jahren das Musikfernsehen inhaltlich geprägt, dann aber auch zum Leid aller zwischenzeitlich die Werbepausen voller Klingelton-Werbungen inklusive Crazy Frog und Co.. Hat diese nervtötende Werbung auch ihren Anteil am Niedergang des Musikfernsehens?

Nun, es ist wie so oft im Fernsehen: Am lautesten war die Kritik von denen, die es gar nicht gesehen haben, während die, die diese Werbungen gebucht haben, es ja immer wieder taten weil es offenbar funktionierte. Man kann sich das heute ja fast nicht mehr vorstellen, was das einmal für ein riesiger Markt war. Die junge Zielgruppe wollte mal genau das. Das trieb ja absurde Blüten: Da waren Menschen bereit für den Klingelton zu einem Song mehr Geld zu bezahlen als für den Song selbst. Wenn Sie mich fragen, ob ich die Werbungen toll fand? Nein, natürlich hat es mir nicht gefallen, wenn ganze Werbeblöcke voll davon waren. Aber der Crazy Frog trägt keine maßgebliche Schuld.

Sie sprachen eben eine Entwicklung des Musikfernsehens in den 2000er Jahren an: Es kamen immer mehr Reality-Formate und Dokusoaps.

MTV, eine der größten internationalen Marken schlechthin, wurde dermaßen in Coolness getränkt, dass sie kaum noch trocknen konnte. Auf der anderen Seite wurde immer VIVA als die nationale und später auch stärker europäisch werdende Alternative gesehen, die scheinbar aus einer ganz anderen Ecke kam aber in Wirklichkeit trafen sich VIVA und MTV schon sehr oft in der Mitte. Beide Sender standen immer vor der Herausforderung, dass Zuschauerinnen und Zuschauer auch schnell mal wieder weg sind, wenn ein Song nervt. Unsere Inhalte, die Musikvideos und auch kurze Beiträge, waren dafür ja wie gemacht. Natürlich hatte es da einen Reiz, längere Formate zu etablieren, um Zuschauer auch länger an sich zu binden.

Aber richtiges, reines Musikfernsehen machen heute dann andere: Deluxe Music ist damit sogar in einer etwas älteren Zielgruppe recht erfolgreich.

Die gibt es ja schon länger. Ich freue mich, dass sie sich etabliert und stabilisiert haben. Ich gönne Ihnen den Erfolg auch, aber das beantwortet nur die Frage, ob Musikfernsehen funktionieren kann, wenn es sich statt an die Jungen an frühere Zuschauer von Musikfernsehen richtet.

Richtig, aber ich frage mich gerade deshalb: Hätte deshalb nicht ein Sender wie VIVA ZWEI heute noch eine Chance?

Ich glaube wir verklären da die Erinnerung an eine tolle Zeit, aber im heutigen Medienkonsum würde uns die Zeit fehlen, auf das Programm zu warten, was wir wollen. Meinen ganz speziellen Musikgeschmack habe ich heute immer dabei. An kuratierten, aber jederzeit verfügbaren Angeboten mangelt es nicht. Die Idee, es noch einmal so wie früher zu machen, ist meiner Meinung nach etwas aus der medialen Zeitdynamik gefallen.

Herr Gorny, wir müssen mal einen Mythos aufklären: Es heißt VIVA sei eigentlich die Abkürzung für Videoverwertungsanstalt. Stimmt das eigentlich?

Das haben sich andere später überlegt. Der Name VIVA ist entstanden, weil wir - gleich euphorisiert von der Großartigkeit unserer Idee - einen Namen wollten, der auch international verständlich ist. Und unser größter Erfolg war dann der Spice Girls-Song „Viva Forever“ (lacht).

Das war ja das letzte Video im frei empfangbaren MTV bevor das zwischenzeitlich ins Pay-TV wechselte. Bin gespannt mit welchem Musikvideo VIVA sich jetzt final verabschieden wird. „Zu geil für diese Welt“, von den Fantastischen Vier, war damals der erste Clip. Würde irgendwie auch zur Einstellung passen.

Ich bin mir nicht sicher ob das noch jemanden interessiert. Mich treibt aber durchaus noch die Frage um, wie man in der heutigen Medienwelt junge Zielgruppen erreicht. Wir sprachen vorhin schon davon: Heute sind es ja eher technische Plattformen als sendungsbewusste Inhalteanbieter und da müssen wir in Deutschland bzw. Europa schauen, wie wir da nicht völlig abhängig werden vom Silicon Valley. Das finde ich sehr spannend. Immerhin: Spotify ist ja eine europäische Erfolgsgeschichte.

Man könnte sagen: Der Musik geht es sogar sehr gut, nur dem Musikfernsehen nicht mehr?

Kein übles Schlusswort. Der Musik geht es gut, sie hat ihre digitalen Hausaufgaben gerade noch rechtzeitig gemacht und Geschäftsmodelle entwickelt, in denen sie und die KünstlerInnen verdienen. Das trifft immer weniger auf den Mechanismus Fernsehen zu.

Herr Gorny, herzlichen Dank für das Gespräch.