Das "Größte TV-Experiment aller Zeiten" umfasst ungefähr den Platz zweier Fußballfelder, ist aber nicht ganz so eckig und liegt rund vierzig Kilometer von Berlin entfernt in einem brandenburgischen Waldstück bei Königs Wusterhausen. In den 20er Jahren ging hier der erste staatliche Kurzwellensender Deutschlands auf Sendung, vor fast 80 Jahren wurden von hier die Olympischen Spiele per Kurzwelle übertragen. Heute stehen auf dem Gelände zwei kleine Dörfer: eins wie aus einem anderen Jahrhundert, und eins aus übereinandergestapelten Containern. Wenn es nach dem Bauherrn Sat.1 geht, kann hier jetzt ruhig ein weiteres Mal Rundfunkgeschichte geschrieben werden.
Am übernächsten Montag geht erstmals die Realityshow "Newtopia" auf Sendung, live aus dem Wald. 15 Kandidaten, "Pioniere" genannt, sollen sich innerhalb eines Jahres ein neues Leben aufbauen, mit eigenen Regeln, eigener Melk- und Muskelkraft. 5000 Euro Startkapital stehen zur Verfügung. Alles, was darüber hinaus benötigt wird, müssen sich die "Newtopia"-Bewohner selbst, nun ja: erackern. Es gibt einen kleinen Stall mit zwei Kühen und einigen Hühnern, eine leere Scheune mit Dach über dem Kopf, eine Anbaufläche für Obst und Gemüse, einen Teich mit Forellen, unbegrenzt viel Matsch. Und ein großes Eingangstor, das die Mutigen von der Außenwelt trennt. So lange, bis sie von ihren Mitbewohnern in ihr altes Leben zurückgewählt werden.
"Alles, was passiert, ist authentisch."
Sat.1-Unterhaltungschef Taco Ketelaar
Sat.1 setzt mit der Show alles auf eine Karte: In den Niederlanden ist die von Alleserfinder John de Mol erdachte Sendung (unter dem Namen "Utopia") zum Hit geworden – zum "Game Changer", wie Sat.1-Unterhaltungschef Taco Ketelaar bei der Vorab-Besichtigung zwei Wochen vor Sendestart sagt. Die US-Variante allerdings ist gefloppt. Davon will sich bei Sat.1 aber niemand beirren lassen: Das deutsche "Newtopia" soll kein "Big Brother"-Abklatsch sein, eher eine Art Real Life Soap. Ketelaar verspricht: "Alles, was passiert, ist authentisch." Das bedeutet: Kommunikation zwischen "Pionieren" und Fernsehmachern ist nicht vorgesehen. Es gibt keine Stimme, die irgendwelche "Challenges" oder Bestrafungen ankündigt, kein Dschungeltelefon für Einzelinterviews – aber 105 Kameras, die auf dem eingezäunten Gelände jede Regung aufnehmen.
Anders als im RTL-Dschungel sind die meisten davon ein sichtbarer Teil der Kulisse, untergebracht in taucherglockenartigen Kugeln, um vor Wind und Wetter geschützt zu sein. Drinnen sind die Gehäuse mit Holzimitatfolie beklebt, um nicht so aufzufallen. In den Bäumen hängen Mikrofone mit puscheligem Windschutz, die wiederum von Plastikkappen vor Nässe geschützt werden. Das komplette Gelände ist untertunnelt, um Kameras notfalls neu justieren und verkabeln zu können. "Das ist eine riesige Herausforderung", sagt Projektleiter Matthias Wolf von Talpa Germany. "Wir haben hier einen kompletten Sendebetrieb hingestellt."
Leider ist das voll vernetzte Zuhause für die eigentlichen Bewohner zum Start wenig komfortabel. Immerhin fehlen Toilette, Heizung und Dusche, die allesamt selbst gebaut werden müssen. Auch die beiden Neubauten lassen wenig von der Technikausstattung erahnen: Stall und Scheune sind nach ihrer Errichtung von Malern aus den Babelsberger Filmstudios so lange verschönert worden, als hätten sie über Jahrzehnte Patina angesetzt. Deko-Backsteine wurden zurechtgerumpelt, Scheiben mit Dreck dekoriert, an den Holzwänden kleben Zeitungsreste von früher. Nur das schicke Dach mit seinen metallenen Verstrebungen, das die Zuschauer eher nicht zu sehen bekommen werden, erinnert daran, dass das alles noch nicht ewig vor sich hingammelt.
Eine "Big Brother"-Hölle ist der Hof aber keineswegs geworden. Nichts ist eklig, bloß: urig. Es soll halt ein Neuanfang werden. Da wäre es kontraproduktiv, wenn alles aussähe wie gerade frisch im Baumarkt zurechtgesägt. Würde man auch dem restlichen Sat.1-Programm so viel Mühe fürs Detail ansehen, dem Sender müsste es prächtig gehen. In "Newtopia" wird zumindest vor dem Sendestart nichts dem Zufall überlassen. Damit die Wiese jetzt schön grün ist, wurde im vergangenen September ausgesät. Und der Acker ist importiert, weil auf dem Brandenburger Sandboden sonst eher selten Tomaten wachsen. Aber das waren noch die kleinsten Herausforderungen.