Foto: DWDL.de/Watchberlin.deLieber Herr Martenstein, die Berliner Zeitung hat mal behauptet, Sie seien „Kult“. Wie fühlt sich das an?

Ich weiß nicht, ob das stimmt. Deshalb fühlt es sich auch nicht an.

Sie wissen nicht, ob die Berliner Zeitung damit richtig liegt?

Was bedeutet dieser Begriff? Er wird inflationär verwendet. Wenn das heißt, dass meine Arbeit von ein paar Leuten gemocht wird, dann freut mich das.

Scheuen Sie sich vor einer Behandlung als „Kultobjekt“? Gibt es Martenstein-Groupies?

Davon ist mir nichts bekannt. Kult ist ein religiöser Begriff. Wenn man einen Autor mag, wird man ihm nicht gleich eine quasireligiöse Verehrung angedeihen lassen. Meine Arbeit erntet ein gewisses Echo, und wenn ich eine Lesung mache, habe ich ein Publikum.

Wie sehen Ihre Zuhörer aus?

Ich mache die beglückende Erfahrung, dass ein breites Spektrum von Zuhörern zu meinen Lesungen kommt. Ältere, Jüngere, in Anzug oder nicht, mit oder ohne Krawatte. Ich habe keine Zielgruppe.

In der Kolumne „Waldbröl“ haben Sie beschrieben, wie Sie nach einer Leseveranstaltung im Oberbergischen mit einer sehr komplizierten Frage aus dem Publikum konfrontiert wurden. Man versuchte zu verhindern, dass Sie zu schnell von der Bühne treten. Was wollen Ihre Zuhörer nach einer Lesung von Ihnen wissen?


Die häufigste Frage ist: „Wie ist das Verhältnis zwischen Realität und Erfindung in Ihren Texten?“, „Haben Sie das wirklich alles erlebt?“ – die Antwort lautet: Im Prinzip erfinde ich nichts. Bisher war es nie nötig. Natürlich spitze ich Dinge zu und lege sie zu einer Geschichte zusammen. Das prozentuale Verhältnis von Erlebtem zu Erdichtetem ist mindestens 90 zu 10.

Dann erleben Sie eine ganze Menge.

Jeder erlebt eine Menge. Mein Leben ist wahrscheinlich nicht viel ereignisreicher als das meiner Nachbarn. Ich habe mir den Alltag als einen Steinbruch eingerichtet, aus dem ich mir Stücke herausbreche, um aus ihnen etwas zu meißeln. Meine Texte sind nicht sonderlich exotisch. Die Grundlage bilden Erfahrungen, die jeder macht - wie das Älterwerden.

Sie haben sich mal als den einzigen „Chronisten des alternden Deutschland“ bezeichnet.

Als den einzigen nicht, dazu fehlt mir der Überblick…

Sie sagten aber, dass sich außer Ihnen niemand dazu bekenne.

Ja, das habe ich bemerkt. Nun ist es aber so, dass alle Menschen ununterbrochen älter werden. Ob sie 70 sind oder 20. Das ist eine Erfahrung der Menschheit, eine Gesamterfahrung, über die aber viel weniger geschrieben wird als über andere Erfahrungen, zum Beispiel über das Kinderkriegen: Es gibt wahnsinnig viele Eltern-Kind-Bücher, ich habe ja auch eines geschrieben. Es wird unendlich viel Text über die Liebe fabriziert, über Tod oder Krankheit. Weit mehr als über den Prozess des Älterwerdens.

Weigern Sie sich, Themen auszuklammern?


Das ist ein interessanter Punkt. Ich versuche, recht ungefiltert aufzuschreiben, was ich denke. Manchmal sagen mir Leser, dass ich Dinge schreibe, die sie so denken, die sie aber noch nicht gedruckt gesehen haben. Das bedeutet auch, dass ich nicht allzu viel Zeit für die Frage aufwende, wen ich beleidigen könnte oder welches ungeschriebene Gesetz ich möglicherweise verletze.

Diesen Vorsatz hat auch Maxim Biller bei „Esra“ umgesetzt. Ihm wurde die Veröffentlichung seines Romans untersagt. Haben sich schon Menschen auf Grund von Textpassagen von Ihnen losgesagt oder sind dauerhaft beleidigt?

Die Erfahrung, dass jemand beleidigt ist, mache ich oft. Ich sage ganz unironisch: Darüber bin ich traurig. Ich möchte niemanden beleidigen, niemandem wehtun, aber ich will auch möglichst ehrlich schreiben. Ob jemand aufgrund eines Textes dauerhaft den Kontakt abgebrochen hat? Ich bin mir nicht sicher. Könnte schon sein.

Legen Sie auch mal aus Skrupel ein Thema in die Schublade?

Ja. Manchmal wird die Versuchung dann übermächtig, und ich setze mich über die Skrupel hinweg. Da handle ich mir dann Ärger ein, aber das ist notwendig.

Haben sich aus publizistischen Auseinandersetzungen auch echte Gegnerschaften entwickelt? Haben Sie Feinde?


Ich habe Wiglaf Droste mal in einer Kolumne angegriffen, und er ballerte zurück, wie es seine Art ist. Das ging dann hin und her. Darüber hinaus gab es die Auseinandersetzung mit einem Spiegel-Kulturchef, dessen Name mir gerade entfallen ist. Das ist ein Privileg: Sich Gegner – nicht Feinde – aussuchen und persönlich angreifen zu können. Mich reizen Gegner in Macho-Pose. Revolverhelden, die so leicht nichts umpustet, und die, wie Herr Droste, pausenlos andere Leute beleidigen. Breitschultrige, unter Gewichtsproblemen leidende Journalisten sind gute, wehrhafte Gegner.

Seit einiger Zeit können wir Sie in „Martenstein!“ auf WatchBerlin in Ihrer Küche sitzen sehen. Sie moderieren Ihr persönliches Videoblog. Das machen neuerdings viele Topjournalisten – warum nehmen Sie an diesem Trend teil?

Weil ich gefragt wurde. Das ist immer so bei mir. Gegen den Videoblog habe ich mich relativ lang gesträubt, weil ich Angst hatte, mich zu inflationieren und den Leuten irgendwann auf die Nerven zu gehen. Außerdem habe ich einen Kannibalisierungseffekt befürchtet – dass ich zu viel abliefern muss und mit den Ideen nicht mehr nachkomme. Inzwischen habe ich aber festgestellt, dass mir dieses Medium beim Schreiben nicht in die Quere kommt.

Betrachten wir die Videoblogs als ein neues Produkt. Matussek, Broder, Jessen setzten sich als „Talking Heads“ vor eine Kamera und erzählen, was ihnen im Redaktionsbüro oder der Wohnküche so in den Sinn kommt. Sie haben das „Tagebuch eines Endverbrauchers“ geschrieben. Erklären Sie mir, welchen Mehrwert uns dieses Produkt bringt.

Der Mehrwert besteht zunächst darin, dass die Leute jene Autoren nun sehen können, von denen sie bisher nur die Texte kannten. Damit rücken sie uns näher. Der kulturelle Mehrwert besteht darin, dass wir es hier mit gesprochener Sprache zu tun haben, die nicht von Telepromptern abgelesen wird. Der Videoblog kultiviert die klassische freie Rede, so wie sie schon im Forum Romanum kultiviert wurde. Diese freie Rede hat es vor dem Internet in unserer Kultur kaum mehr gegeben. Es gab die Podiumsdiskussion und die Talkshow als dialogische Formen, aber die freie Rede über ein freies Thema unterscheidet sich eben deutlich von der Talkshow. In der freien Rede geht es um Rhytmik, Gestik, Einsatz des Körpers.

Zu einer Rede gehört in der Regel aber auch eine Debatte. Ijoma Mangold hat in der SZ die Selbstreferentialität dieser Videoblogs kritisiert, die Ichbezogenheit. Ganz ehrlich: „Brummen“ Sie manchmal „vor Selbstgenuss“?


(lacht) Nein, vor der Kamera noch nicht. Aber diese Kritik läuft ja auf den Vorwurf der Selbstdarstellung und der Eitelkeit hinaus. Das kann man mit dem gleichen Recht auch einem Schauspieler vorwerfen. Der Journalismus hat sich dahingehend verändert, dass er nicht mehr nur in erster Linie Überbringer von Nachrichten ist, weil die Nachricht durch Überproduktion relativ wertlos geworden ist. Die Journalisten verkaufen mehr und mehr Analyse und Unterhaltung. Die Veränderung des journalistischen Marktes hat einen Druck zur Folge, sich zurWare zu machen.

Ist Ihre Ware nicht mehr der Text?

Jeder Autor ist doch eine Inszenierung. Es gibt die Charaktermaske des ernsthaften, grüblerischen Leitartiklers. Die des spritzigen Feuilletonisten. Die des Krawallmachers. Wenn man anfängt, sucht man sich eine journalistische Charaktermaske aus.

Im Videoblog haben die Autoren dann aber nicht mehr die Möglichkeit, den Text allein wirken zu lassen. Außerdem bewegen sie sich auf einem Terrain, das gar nicht so sehr ihrem Können entspricht. Ein Autor hat doch nie gelernt, wie er vor einer Kamera agieren muss.

Ja, wir machen eben was Neues! Vielleicht werden wir im Laufe der Zeit auch besser. Und eines muss man doch festhalten: Ein Talking-Heads-Kommentar im Internet ist besser als jeder gesprochene Kommentar bei den „Tagesthemen“, der vom Teleprompter abgelesen wird. Weil ein Videoblog authentischer ist. Und Authentizität ist ein gefragtes Gut.

Was versprechen Sie sich selbst von WatchBerlin? Holtzbrinck hat dieses Portal mal gestartet, um den User Generated Content des ach so kreativen Berlin abzuschöpfen. Nun gibt es aber hauptsächlich selbstproduzierte Beiträge und – Videoblogs von Journalisten.

Ich bin ein untypisches Publikum. Neu und spannend für mich ist das direkte Feedback auf die Kommentare. Und als Journalist interessiere ich mich vor allem für die anderen Journalisten.

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Wie gefallen Ihnen die Beiträge von Herrn Friedman?

(lacht) Tja, da hab ich wieder ein schönes Beispiel für Selbstreferentialität: Ich hab in einem Blogbeitrag mal auf Friedman reagiert und mich ein bisschen über ihn lustig gemacht.. Er hatte sich in seinem Videoblog über dopende Radfahrer echauffiert. „Schande! Schande! Schande!“ schrie er mehrfach. Da fiel mir auf, dass er selbst mal ein paar Probleme mit Doping hatte. Nicht, dass ich Friedman bis ans Ende aller Tage damit konfrontieren will. Aber vielleicht sollte er in dieser Frage den Zeigefinger nicht zu hoch heben.

Das klingt alles so, als seien die Videoblogs ein lustiger Spielplatz für Journalisten, auf dem sie sich endlich mal richtig austoben können.

Ich glaube, eine Reihe von Kollegen gehen das recht locker an und glauben, im Internet käme es nicht so drauf an wie im gewohnten Medium mit Hunderttausenden von Lesern. Das ist gefährlich.