Bei Dokus, die sich Bereichen oder Menschen widmen, mit denen man sich selbst vorher nur oberflächlich auseinandergesetzt hat, erwartet man oft einen Aha!-Effekt. "Aha! Das funktioniert ja doch anders, als ich gedacht hatte." Oder "Aha! Dieser Star ist ja doch anders drauf, als ich dachte." Doch die Dokuserie "The Last Dance" baut auf etwas anderes: Ja, es geht um eine mega-berühmte Person - Michael Jordan. Aber nicht darum, das "wahre" Gesicht dieser Person zu zeigen. Sondern einfach nur darum, Michael Jordans sportlich erfolgreichste Jahre im Detail nachzuzeichnen.
Nach zehn Folgen "The Last Dance" weiß ich, was ich früher schon ahnte: Der charismatische und bei Fans und Sportexperten weltweit unglaublich beliebte Michael Jordan war als Spieler ein fieser Sack. Im Training gegenüber seinen Mitspielern bei den Chicago Bulls und auf dem Feld gegenüber den Gegnern. Ob er das auch privat war? Das lässt die Doku offen, das fragt sie nicht einmal - und das ist gut. Denn das spielt keine Rolle für das, was hier erzählt werden soll. Nur dann, wenn es für seinen sportlichen Werdegang relevant ist, kommt das Private ins Spiel. Die enge Beziehung zu seinem Vater, Gerüchte um Spielsucht, seine Begeisterung für Golf. Doch nur schlaglichtartig und nur an dem Punkt in der Dramaturgie, an dem es nötig ist, um bestimmte Ereignisse zu verstehen. Wir erfahren nichts über mögliche Freunde, über seine Ex-Frau, seine Ehe, seine Kinder. Allerdings wird hier auch deutlich: Alles andere als Basketball ist für ihn zwischen 1984 und 1998 Nebensache gewesen. Aber auch das ist nicht überraschend - bei einem Sportler auf diesem Mega-Niveau. Ebenfalls nicht überraschend: Was für harte Arbeit es für ihn war - auf dem Platz, im Training. Außerdem: die Belastung, als damals bekanntester Sportler der Welt immer und überall im Mittelpunkt zu stehen, wenn Tausende Fans ihm auflauern oder Hunderte Reporter und Reporterinnen.
Für Menschen, die sich auskennen, hat die Koproduktion zwischen dem US-amerikanischen Sportsender ESPN und Netflix vermutlich brisante Details zu bieten. Und auch an mir ist nicht vorbeigegangen, dass hier Film-Material aus der letzten Bulls-Saison mit Michael Jordan zu sehen ist, das erstens sehr nah dran ist an allem rund um Michael Jordan und dem Team und zweitens bisher noch nicht veröffentlicht wurde. Aber beides allein reicht nicht aus, um Faszination in mir zu schüren.
Und dennoch habe ich die Sportdoku gespannt verfolgt. Das hat einerseits damit zu tun, dass ich in meiner Jugend in den 90ern fünf Jahre lang Basketball im Verein gespielt und mich in dieser Zeit auch für die US-amerikanischen Basketball-Teams der National Basketball Association (NBA) und die Mannschaften der deutschen Basketball-Bundesliga interessiert habe. Natürlich kenne ich auch jetzt noch die Namen der wichtigsten Spieler von damals und wo sie gespielt haben. Doch ich war nie ein Superfan, selbst meine Basketballschuhe waren keine Air Jordans von Nike, sondern schnöde Converse, weil ich die einfach bequemer fand. Mein früheres Interesse an der NBA hätte also nicht ausgereicht, dass ich meine derzeit sehr knappe Zeit damit verbringe, um zehn Folgen Sportgeschichte zu schauen, deren Protagonisten und Ausgang ich grob kenne.
Andererseits: die hohe Qualität dieser Doku. "The Last Dance" geht in die Tiefe und gleichzeitig in die Breite, um ein so detailliertes Bild zu zeichnen, dass es eine wahre Freude ist. Viele Wegbegleiter von Michael Jordans sportlichem Erfolg kommen nicht nur zu Wort, sondern ihre Geschichten bekommen den nötigen Raum - weil auch ihre Geschichten entscheidend waren für den Erfolg. In die Tiefe und die Breite zu gehen, birgt die Gefahr des Zuvielerzählens, was sich wiederum in Langeweile beim Publikum äußern kann. Doch hier ist die Dramaturgie der gesamten Serie so exzellent aufgebaut, dass mir erst nach den Folgen auffällt, mit wie vielen Details ich hier überhäuft wurde. Und selbst das Problem, dass man bei den vielen NBA-Spielen in den unterschiedlichen Jahren, in die man in einer Folge geschickt wird, die Übersicht verlieren könnte, wird durch die Binnen-Dramaturgie der einzelnen Folgen aufgefangen.
Das große Ganze wäre nur halb so schön, wenn es nicht zwischendrin auch immer wieder kleine Geschichten gäbe, die man rauspicken und weitererzählen kann. Zum Beispiel die, als Badboy Dennis Rodman auf Sauftour nach Las Vegas geht und dann nicht zum Training auftaucht. Oder als Michael Jordan eigentlich für Adidas werben wollte, seine Berater aber gerne Nike als Werbepartner wollten - und dann seine Mutter eingegriffen hat. Oder dass Michael Jordan, wenn er bei bestimmten Spielen Motivationsprobleme hatte, sich an kleinen vermeintlichen Feindseligkeiten hochzog. Oder dass Michael Jordan verdammt nachtragend ist. (Keine Sorge, das hier sind nur Teaser, die überraschenden Wendungen in diesen kleinen Geschichten habe ich nicht verraten.)
Kurzum: Diese Sportdoku war mir jede Minute wert, sie hat mich unterhalten, hat mich fasziniert und war spannend. Und sie hatte den schönen Nebeneffekt, dass ich mich an meine eigene Basketballzeit erinnert habe. Wie viel Spaß mir dieses Spiel immer gemacht hat. Wie sehr ich es genossen habe, bei Bundesliga-Spielen in Gießen oder Leverkusen im Publikum zu sitzen und anzufeuern. Und wie schade es ist, dass ich diese Basketball-Begeisterung unterwegs irgendwo verloren habe, zuletzt flammte sie auf, als Dirk Nowitzki mit den Dallas Mavericks 2011 die NBA-Finals gespielt hat. Na, vielleicht schaue ich mir demnächst mal wieder ein Spiel im Fernsehen an. Also, in der Nach-Corona-Zeit, natürlich.
"The Last Dance" ist auf Netflix verfügbar.