„Das ist absolut unbritisch, was hier im Moment passiert“, sagt Annette Dittert und setzt Wasser auf für Tee. Wir wollen reden über die Eskalation der medialen Debatte über das EU-Referendum. Es ist der Samstagnachmittag und wir sind auf ihrem Hausboot - der Emilia - auf dem Regent Canal in Little Venice, einem gediegenen Stadtteil im Nordwesten der britischen Hauptstadt. Die Hausboote hier sind das Alternativste an einer Gegend mit sehr vielen schicken Häusern, die nicht nur Touristen sondern auch gut betuchte Ausländer ganz putzig und so britisch finden. Sie kaufen Londoner Immobilien und sind dann ein oder zwei Wochen im Jahr da. Die Stadt wird Straßenzug um Straßenzug in einigen Vierteln zur Geisterstadt der Reichen. Das ist ein Thema über das sich Dittert normalerweise sehr aufregt, wie jeder weiß, der der ehemaligen Londoner ARD-Korrespondentin über einen ihrer Social Media-Kanäle folgt.
Doch in diesen Tagen überschattet das EU-Referendum alles. Es geht um das große Ganze. Ein Thema, das die TV-Journalistin beim Eingießen des Tees mit dem Kopf schütteln lässt. Wir setzen uns mit dem Tee an den Bug des Bootes. „Das Land ist eigentlich eins der tolerantesten Länder, das ich kenne, wenn es um Immigration und Integration geht. Kein anderes Land in Europa ist so international.“ Und trotzdem ist der Wahlkampf um die Abstimmung über den Brexit - wie es sich so schön knackig und Schlagzeilen-tauglich formulieren lässt -„sehr seltsam geworden. Hasserfüllt und emotional. Die Auseinandersetzung wurde immer schriller und lauter, immer populistischer. Da kam plötzlich ein xenophobes, rassistisches Element hinein und auch dieses alte anti-deutsche Ressentiment ist wieder wach geworden. Das brodelt noch auf kleiner Flamme“, sagt Dittert „aber man spürt es wieder.“
Unter der Woche arbeitet die gebürtige Kölnerin für den NDR in Hamburg. Im Juli allerdings übernimmt Sie vertretungsweise für einen Monat das ARD-Studio in Peking. Kurz zurück in den Korrespondenten-Job. Um weiterhin ein Standbein in London zu haben, hat sich Annette Dittert ihr eigenes Hausboot bauen lassen. Als Pendlerin zwischen EU und UK hat das anstehende Referendum so natürlich auch eine ganz persönliche Note, wie sie selbst sagt. „Die Vorstellung, dass die Briten für den Brexit stimmen könnten - das verändert das Lebensgefühl der Briten und aber vor allem das derjenigen, die aus Europa kommen und hier leben. Ich glaube ich würde mich nicht mehr wirklich willkommen fühlen“, sagt sie. Immer mal wieder fahren bei unserem Gespräch Hausboote vorbei und ein Boot weiter bearbeitet ein älterer Herr sein schwimmendes Zuhause mit einem Hochdruckreiniger.
Spricht man unter Nachbarn hier auf dem Kanal eigentlich über das Referendum? Oder schweigt man dazu lieber? „Es ist auch hier unter Nachbarn ein Thema. Aber es ist ein gefährliches Thema geworden, weil man sich sehr schnell in die Wolle kriegt“, gibt Dittert zu. „Die Emotionen kochen da hoch. Die meisten meiner Nachbarn sind für ‚raus‘, so mein Eindruck. Hier gibt es viele Menschen, die nicht viel Geld haben und dem Establishment einen Denkzettel verpassen wollen. Und dann heißt es irgendwann auch schon mal: Du als Deutsche hast uns hier gar nichts zu sagen. Da rede ich dann doch lieber übers Wetter mit ihnen.“ Die Sache mit dem Denkzettel fürs Establishment verbunden mit Weltschmerz ist eine wiederkehrende Stimmung. Es erinnert mich an frühere Gespräche mit ihr - einer Journalistin, die zu jenen gehört, die übrigens auch mal offen sagen können: Ich verstehe die Welt gerade nicht mehr.
Vor knapp zehn Jahren sprachen wir das erste Mal miteinander. Da war Dittert ARD-Korrespondent in New York, einer zweifelsohne aufregenden Stadt. Die Nadel im Heuhaufen suchen - also die lohnenden Geschichten einer Metropole abseits jener Storys, die sich durch Größe, Bedeutung und Faszination förmlich aufdrängen - hatte der ehemaligen Leiterin des Warschauer Studios beruflich großen Spaß gemacht. Privat aber fühlte sich Annette Dittert nie zuhause im Big Apple. Nie so, wie es ihr in London schon am ersten Tag ginge. Das erzählt sie zumindest als wir uns zum zweiten Mal treffen - in einer Seitenstraße mitten in der Londoner Innenstadt; im ARD-Studio London. Auch damals waren die Briten geschockt über sich selbst - und die ganze Welt ebenso. In mehreren Stadtteilen von London brach sich - in jenem August 2011 - ein enormer Frust der jungen Generation los, der sich an vermeintlicher Polizeiwillkür entzündete und in so auf der Insel nie zuvor gesehenen Szenen des Vandalismus mündete. Geschäfte wurden geplündert und Häuser in Brand gesetzt.
"Da ist ein Klima entstanden, das ich so nicht erwartet hätte."
Damals wie auch heute ist Großbritannien fassungslos. In diesen Tagen liegt das am Attentat auf die Labour-Politikerin Jo Cox, der das Land eine Woche vor der Abstimmung hat inne halten lassen. Doch diesmal hat die Fassungslosigkeit noch eine ganz andere Dimension: Es sind die britischen Medien, die zum Teil in einem bisher ungeahntem Ausmaß mit haltlosen Thesen, wilden Spekulationen und Hysterie zum eigentlich gefährlichen Multiplikator wurden und die vergiftete Stimmung vor dem EU-Referendum ohne jede Zurückhaltung für sich ausnutzten. „Die britischen Medien sind total außer Rand und Band. Vor allem die Boulevardblätter hetzen und lügen, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte“, sagt Dittert. „Und ich habe mich an einiges gewöhnt in der britischen Presse, was das angeht, über die Jahre. Und das im Mutterland der Demokratie und des Parlamentarismus. Da ist ein Klima entstanden, das ich so nicht erwartet hätte.“
Natürlich. Es gibt nicht „die Medien“. Gemeint sind in erster Linie die sehr präsenten Tabloid-Tageszeitungen. Aber die von dort gesenkte Hemmschwelle haben auch einige Tageszeitungen und Medien inzwischen übersprungen, von denen es Dittert vorher nicht gedacht hätte. Und wer mahnt die Medien zur Vernunft? Dittert: „Das hat noch nie jemand kontrolliert. Als ich hier ankam als Korrespondentin hab ich mal gesagt ‚Guck mal, ist doch ne tolle Story die die ‚Sun‘ da hat‘ und da schauten mich meine Kollegen an und sagten: ‚Das stimmt im Leben nicht. Das ist die Sun‘. Aber das ist in letzter Zeit noch schlimmer geworden. Millionen von Türken würden kommen, wenn Großbritannien in der EU bleibe, weil die Türkei ja kurz vor einem Beitritt stünde. Da kann David Cameron noch so oft auf die Realität verweisen - es wird einfach behauptet.“