Fast wäre "Pose" an mir vorbeigegangen - oder im Fall dieser Serie eher: vorbeigetanzt -, weil die Serie unter dem leidet, worüber ich vor meiner Kolumnen-Sommerpause geschrieben habe: sehr langen Folgen. Die erste Episode ist 1 Stunde und 18 Minuten lang, die zweite 1 Stunde und 10 Minuten. Also nichts zum Dazwischenschieben. Und so kam es, dass ich meinen Einstieg in diese in den USA hochgelobte FX-Produktion immer weiter verschoben habe. Welche Fehleinschätzung meinerseits! Diese Serie ist jede Minute ungeteilter Aufmerksamkeit wert. 

"Pose" steckt von vorne bis hinten voller Lebenslust, was bei dem Thema, das sie behandelt, nicht selbstverständlich ist. Es geht um die LGBTQ+-Community im New York der späten 80er Jahre, als Aids immer weiter um sich greift und viele, viele Menschen innerhalb der Gemeinschaft einen qualvollen Tod sterben. Weit entfernt von der seit einigen Jahren verbreiteten 80er-Jahre-Nostalgie werden hier Geschichten erzählt von Menschen, die sich wünschen, dass sie als die, die sie sind, leben können und akzeptiert werden.

Mir fällt es grundsätzlich nicht schwer, mich in Serienfiguren hineinzuversetzen, mit denen ich auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam habe. Doch hier hatte ich anfangs Bedenken: Die Serie spielt zu der Zeit, als ich neun Jahre alt war, in einer New Yorker Subkultur, in der sich queere Menschen für ihre Verkleidungen feiern und in Wohngemeinschaften als Ersatzfamilien zusammenleben, angeführt von einer "Mutter". Das alles ist sehr weit weg von meinem Leben als weiße heterosexuelle Frau in Deutschland im Jahr 2019. Ich hatte also zwar erwartet, dass mir diese Serie ein Fenster zu einer mir unbekannten Welt öffnet. Aber nicht, dass ich mich sehr schnell einfühlen würde in das Leben der Hauptfiguren. 

Zuerst ein paar Worte zu dieser 80er-Jahre-Welt, in der die Serie spielt: Klar hatte ich im Hinterkopf, dass Lesben und Schwule, die sich outeten, damals angefeindet und oft von ihren Familien ausgegrenzt wurden. Klar hatte ich im Hinterkopf, dass Aids bis in die späten 80er hinein als "Homosexuellen-Krankheit" bezeichnet wurde. Aber was das für den einzelnen Menschen bedeutete, besonders für transgeschlechtliche Menschen, davon hatte ich keine Ahnung und dafür hatte ich kein Gespür. 

Das Kennenlernen und Reinschauen in eine fremde Welt muss nicht zwangsläufig auch auf einer emotionalen Ebene stattfinden. Doch bei mir wurde es sehr schnell emotional: Mir ist der Kampf der Hauptfigur Blanca (MJ Rodriguez) um ein selbstbestimmtes Leben mit familiärer Liebe und Anerkennung unter die Haut gegangen. Nicht etwa, weil ständig betont würde, wie schwer sie es als Transfrau hat und sie in existenzbedrohenden Situationen gezeigt würde. Nein, die Macher der Serie - Ryan Murphy, Brad Falchuk und Steven Canals - erzählen das Drama subtiler und dadurch eindrücklicher: Blancas Geschichte geht mir unter die Haut, weil ich ihren Alltag miterleben darf, weil ich mit dabei bin, wie sich die Latina eine Ersatzfamilie aufbaut, wie sie sich für die "Ball Culture"-Partys kostümiert. Ich erfahre, welche ihre Prinzipien sind und wie sie ihnen treu bleibt. Und ich erlebe, dass sie auch unter Ihresgleichen um Anerkennung kämpfen muss.

Blanca ist nicht die einzige, die mich berührt. Die farbige Sexarbeiterin Angel (Indya Moore), eine Transfrau, die von der Rettung durch einen weißen Prinzen aus der Vorstadt träumt. Der farbige schwule Party-Zeremonienmeister Pray Tell (Billy Porter), der schon viele geliebte Menschen durch Aids verloren hat. Und selbst die unsympathische, herrische Elektra (Dominique Jackson), eine farbige Transfrau, die sich seit zehn Jahren von einem reichen weißen Liebhaber aushalten lässt. 

Und ich frage mich beim Gucken: Wenn mich diese Figuren so mitnehmen, wie mag das erst Menschen gehen, die näher dran sind als ich? Denn Figuren wie diese finden sich in Serien bisher extrem selten - selbst die modernen Serien sind noch immer von weißen heterosexuellen Männerfiguren dominiert. Was ein großer Mangel ist, denn: In den Medien Menschen zu sehen, die einem selbst ähnlich sind, ist wichtig für die Entwicklung und die Wahrnehmung der eigenen Persönlichkeit. Völlig unabhängig davon, wie einer Frau wie mir eine Serie wie "Pose" gefällt, erfüllt die Serie eine wichtige Funktion. Genauso wie auch "Orange Is The New Black" oder "One Day At A Time". (Diversität und Sichtbarkeit in Serien spreche ich ja immer mal wieder in meiner Kolumne an, ein gesonderter Text wird in den nächsten Wochen folgen.) 

Doch das Faszinierendste an "Pose" bleibt für mich die Lust am Leben, die sich durch alle Folgen durchzieht. Die Lebenslust, die diese Serie charakterisiert, ist eine zurückhaltende. Und dadurch war sie für mich umso beeindruckender. Es ist keine Lebenslust nach dem Motto: Wir feiern, bis wir umfallen und der Rest ist uns egal. Sondern es ist eine Lebenslust von Menschen, die viel durchgemacht haben, deren alltägliches Leben zerbrechlich ist, die sich jedes Stückchen Normalität erkämpfen müssen - und die dennoch oder vielleicht gerade deshalb bemerkenswerten Optimismus und Freude am Leben ausstrahlen. Beides hat mich - die ich in einer viel privilegierteren Situation lebe als fast alle der in der Serie gezeigten Figuren - einerseits angesteckt und andererseits zum Nachdenken gebracht hat. Auch über Selbstverständlichkeiten in meinem eigenen Leben. 

Die erste Staffel von "Pose" ist in Deutschland bei Netflix verfügbar. In den USA läuft derzeit die zweite Staffel, wann die in Deutschland zu sehen sein wird, ist noch nicht bekannt