Herr Beckmann, worin besteht in Ihren Augen die Hauptaufgabe des NDR Fernsehen?
Darin, sich in der Region zu verankern - wie für alle Dritten Programme. Wir haben kürzlich mit „Gigant des Nordens - Der Hamburger Hafen“ eine sehr aufwändige Dokumentation gesendet. Wir haben u.a. mit anspruchsvollen Computeranimationen die Geschichte des Hafens erzählt. So etwas kann sich das NDR Fernsehen nicht jede Woche leisten, aber solche Programme gehören auf den Sender, weil sie Wissen mit Heimatverbundenheit kombinieren und das in Optik, Technik und Erzählweise auf dem neuesten Stand. Und damit erreichen wir auch junge Zuschauer, bis zu acht Prozent Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen. Und 12 Prozent Marktanteil beim Gesamtpublikum haben uns zur Primetime im Norden zum Marktführer gemacht - mit einer Dokumentation! Es geht vielleicht nicht darum, das Rad neu zu erfinden. Wir müssen aber sicherstellen, dass unser Rad auf dem neuesten Stand ist.
Perlen wie diese Dokumentationen gibt es ja häufiger in den Dritten. Sie werden oft nur nicht gefunden. Und wenn selektive Presse und PR gemacht wird, um mal einzelne Werke hervorzuheben, dann beschweren sich doch sicher andere Programmbereiche.
Frank Beckmann: Nein, dafür gibt es ja einen Programmdirektor. Wir klären gemeinsam mit den Programmbereichsleitern, was Schwerpunkt ist in diesem Jahr. Das legen wir gemeinsam fest. Die Planung wird natürlich bei Bedarf angepasst. Mir ist eine Botschaft da sehr wichtig: Unsere wichtigste Aufgabe bleibt die regionale Information, die den Norden abbildet, die Bedürfnisse der Menschen ernst nimmt und bis hin zum klassischem, kritischem Journalismus reicht. So versuchen wir derzeit am Nachmittag, unsere Nachrichtenleiste zu stärken.
Das wäre dann der klassische Journalismus.
Frank Beckmann: Und zeitgleich brauchen Sie aber auch die Art von Information, die mit der Region verknüpft ist und dürfen nicht allein eine Großstadtperspektive einnehmen. Landwirtschaftliche Themen zum Beispiel sind ebenso wichtig. Auch dafür brauchen wir neue erzählerische Ansätze und Innovationen, die wir gezielt fördern. Und da darf und soll zuweilen auch ein Trecker durch das Bild fahren. Wir müssen im Programm abbilden, was für Menschen in unserem Sendegebiet eine Bedeutung hat. Und das spiegelt sich dann in unseren Innovationsbemühungen.
Wie geht der NDR Innovationen an?
Frank Beckmann: Innovation fällt nicht vom Himmel. Das ist etwas, was bei uns gut organisiert ist…
Ja? Sie unterbrechen?
Frank Beckmann: Kreativität gut zu organisieren, das klingt für viele wie ein Widerspruch in sich. Aber: Das NDR Fernsehen verfolgt bei Innovationen fast schon die Philosophie vieler Start-ups. Experimente sind unverzichtbar, Scheitern gehört dazu und macht uns besser. Man muss die Bedingungen für Neues schaffen. Wir haben einen Innovationstopf von rund viereinhalb Millionen Euro, den wir bei allen Sparrunden verteidigt haben. Damit machen wir nichts anderes als neue Formate zu entwickeln, die es so noch nicht gab bei uns. Das ist für ein regionales Programm schon sehr viel. Das, was sich als erfolgreich erweist, versuchen wir dann ins Regelprogramm und -budget wandern zu lassen. Das ist die eine Art, Innovation zu ermöglichen. Zudem ermutigen wir unsere Mitarbeiter, sich mit Ideen einzubringen Wir haben NDR intern schon zweimal einen Format-Wettbewerb ausgerufen und über 100 Programmideen eingesammelt, von denen wir die besten realisieren. Dank unseres Innovationstopfes muss sich dann niemand den Kopf machen, aus welchem Bereich das Budget kommt. Die Idee ist wichtig. Gerade weil es immer häufiger Formate gibt, die nicht mehr klar einem Genre zuzuordnen sind. Die dürfen doch nicht daran scheitern, dass jemand nicht weiß, wen er eigentlich ansprechen soll. So sind zum Beispiel „Das Experiment“ mit Linda Zervakis entstanden, das jüngst in zwei Folgen gesendet wurde.
Innovation geht bei den Öffentlich-Rechtlichen oft einher mit dem Wunsch der Verjüngung. Welche Zielgruppe haben Sie denn bei der Entwicklung von Formaten für das NDR Fernsehen im Kopf?
Frank Beckmann: Wissen Sie, ich mag Erfolg. Eine Erkenntnis, die ich in meinem Berufsleben gewonnen habe ist: Bediene zuerst die Zielgruppe, die du schon hast. Wenn das gegeben ist, dann kann man von dort aus die Angel auswerfen, um neue Zielgruppen zu erreichen. Der Effekt ist: Wer in seiner Kernzielgruppe erfolgreich ist, der erreicht damit meist auch schon sehr viele andere. Wir konzentrieren uns also nicht auf eine Verjüngung, weil nicht das Alter des Publikums, sondern der Erfolg entscheidend ist. Wenn „Gigant des Nordens“ zwölf Prozent Gesamtmarktanteil holt, dann zieht er automatisch viele junge Zuschauer an.
Klingt alles schön und gut. Aber nochmal: Sie müssen ja eine Vorstellung davon haben, wie Ihr Publikum aussieht und welches Sie im Kern erreichen wollen…
Frank Beckmann: Es ist jedenfalls nicht der gedachte 14-Jährige, sondern es sind Menschen knapp unterhalb des Durchschnittsalters unserer Zuschauer. Mich interessiert also: Was guckt der 45-Jährige, was guckt die 55-Jährige? An der Stelle können wir eher Menschen für uns gewinnen. Der Fernsehmarkt fragmentiert sich nun mal und wir können mit einem Sender nicht alle erreichen. Aber es gibt Formate, die so schräg und zugespitzt sind und die wir ohne strategische Absicht einfach deshalb produzieren, weil wir sie toll finden. Die werden nicht mit Altersvorgaben gemacht. Wenn wir Michel Abdollahi zum Interview mit Klaus Wowereit in ein U-Boot schicken und es „Käpt’ns Dinner“ nennen, beispielsweise. Oder als wir den „Tatortreiniger“ ausprobiert haben. Oder kürzlich „Geschichte eines Abends“. Fernsehen ist auch bei den Öffentlich-Rechtlichen keine Planwirtschaft.
Also käme für Sie keine Jugendoffensive in Frage, wie sie der WDR vergangenes Jahr probiert hat?
Frank Beckmann: Es steht mir nicht zu, die Strategie von Kollegen zu kommentieren. Sie haben damit ein starkes, unübersehbares Signal gesetzt. Wir verfolgen im NDR die Strategie: Programm für die Kernzielgruppe denken, das dann bei Erfolg in jüngere Zielgruppen abstrahlt. Da muss man dann vielleicht mehr über Protagonisten oder Bildsprachen nachdenken, aber der Markenkern muss nicht verändert werden.
Marco Otto: Das Ziel ist, Leuchtturm-Formate auch kontinuierlich anzubieten und nicht so lange mit Innovation zu warten, dass man ein Feuerwerk braucht, um überhaupt erst wieder wahrgenommen zu werden. Eine Ergänzung vielleicht noch zur Zielgruppen-Frage: Es gibt ein Genre, das die Brücke über alle Altersgruppen schlägt und das sind gut erzählte Service- und Verbraucher-Formate. Am Montagabend gelingt uns mit den „Ernährungs-Docs“ ein Erfolg in allen Altersschichten. Und zusammen mit anderen Formaten wie „Markt“ bieten wir da den gesamten Abend lang unsere Kernkompetenz.
Aber wie weit kann sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk denn in das leicht vermittelbare Infotainment eintauchen, ohne das zu machen, was man den Privaten lange als seichtes Infotainment vorgeworfen hat?
Frank Beckmann: Ich teile diese Beobachtung nicht. Auch in Kommerzformaten gibt es gute Informationsprogramme. Aber in der Breite und der Tiefe sehe ich die Schere eher weiter auseinanderklaffen und keine Annäherung. Investigative Recherche, Nachrichten, politische Information - da spielt der öffentliche-rechtliche Rundfunk in einer eigenen Liga. Wir müssen uns dennoch immer wieder auf den Prüfstand stellen und vor allen anderen Genres darüber nachdenken, wie wir Wissen und Information vermitteln. Das ist unsere Daseinsberechtigung. Und in der immer komplexeren Welt braucht es neue Ansätze, um mehr Menschen zu mehr Themen möglichst zugänglich zu informieren, auch um ein Gegengewicht zum Netz zu bilden, wo sich vermeintliche Information und falsche Wahrheiten schnell verselbstständigen. Das gilt auch für das NDR Fernsehen. Nehmen Sie „Panorama 3“, ein Format, das ein Boulevard-Magazin abgelöst hat und wöchentlich zeigt: Zupackender Journalismus wird von uns erwartet und vom Zuschauer honoriert.
Marco Otto: In einem Punkt würde ich Ihnen Recht geben: Während wir früher Wirtschaftsmagazine wie andere Dritte hatten, die vor allem Wirtschafts- und Sozialpolitisches in den Vordergrund gestellt haben, achten wir heute darauf, dass sich unsere Wissens- und Verbraucherformate am Alltag unserer Zuschauer orientieren und mehr Nutzwert enthalten. Wir haben diese Farbe ausgebaut mit dem Hintergedanken: Wie können wir unsere Zuschauer für den Alltag schlauer machen. Zum Umgang mit diesen Themen in unserem Programm betreiben wir auch umfangreiche Zuschauerforschung.
Frank Beckmann: Es gibt eben beide Aufgaben, die wir nicht gegeneinander stellen sollten. Infotainment ist der eine Aspekt, aber unser Ressort Investigation geht in Zusammenarbeit mit WDR und „Süddeutscher Zeitung“ gleichzeitig ja auch in die Tiefe. Das sind die beiden wichtigen Aspekte der Information für uns: Zugänglichkeit und Vertiefung.