In den vergangenen drei Wochen habe ich immer mal wieder kleinere Zeitreisen unternommen. Nicht so weit, nur ein paar Jahrzehnte zurück: erst in die 50er-Jahre, mittlerweile bin ich in den 60er-Jahren angekommen. Die britische Serie "Call the Midwife" (deutscher Titel: "Ruf des Lebens") hat mich dorthin gebracht. Und ich bin überrascht, wie gut es mir in dieser besonderen 50er-Jahre-Welt gefällt. Die BBC-Serie basiert auf den Memoiren einer Hebamme im Londoner East End. Der Dreh- und Angelpunkt ist das "Nonnatus House", wo Nonnen und Hebammen leben, die tags und nachts im Stadtteil Poplar unterwegs sind, um Menschen zu pflegen und Babys auf die Welt zu bringen.
Ja, ich bin spät dran. Sehr spät sogar. In Großbritannien lief im Frühjahr die achte Staffel der Serie. Da habe ich also einiges aufzuholen. Glücklicherweise hat "Call the Midwife" wie viele britische Produktionen eine überschaubare Folgenanzahl: eine Staffel besteht aus sechs bis acht Episoden. Der Grund, warum ich Jahre gebraucht habe, ist leicht erklärt: Ich habe 2011 eine Tochter zur Welt gebracht. Und ich kann mir kein schlimmeres, zerstörenderes Gefühl vorstellen, als das eigene Kind zu verlieren - sei es während der Schwangerschaft, während der Geburt oder später. Und worum geht es wohl in einer Serie über Hebammen in einem Armenviertel im London in der Nachkriegszeit? Schwangerschaft und Geburt, oftmals unter schwierigen Umständen. Sterbende Babys, sterbende Gebärende. Puh, nee. Muss ich nicht sehen.
Aber ich hatte mit meinen Befürchtungen Unrecht - und wenn ich etwas länger darüber nachgedacht hätte, wäre ich vermutlich früher darauf gekommen. Aber manchmal ist das ja so, dass der Bauch etwas ablehnt und der Kopf sich daher lieber nicht damit beschäftigt. Denn meistens hat der Bauch ja Recht. In meinem Fall hatte der Bauch nicht an die Zielgruppe gedacht. Zwischen neun und elf Millionen Zuschauer und Zuschauerinnen in Großbritannien schalteten jede Folge ein - darunter sicher viele, für die tote Babys ähnlich schwer zu ertragen sind wie für mich. Wenn ich also ein bisschen genauer darüber nachgedacht hätte, wäre mir klargeworden: Die Zahlen zeigen, dass hier nicht das ganze Elend zu sehen ist.
Nach 33 Folgen kann ich sagen: Diese Serie ist etwas Besonderes, und ich bin froh, dass ich sie nun endlich geschaut habe und noch weiter schauen werde. Hier wird Frauengeschichte und Medizingeschichte interessant und relevant erzählt. Und klar, für mich steht bei dieser Serie die Frauengeschichte im Mittelpunkt. Denn hier wird Frauenleben in allen möglichen Facetten gezeigt, wie man es nur selten im Fernsehen sieht. Schwangersein, Gebären, Frau als Mutter, Frau als Ehefrau, Frau als Alleinerziehende, Frau im Beruf, Zusammenhalt von Frauen innerhalb einer Familie, Frauengesundheit, Ansprüche an Frauen, Rollen von Frauen - die Aufzählung könnte jetzt noch weiter gehen, aber ich denke, ich habe klargemacht, was ich meine. Und da wird auch nicht vor furchtbaren Szenen oder schwierigen Themen wie Abtreibung, Prostitution oder Behinderung zurückgeschreckt - allerdings behält die Serie selbst dann ihren charakteristischen leichten Tonfall. Die Hebammen und Nonnen, die im Mittelpunkt der Serie stehen, können zwar nicht jeden und jede retten. Aber sie kümmern sich, und weil sie das tun, wird die Welt ein bisschen besser. Sie sind der Weichzeichner in dieser Nachkriegswelt, in der die Menschen in Armut leben und der Schrecken des Krieges noch lange nachwirkt. Sie sind es, die Hoffnung geben. Ja, die Serie ist oft traurig, und ich habe einige Tränen vergossen. Aber die Serie hinterlässt nie einen traurigen Nachhall. Weil zwischen den Tränen immer wieder gesagt wird: Ja, das Leben ist manchmal schlimm, aber schau mal, wie schön es auch sein kann.
Mich hat auch das Gerüst der Serie beeindruckt: Der Mittelpunkt ist nicht etwa eine bestimmte Figur, sondern eine soziale Einrichtung, in der Menschen mit bestimmten Funktionen arbeiten und leben. Aus deren Arbeit generieren sich die Geschichten rund ums Leben, Gebären und Sterben. Dadurch ist es möglich, selbst Hauptfiguren ohne Verlust für die Serie gehen zu lassen - solange das nicht zu oft passiert, der Handlungsbogen gut aufgebaut und die Entscheidung konsistent mit der Figur ist. Denn natürlich ist es auch bei einem solchen Gerüst unbedingt nötig, dass die Hebammen und Nonnen, die man in jeder Folge wiedertrifft, eigene Handlungsbögen haben und Entwicklungen durchmachen.
Natürlich habe ich beim Gucken mehrfach an die Hebamme gedacht, die mich damals nach der Geburt betreut hat. Und meistens ging der Gedanke dann folgendermaßen weiter: Mensch, wenn doch mal jemand eine richtig gute Serie über eine Hebamme im Deutschland der Gegenwart machen würde*. Da könnte man packende, relevante Geschichten über Frauenleben erzählen (und als Nebeneffekt würde das Publikum sehen, wie seit vielen Jahren das Thema Frauengesundheit und Gesundheit von Schwangeren von den zuständigen Politikern und Politikerinnen vernachlässigt wird). Ich würde sofort einschalten.
"Call the Midwife - Ruf des Lebens" gibt's bei den Streamingplattformen Amazon, iTunes, Google Play.
Tipp zum Weiterlesen: Mein Kollege Hans Hoff ist mir um einiges voraus und hat in seiner DWDL-Kolumne schon im Mai 2017 über seine Begeisterung für "Call the Midwife" geschrieben.
*Ja, ich weiß, dass das ZDF bereits in der fünften Staffel die Serie "Lena Lorenz" über eine Hebamme in Oberbayern zeigt. Und ich habe beim Schreiben dieses Textes auch reingeschaut. Aber: Das ist mir zu viel weichgezeichneter Heimatfilm, zu wenig relevante Geschichten.