In meinem Kopf schwirren viele unterschiedliche Serien herum, die mich beschäftigen - entweder weil ich sie in den vergangenen Tagen geschaut habe oder weil ich gerade mitten in einer Staffel bin -, da ist "Big Little Lies" neben "Haus des Geldes", "Better Things" und "Das Institut" oder auch "Carnival Row". Allesamt interessante Serien, über die ich hier in den nächsten Wochen sicher schreiben werde. Aber das, was mich in den vergangenen Tagen am meisten fasziniert hat, war eine kleine, unscheinbare zehnteilige Serie über Glasbläser.
"Blown Away" ist nicht etwa eine Dokumentation, in der mir die Kunst der Glasbläserei und ihre Geschichte näher gebracht wird. Es ist eine kanadische Reality-Competition-Show, bei Netflix zu sehen. Und zwar eine ziemlich klassische: Zehn Glasbläserinnen und Glasbläser treten gegeneinander an, in jeder Folge gibt es eine Aufgabe zu erfüllen, eine oder einer gewinnt, eine oder einer scheidet aus. In der letzten Folge wird der "Blown Away"-Champion gekürt.
Ich habe keine Ahnung von Glasbläserei. Ich habe es nie versucht, interessierte mich bisher nicht für die Kunst, die daraus entsteht. Aber: Die Tatsache, dass der Mensch Glas mit der Kraft seiner Lunge formen kann, fasziniert mich, seit wir in meiner Kindheit in einem Familienurlaub in Dänemark einem Glasbläser bei der Arbeit zugeschaut haben. Anders als damals verstehe ich mittlerweile die physikalischen und chemischen Abläufe, die dahinterstecken. Aber das schiere "Oh, wie wunderbar"-Gefühl ist geblieben, weshalb ich die Show am Dienstagabend einschaltete. Einfach, um mich mal eine kurze Folge lang von allem abzulenken, was gerade um mich herum passiert und was durch meinen Kopf schwirrt. Und die Folge ist kurz, gerade mal 23 Minuten lang. Ich warte zwar in den ersten paar Minuten etwas ungeduldig darauf, dass hier was passiert. Aber als die Teilnehmer und Teilnehmerinnen endlich mit ihrer Arbeit loslegen, bin ich gefesselt. Vom Feuer, von der Hitze, von der Verwandlung. Ich staune, wie schnell sie arbeiten, wie geschickt sie sind. Aber auch, wie anstrengend das ist und wie komplex.
Die erste Folge von "Blown Away" schafft, was nicht vielen Produktionen derzeit gelingt: mich vollkommen von allem abzulenken. Die alte Industriehalle, die für die Show in eine riesige Glasblas-Werkstatt für zehn Künstler und Künstlerinnen umgewandelt wurde, fühlt sich so alltäglich an, nicht wie ein aufwändig gebautes Studio. Als würde sie statt in Kanada hier bei mir in Hamburg um die Ecke stehen, als wäre ich bei einem Gang durch mein Viertel in eine der alten Backstein-Bauten hineinspaziert und hätte die Glasbläser bei ihrer Arbeit entdeckt. Ich bin dabei, wenn sie unförmige Glasklumpen in filigrane Kunstwerke verwandeln, die manchmal nutzbar sein sollen, manchmal einfach Kunst. Ich bin dabei, wenn etwas schiefgeht, weil Glas nun mal eben fragil ist. Ich bin dabei, wenn sie das Ergebnis präsentieren und stolz sind auf ihre Arbeit.
Und ich frage mich, was den Reiz hier ausmacht. Denn natürlich ist die Show nicht perfekt. Mir ist sie zu streng strukturiert, zu oft wird wiederholt, was sie machen sollen, und der Einstieg ist immer gleich formuliert. Ganz so, als sei die Serie nicht für eine Streamingplattform gedacht, sondern als wöchentliches Format mit Werbepausen - also ein Format, bei dem das Publikum immer mal wieder erinnert werden muss, was passiert. Und so ist es auch - Netflix verkauft sie in Deutschland zwar als "Original", aber zuerst lief sie im kanadischen Fernsehen, wöchentlich ausgestrahlt. Wie bei solchen Shows üblich, wird hier versucht, durch das Aufbauschen von Konflikten zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusätzlich Spannung zu erzeugen. Allerdings passiert das relativ selten. Entweder weil man sich dazu entschieden hat, das nur in Maßen zu tun - oder weil das Material wenig hergegeben hat. Vermutlich war es eine Kombination aus beidem, denn bei mir entsteht hier schnell der Eindruck: Diese Leute sind kollegial, weil sie aus ihrem Alltag wissen, dass man aufeinander angewiesen ist. Natürlich wird hier zusätzlich Spannung dadurch erzeugt, dass ein Zeitdruck aufgebaut und auch in den Bildern erzählt wird - wie man es bei Produktionen dieser Art eben so macht. Ein weiterer Mangel: der wirklich blasse Moderator, der keine Ausstrahlung hat und immer wieder dieselben Sätze sagt. Der Reiz ist also nicht, dass diese Show anders aufgebaut ist oder anders erzählt ist als die vielen anderen Reality-Competition-Shows, die ich kenne.
Die Faszination muss also vom Handwerk an sich, aber auch von den Personen ausgehen. Mir, die ich keine Ahnung habe, wird bei der Vorstellung in der ersten Folge suggeriert, dass diese Glasbläserinnen und Glasbläser hier zu den besten ihrer Zunft in Nordamerika gehören. Ich glaube das sofort. Denn "Blown Away" arbeitet mit großen Museen und Universitäten zusammen, was der Sendung eine Professionalität und Seriosität verleiht, die mich überzeugt. Und schon in der ersten Folge bin ich überzeugt: Ja, die sind gut. Sie machen erstaunliche Dinge. Folge für Folge wird das, was sie machen, beeindruckender. Und dazu sind sie auch noch sympathisch und haben Botschaften, die sie mit ihrer Kunst und ihrer Arbeit verbreiten wollen. Als die erste Folge vorbei ist, will ich mich weitersuhlen in diesem schönen Gefühl. Aus "Mal reinschauen, vielleicht ist ja ganz interessant" wird "Oh, das muss ich auf jeden Fall weitergucken".
Schließlich passiert etwas, das ich in einer solchen Show nie erwartet hätte: Es geht um Feminismus und Teilhabe. Wow. Eine Sendung, wie für mich geschaffen. Ich fühle mich wohl. Und viel zu schnell ist nach drei Tagen und zehn Episoden diese wunderbare Sendung zu Ende, mir bleibt nur die Hoffnung, dass es eine zweite Staffel geben wird. Doch ich bin mir sicher: Ich werde zurückkommen. Einfach einzelne Folgen nochmal schauen, wenn mir danach ist. Auch wenn ich weiß, wessen Werk wann am Boden zerschellt, auch wenn ich weiß, wer weiterkommt und schließlich gewinnt. Es spielt keine Rolle, solange ich zuschauen darf, wie aus einem Klumpen Glas durch Hitze und menschlichen Körpereinsatz ein filigranes Kunstwerk wird.
PS: Ich habe die Serie im englischen Original geschaut, mir allerdings danach die erste Folge auch auf Deutsch angeguckt. Leider ist die deutsche Synchronisation nicht gut gemacht. Denn alle Orginalstimmen sind im Hintergrund leise immer zu hören, die deutschen Stimmen sind nur darübergelegt. Das passt zwar immer dann, wenn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen reden. Aber es passt nicht bei der Off-Stimme. Da wirkt es einfach zu seltsam und lenkt vom Inhalt ab.
"Blown Away" läuft bei Netflix.
Wer jetzt mal reinschauen möchte, hier geht's zum Trailer.
Ein Tipp zum Weiterlesen für alle, die das Finale gesehen haben: Die "Los Angeles Times" hat ein Interview mit dem Gewinner geführt.
Nachtrag: Ursprünglich war ich davon ausgegangen, dass es sich hier tatsächlich um eine Produktion für Netflix handelt, die zuerst auf Netflix zu sehen ist. Netterweise hat mich ein Leser darauf hingewiesen, dass das nicht der Fall ist, weshalb ich im fünften Absatz den Satz "Und so ist es auch - Netflix verkauft sie zwar als "Original", aber zuerst lief sie im kanadischen Fernsehen, wöchentlich ausgestrahlt." ergänzt habe.