Frau Ruck, Sie waren bereits Anfang der 90er Jahre während eines Volontariats in Moskau. Was fasziniert Sie so sehr an Russland?

Russland ist ein Land der Extreme. Die Russen sind die gastfreundlichsten Menschen, die ich kenne. Und doch können sie auf den ersten Blick auch sehr unfreundlich wirken. Hinzu kommt diese unfassbare Weite der Landschaft: Auf der einen Seite hat man ewiges Eis - in dem ich mal während einer Polarnacht drinsteckte und nicht mehr herauskam - und auf der anderen Seite gibt es Wüsten. Man fliegt von Moskau zehn Stunden, landet in Wladiwostok und die Menschen sprechen immer noch russisch. Das Leben ist sehr aufwendig. Man sagt immer: Ein Jahr zählt dort doppelt, weil man sehr viel Energie braucht, um den Alltag zu organisieren. So gesehen bin ich nun schon seit 30 Jahren da, obwohl es in Wirklichkeit erst rund 15 Jahre sind. (lacht)

Sie waren zwischendurch zwei Mal in den USA - und dennoch kamen sie immer wieder zurück.

Der Unterschied ist enorm. Die Amerikaner sind unglaublich freundlich und das ist auch ehrlich gemeint. Wenn man sie zu Hause besucht, hat man allerdings irgendwann den Eindruck, dass dort eine Glaswand ist, hinter die man einfach nicht kommt. Bei den Russen ist es genau andersherum: Die sind oft sehr abweisend, Nachbarn grüßen einen erst nach einem Jahr. Aber wenn sie beschließen, jemanden einzuladen, dann ist die Gastfreundschaft derart gewaltig, dass man ihr gar nicht mehr entfliehen kann.


Hat sich Russland seit Ihrem ersten Aufenthalt eher zum Positiven oder zum Negativen entwickelt?

Sowohl als auch. Vieles hat sich zum Positiven entwickelt. Früher ließ man sich selbst in Moskau noch Sachen wie Gummibärchen oder Zahnpasta aus der Heimat importieren. Jetzt gibt es alles - auch wenn es sehr teuer ist. Die Russen haben sehr viel mehr Möglichkeiten. Schauen Sie sich mal an, wie viele West-Autos inzwischen in Moskau unterwegs sind! Auf dem Land sieht es dagegen ganz anders aus. Obwohl Russland wegen seiner Rohstoffe sehr reich ist, gibt es in manchen Orten noch nicht mal eine Kanalisation. Außerdem ist viel von der alten Lebensfreude weg.

Woran machen Sie das fest?

Viele Menschen sind sehr viel zynischer und resignierter geworden, weil das Leben nur für eine bestimmte Schicht besser wird. Alles, was kreativ ist und sich verändern will, wird erstickt. Ich möchte nicht sagen, dass die Menschen unfrei leben, aber es gibt Grenzen, die sehr stark zu spüren sind. Und es gibt ein Problem, das sehr viel größer geworden ist und das jeder Russe spürt: Die Korruption ist gravierend gestiegen und allgegenwärtig.

Merkt man denn einen Widerstand?

Nein, die Russen haben sich da regelrecht reingefügt. Natürlich gibt es Kämpfer gegen die Korruption, aber viele davon werden für verrückt gehalten.

 Renommierte Journalisten, die man früher sehr geschätzt hat, sind plötzlich umgekippt und auf Linie.
Ina Ruck

Welche Entwicklung haben die russischen Medien genommen?

Die Medien hatten in den 90er Jahren unter Jelzin eine wahrhaft goldene Zeit. Da war alles erlaubt. Damals war es eher ein Problem, dass es überhaupt keine Regeln gab. Jeder hat die Freiheit genossen. Da wurde alles thematisiert, manchmal auch über die Stränge. Unter Putin ist das sehr stark eingeschränkt worden.

Welche Rolle spielt das Fernsehen?

Das Fernsehen ist immer noch das wichtigste Medium im Land. Viele Russen haben Internet, aber das Fernsehen ist das Vaterunser. Das muss man jeden Tag einmal beten - beziehungsweise einschalten, vor allem auf den Dörfern. Inzwischen sind jedoch die wichtigsten Sender staatlich oder halbstaatlich und damit beinahe gleichgeschaltet. Es gibt nichts, was aus der Reihe tanzt, sieht man mal von zwei Internetsendern ab, deren Reichweite aber verschwindend gering ist. Die lässt Putin als Feigenblatt weitersenden. Renommierte Journalisten, die man früher sehr geschätzt hat, sind plötzlich umgekippt und auf Linie. Das hat sicherlich viel mit Geld zu tun, aber auch mit Resignation.