Ich ärgere mich beim Gucken von Serien regelmäßig darüber, wie häufig achtlos mit Gewalt gegen weibliche Figuren umgegangen wird. Namenlose weibliche Mordopfer, die aufwändig verstümmelt wurden, über die man im späteren Verlauf der Geschichte aber nur wenig erfährt. Weibliche Nebenfiguren, die nur darüber definiert werden, dass sie in Angst vor einem Gewalttäter leben. Und, was mich am meisten aufregt: Vergewaltigungsszenen, die nur ins Drehbuch geschrieben werden, weil sie die Geschichte voranbringen oder weil sie bestimmte Verhaltensweisen von weiblichen Figuren in der Gegenwart erklären. Im Englischen würde man da "Lazy storytelling!" rufen. Einen passenden deutschen Begriff habe ich leider nicht gefunden, daher umschreibe ich es folgendermaßen: Diese Art, über Vergewaltigung zu schreiben, ist bequem, einfallslos, billig, flach, behäbig, abgeschmackt.*
Geschichten und Entwicklungen lassen sich auch anders und einfallsreicher voranbringen, man muss nur mal ein bisschen länger darüber nachdenken - oder mit Kollegen und Kolleginnen darüber diskutieren. Das gilt genauso für Hintergründe von Frauenfiguren: ein überhöhter Gerechtigkeitssinn, Ängste, Rachgelüste, Düsternis lassen sich auch anders herleiten. Einfach mal ein bisschen länger darüber nachdenken. (Und nein, ich widerstehe jetzt der Versuchung, mich auch noch ausführlich über die Darstellung von Gewaltszenen gegen Frauen aufzuregen. Das hebe ich mir für einen anderen Text auf.) Vergewaltigung ist eine schwer traumatisierende Erfahrung, die die betroffenen Menschen nachhaltig auf verschiedenen Ebenen verändert. Aber so eindimensional und zielgerichtet, wie Vergewaltigungsszenen häufig in Drehbüchern eingesetzt werden, wird diese Erfahrung banalisiert. Denn den Figuren wird verwehrt, mit dieser Erfahrung in ihrer furchtbaren Gesamtheit umzugehen.
Aber es gibt auch Serien, die das Thema angemessen behandeln - glücklicherweise. Ein besonders gutes Bespiel ist "Unbelievable", eine neue Netflix-Serie. Denn hier steht die Vergewaltigung im Mittelpunkt: Welche Folgen sie für die betroffenen Frauen hat, wie schwierig die Ermittlungen sind und welche Strukturen die Ermittlungen zusätzlich erschweren. Dem Täter wird wenig Platz eingeräumt, den Opfern dafür umso mehr. Und ja, eine solche Ermittlung kann mindestens so spannend wie die schon allzu oft gesehene Jagd nach einem Serienkiller erzählt werden - wenn man die Figuren tiefgründig und ambivalent schreibt. "Unbelievable" beruht auf einer wahren Geschichte: eine junge Frau, die eine schwierige Kindheit hatte, zeigt eine Vergewaltigung an.
- Achtung, Spoilerwarnung! In den folgenden drei Absätzen werden wichtige Entwicklungen für "Unbelievable" vorweggenommen. Wer weder die Serie noch die wahren Begebenheiten kennt, sollte sich gut überlegen, ob er oder sie weiterlesen will. -
Es finden sich kaum Spuren, deshalb glauben ihr die Ermittler nicht. Die junge Frau, fast noch ein Mädchen, widerruft kurz darauf ihre Aussage und gibt an, sie hätte sich das Verbrechen nur ausgedacht. Sie wird wegen Falschaussage angeklagt und verurteilt. Erst als ein paar Jahre später in einem anderen US-Bundesstaat ein Serienvergewaltiger gefasst wird, kommt ans Licht, dass sie sein erstes Opfer war. 2015 haben Journalisten von ProPublica die Geschichte der jungen Frau an die Öffentlichkeit gebracht. Daraus eine TV-Serie zu machen, ist ein schwieriges Unterfangen, die Pathosgefahr hoch.
Doch bei "Unbelievable" funktioniert es, ohne in Kitsch, Schwarz-Weiß-Malerei oder übertriebene Schuldzuweisungen abzugleiten. Was wir hier sehen, sind eigentlich zwei Serien. In der einen wird uns gezeigt, was Marie Adler (Kaitlyn Dever) passiert: Wir lernen sie kennen, wie sie direkt nach der Tat verstört und verängstigt auf dem Boden ihrer kleinen Wohnung sitzt und verfolgen ihr Leben von da an. Wie sie sich in den Tagen nach dem Verbrechen verhält, wie erste Zweifel aufkommen, wie sie widerruft, wie ihr Umfeld reagiert. Und wie sie leidet - unter den Reaktionen ihrer Familie und Freunde und unter den Folgen der Vergewaltigung. In der anderen Serie sehen wir, wie zwei Polizistinnen eine andere Spur aufnehmen, beharrlich ermitteln und immer wieder mit den Opfern sprechen, um schließlich dem Täter näher zu kommen.
Beide Serien sind sehr gut geschrieben und gedreht. Und sie passen nebeneinander und später auch zueinander. Denn in der Ermittlungsgeschichte schwingt mit, was in dem Marie-Adler-Handlungsstrang falsch gelaufen ist. Die beiden Ermittlerinnen Karen Duvall (Merritt Wever) und Grace Rasmussen (Toni Collette) nehmen die Opfer ernst, gehen einfühlsam mit ihnen um, verfolgen jede noch so kleine Spur, bleiben dran. Doch das sind leise Töne, es wird nicht mit einem vollaufgedrehten Megafon hinausgebrüllt. Genausowenig wird der Ermittler in Marie Adlers Fall als inkompetentes frauenfeindliches Arschloch dargestellt, der grundsätzlich davon ausgeht, dass Vergewaltigungsvorwürfe nur erfunden werden. Nein, er ist Teil eines Systems, in dem es schwierig und aufwändig ist, Vergewaltigungsfälle aufzuklären und in dem man dann eben auch mal vorschnell davon ausgeht, dass das Opfer lügt. Besonders eindrücklich hier eine Szene gegen Ende, in der der Ermittler sein Versagen erkennt: Der Schrecken und die Abscheu vor sich selbst stehen ihm ins Gesicht geschrieben.
- Spoilerwarnung zu Ende -
Nach acht Folgen ist die Serie zu Ende - und entspricht damit der wahren Geschichte. Doch Toni Collette und Karen Duvall sind solch ein wunderbares Ermittlerinnen-Duo, dass ich mir wünsche würde, dass es nur für ihre Figuren eine Fortsetzung gibt.
Meine große Hoffnung: Dass "Unbelievable" zu der Serie wird, die gestandene Autoren und Autorinnen und auch der Drehbuch-Nachwuchs anschauen, um etwas darüber zu lernen, wie man mit dem Thema Vergewaltigung angemessen umgeht.
"Unbelievable" ist bei Netflix verfügbar.
*Danke an die Kritikerkolleginnen und -kollegen, die mir beim Suchen nach einer passenden Übersetzung für lazy storytelling so viele Adjektive geliefert haben.