Das Finale von "Game of Thrones" ist seit ein paar Tagen vorbei, aber das sollte nicht bedeuten, dass die Beschäftigung mit dieser Serie vorbei ist. Natürlich kann ich die vielen Menschen verstehen, die sich nach dem Anschauen der allerletzten Folgen aufgeregt oder gefreut oder beides haben, am Tag danach begeistert oder entsetzt darüber gesprochen und geschrieben haben - und sich jetzt einer anderen Serie zuwenden. Doch die Beschäftigung mit dieser Serie muss darüber hinaus gehen, denn "Game of Thrones" ist zu einem Phänomen geworden, das acht Staffeln und damit acht Jahre lang viele Millionen Menschen auf der Welt fasziniert hat: Sie haben mitgefiebert, sie waren schockiert, begeistert, gerührt. Die Serie hat mit fast jeder der 73 Episoden für Diskussionsstoff gesorgt - offline in Kneipen und Cafés, Büros oder auch zu Hause, online in Foren, Social Networks, Texten und Podcasts. (Mehr über "GoT" als Phänomen habe ich in dieser Kolumne geschrieben.) Ich hätte auch gerne direkt nach dem Gucken der Finalfolge aufgeschrieben, was ich davon halte. Schnell alles loswerden und den Kopf für etwas Neues freimachen. Aber das reicht nicht. Dafür war diese Serie in ihrer Art, in ihrer Wirkung und in dem, was wir schlussendlich von ihr erwartet haben, zu außergewöhnlich. Das gilt besonders für diejenigen, die sich beruflich mit Serien auseinandersetzen, weil sie darüber journalistisch schreiben, weil sie sie machen und weil sie sie erforschen.
In den seit dem Finale vergangenen Tagen habe ich mir einige Gedanken gemacht, ausgehend von meinen Gefühlen während des Guckens, von meinen Eindrücken und Bewertungen, aber auch von den Texten und Analysen, die ich gelesen und gehört habe. Natürlich bin ich längst noch nicht am Ende mit dem Nachdenken über "Game of Thrones" - derzeit überlege ich, ob es sinnvoll wäre, dass ich die Serie noch einmal anschauen, um in relativ kurzer Zeit die Geschichte an sich, die Entwicklung der Figuren und auch die Veränderung, die die Serie durchgemacht hat, anschauen und damit besser bewerten zu können. (Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich dazu die Zeit habe, in Anbetracht der viele anderen Serien, die auf mich warten - das altbekannte Luxusproblem ...) Doch bereits jetzt sind mir ein paar Aspekte aufgefallen, über die es sich nachzudenken lohnt beziehungsweise die man als Lehre aus der Serie an sich und dem Ereignis "Game of Thrones" ziehen kann. Ich werde diese Denkanstöße im folgenden kurz aufschreiben und - wenn möglich und nötig - längere Texte oder Analysen dazu verlinken, für alle, die sich ausgiebiger damit auseinandersetzen wollen.
Eine Buchreihe zu adaptieren, die noch nicht fertig geschrieben ist, ist ein risikoreiches Unterfangen. Als die Schöpfer der Serie, David Benioff und D.B. Weiss, im Jahr 2006 Abnehmer für Serienidee gesucht haben, sind sie davon ausgegangen, dass der Autor der Buchvorlage, George R.R. Martin, rechtzeitig die letzten Teile der Reihe beendet haben wird, wie aus einem bei "Vanity Fair" veröffentlichten Schreiben an HBO hervorgeht. Bei Buch 5 ging die Rechnung auf: 2011, im selben Jahr, als die Serie startete, erschien auch der fünfte Band. Doch Band 6 und 7 ließen und lassen, trotz Ankündigungen, auf sich warten. Die beiden Serienmacher waren daher ab Staffel 6 im Zugzwang, die Geschichte zu Ende zu bringen, obwohl der Erfinder der Geschichte sie noch nicht zu Ende gebracht hatte. Das kann gut gehen. Muss es aber nicht, wie man an Staffel 7 und Staffel 8 der Serie ablesen kann.
Die nächste Lehre hängt direkt mit der vorhergehenden zusammen, geht aber in eine etwas andere Richtung: Wer es beherrscht, eine bereits aufgeschriebene Geschichte als Serie zu adaptieren, beherrscht es nicht notwendigerweise, die Geschichte selbst zu Ende zu schreiben. Auch das lässt sich an Staffel 7 und Staffel 8 ablesen. In Staffel 7 wurde bereits klar, dass sich das Wesen der Serie fundamental geändert hat, darüber hatte ich damals in dieser Kolumne geschrieben, außerdem gibt es dazu einen sehr aufschlussreichen Text von "New York Magazine"-Kritiker Matt Zoller-Seitz. Und in Staffel 8 wurden die Mängel in der Figurenentwicklung sehr deutlich, was bei Millionen Fans zu Frust geführt hat. Mehr dazu weiter unten.
Man kann die Art des Erzählens nicht ohne in der Geschichte aufgehängten und damit für das Publikum nachvollziehbaren Grund ändern. Was ich damit meine: Wie oben bereits angesprochen, hat sich das Wesen der Serie fundamental geändert. Warum das passiert ist, hat mehrere Gründe: Es gab keine Buchvorlage mehr, aus der die Autoren schöpfen konnten; die Autoren hatten das Ende der Serie mit Staffel 8 und damit Ziele für ihre Figuren vor Augen, die sie erreichen mussten; sie konzentrierten sich - anders als George R.R. Martin mit seiner Geschichte bisher - auf das Individuum, das Entscheidungen mit Konsequenzen fällt, nicht mehr auf das große Ganze, die gesellschaftlichen und soziologischen Bedingungen, die zu Entscheidungen und Entwicklungen führen. Doch hatte bis dahin "Game of Thrones" ausgemacht, das war das Besondere, was die Serie von vielen anderen unterschied. Dazu gibt es einen hervorragenden Text von Zeynep Tufekci bei "Scientific American" mit dem Titel "The Real Reason Fans Hate The Last Season Of 'Game of Thrones'".
SPOILERWARNUNG! Ab hier bis zum Ende des Textes werden Ereignisse von Staffel 7 und 8 beschrieben.
Die Serie trägt frauenfeindliche Züge, was besonders bei früheren Episoden heftig diskutiert wurde und worüber auch ich mich aufgeregt habe. In der Entwicklung von Daenerys, Sansa und Arya habe ich im Laufe der Jahre allerdings auch feministische Aspekte entdeckt, die mich erfreut haben und die bei mir Erwartungen geschürt haben. Leider wurden diese Erwartungen vollends enttäuscht: Eine der Botschaften der letzten Staffel lautet nämlich, dass man Frauen das Regieren auf keinen Fall zutrauen kann. Zugespitzt sieht das Ergebnis der wichtigen Frauenfiguren so aus: Cersei - machthungrig, verschlagen und bereit, alles und jeden zu töten. Daenerys - wird verrückt, wenn sie zuviel Macht hat, und ist dann ebenfalls bereit, alles und jeden zu töten. Sansa - joah, hat viel durchgemacht, versteht die Menschen, hat das Zeug, umsichtig zu entscheiden, aber geben wir ihr besser nicht zu viel Macht, der Norden reicht, damit wir so tun können, als würden wir auch Frauen beachten. Arya - puh, was machen wir mit der hocheffizienten Assassine, die gerade ihre Familie und ihre Gefühle wieder gefunden hat? Schicken wir sie in unbekannte Welten. Brienne - extrem loyal, gute Kriegerin, machen wir sie zur Ritterin und erniedrigen sie danach, indem der Mann, den sie liebt und auf den sie sich eingelassen hat, ohne nennenswerte Gründe wieder zu seiner verschlagenen Zwillingsschwester zurückkehrt. Klar, das war jetzt verkürzt und zugespitzt dargestellt - ich ziehe zwei Lehren daraus:
Erstens: Ich sollte feministische Aspekte einer Serie nie vor ihrem Ende loben.
Zweitens: Um überzeugende und konsistente Frauenfiguren zu schreiben, ist es durchaus hilfreich und wichtig, Frauen am Schreiben entscheidend zu beteiligen. Das ist bei "Game of Thrones" nicht ausreichend passiert. Mit Folgen: Wie oben aufgeführt, hatte die Serie ein Problem mit ihren Frauenfiguren, sie wurden - vor allem in Staffel 7 und 8 - nicht nachvollziehbar entwickelt. In einigen Fällen war der Schlusspunkt der Entwicklung völlig okay, aber nicht der Weg dahin - weil man sich nicht die Zeit genommen hat oder weil es unaufgelöste Widersprüche gab. Besonders sichtbar wurde der mangelhafte Umgang mit Frauenfiguren an der vorletzten Folge "The Bells", wie Maureen Ryan bei "The Hollywood Reporter" treffend schreibt.
Großartige Bilder, spektakuläre Effekte und überzeugende Schauspielerinnen und Schauspieler können bei einer Serie nicht über mangelhafte Figurenentwicklung hinwegtäuschen. Ja, der Produktionsaufwand besonders für die letzte Staffel von "Game of Thrones" war groß, und es sah toll aus, was die Regisseure, die Production Designer oder auch die Effekte-Departments da Folge für Folge gezaubert haben. Und ja, Peter Dinklage, Lena Headey oder auch Emilia Clarke haben hervorragend gespielt und das aus den Rollen herausgeholt, was herauszuholen war. Aber: Viel stärker als bei einem Film kleben wir Zuschauerinnen und Zuschauer bei einer Serie an den Figuren. Wir folgen ihren Geschichten vielleicht schon seit einigen Jahren, wollen sie verstehen - und haben ein sehr feines Gespür dafür, wenn sich keine Zeit für eine nachvollziehbare Entwicklung genommen wird oder Entscheidungen und Handlungen dem widersprechen, wie wir die Figur bisher kennengelernt haben. Es reicht nicht, wenn sich die Serienmacher darauf verlassen, dass die Schauspielerin oder der Schauspieler eine überhastete Entwicklung schon irgendwie überzeugend über Mimik rüberbringen wird oder darauf zu hoffen, dass spektakuläre Stunts und gut gebaute Drachen Mängel im Drehbuch wettmachen können.
Wenn der Showrunner im Making-of einer Serie erklären muss, warum eine Figur eine Handlungsentscheidung getroffen hat, die das Publikum nicht verstanden hat, liegt das nicht an jedem einzelnen Zuschauer oder jeder einzelnen Zuschauerin, sondern an Mängeln im Drehbuch. Ich sage nur: Daenerys, die die Glocken hört und dann trotzdem mit ihrem Drachen losfliegt und plötzlich die ganze Stadt abfackelt.
Es ist wichtig, das eigentliche Ende vom Weg dorthin zu trennen. Schon früh wurde bekannt: Egal, ob George R.R. Martin die Bücher rechtzeitig fertig bekommt, er hat die Showrunner in die entscheidenden Punkte seiner Pläne eingeweiht. Mich hat das damals beruhigt. Hätte es aber nicht dürfen. Denn der Weg, also die Entwicklung, hin zum Ziel darf nicht unterschätzt werden, wie man an Staffel 7 und 8 ablesen kann. Dass sich Daenerys so entwickelt, wie sie es tut, ist für diejenigen, die die Bücher kennen, keine besondere Überraschung gewesen. Ich befürchtete aber erst ab Episode 4 von Staffel 8, dass das passieren könnte. Und ich habe mich darüber geärgert, weil die Entwicklung sehr abrupt kam. Das verstärkte den Eindruck, den ich schon in Staffel 7 hatte: dass hier Handlungen und Figuren mit aller Macht und mit einem Ziel vor Augen vorangetrieben werden, man sich keine Zeit für Entwicklungen lässt, um die Figuren auf ihre eigene Art und ihren eigenen Weg zum sich dann fast natürlich ergebenden Ziel zu bringen.
Das gilt auch für die Hauptfiguren, die am Ende noch leben: Dass Jon Snow zurück in den Norden kehrt, um dann die Mauer zu durchqueren und in den Norden vom Norden zieht, passt gut zur Figur. Aber: Es ergibt überhaupt keinen Sinn, dass das als Strafe für ihn ersonnen wurde. Erstens wird nicht erklärt, warum es die Night's Watch überhaupt noch gibt, zweitens ist es unlogisch, dass ausgerechnet er, der Mörder von Daenerys, nicht direkt von Greyworm getötet wurde (wie es Greyworm ja mit vielen unwichtigen Gefangenen in King's Landing gemacht hat). Drittens: Warum darf Jon, der als letzter Targaryen Anspruch auf den Thron hätte, nicht am Treffen im Dragon Pit teilnehmen, Tyrion aber schon? Ich hätte noch mehr Fragen, aber zum Veranschaulichen des Problems reichen diese. Und über Tyrion und Bran will ich hier gar nicht erst anfangen.
Die Showrunner haben ganz offensichtlich unterschätzt, wieviel Zeit es in Anspruch nimmt, die vielen Figuren nachvollziehbar zu entwickeln und sie dennoch das gesetzte Ziel erreichen zu lassen. Zwei verkürzte Staffeln waren dafür einfach zu wenig.
Sehr gut unter die Lupe genommen werden die inkonsistenten Entwicklungen in der Staffelfinal-Episode des Podcasts "Binge Mode".
Wenn Tiere als wichtiger Bestandteil der Serie eingeführt wurden, muss man ihnen ausreichend Raum geben. Wie wichtig das ist, wird an zwei ganz unterschiedlichen Beispielen deutlich.
Erstens: Dass Jon Snows Direwolf Ghost in Episode 4 von Staffel 8 nicht die Streicheleinheiten zum Abschied bekommt, die er verdient hätte, hat viele im Publikum aufgeregt. Ich habe mich zwar nicht darüber aufgeregt, fand es aber auch nicht nachvollziehbar. Schließlich konnte Jon - genau wie das Publikum - zu dem Zeitpunkt nicht wissen, dass er seinen treuen Begleiter im Staffelfinale wiedersehen würde, wo er ihn dann ausgiebig gestreichelt hat. Was viele der erzürnten Zuschauer und Zuschauerinnen allerdings nicht unbedingt besänftigt hat. Verständlich: Es kam zu spät.
Zweitens: Dass der Drache Drogon nach Daenerys Tod den Thron zerstört, sieht toll aus, keine Frage. Aber warum tut er das? Eher in die Richtung: Frauchen wurde von einem spitzen Ding getötet, also zerstöre ich alle spitzen Dinge und dieser Stuhl besteht aus spitzen Dingen? Oder deutlich komplexer: Dieser Thron ist ein Symbol der Tyrannei, der meine Herrin letztendlich verfallen war, alle Menschen sollten von Tyrannei befreit werden, zerstöre ich doch schnell mal dieses Symbol, um eine Botschaft für die Nachwelt zu hinterlassen? Ich weiß, dass Tyrion irgendwann in der Serie mal etwas gesagt hat wie: "Manche sagen sogar, dass Drachen klüger sind als Menschen." Solange ich, die Zuschauerin, aber nicht den Eindruck bekommen konnte, dass Drachen tatsächlich "klug" sind, kann ich ihre Handlungen auch nicht entsprechend deuten - egal, ob das eine Figur sagt oder nicht. Also: Auch wenn Tiere bedeutungsschwangere Dinge tun, müssen sie vorher eine entsprechende Entwicklung durchgemacht haben, damit das Publikum die Bedeutung verstehen kann.
Je größer die Faszination von Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern, desto größer ist das Hater-Potential. Auch keine besonders neue Erkenntnis, aber hier wieder eindrücklich vor Augen geführt. Wenn ich mich für etwas besonders begeistere, wenn ich mitfiebere und mitleide, bin ich auch besonders enttäuscht, wenn sich etwas verändert, ohne dass ich es nachvollziehen kann. Dann fange ich an, mich über Dinge aufzuregen, die ich andernfalls vielleicht verzeihen würde oder die ich als zu nichtig ansehen würde. Ja, so ein Kaffeebecher im Bildhintergrund ist ärgerlich, eine Plastik-Wasserflasche ebenfalls. Aber das macht aus "Game of Thrones" an sich keine schlechte Serie. Wenn ich aber ohnehin enttäuscht bin, nehme ich diesen Kaffeebecher mit vielen anderen Kleinigkeiten als Beispiel dafür, wie schlecht die Serie geworden ist - und rege mich über die Maßen darüber auf, verbreite eine negative Stimmung und hetze vielleicht sogar gegen die Macher dieser Serie.
Man sollte sich mindestens eine Woche Besinnungszeit nehmen, bevor man bei der Datenbank IMDb ein Rating abgibt. Oder, andersherum, vielleicht sollte bei IMDb eine Beschränkung eingeführt werden: Finalfolgen dürfen erst ein paar Tage nach Veröffentlichung bewertet werden. Das Finale wird derzeit mit 4,3 von 10 Sternen bewertet, abgestimmt haben 184.462 IMDb-User (Stand Freitagnachmittag). Interessanter Vergleich: Beim Finale von Staffel 6 liegt das Rating bei 9,9 von 10 Sternen, 122.543 haben abgestimmt, mehr als 60.000 weniger als beim Serienfinale. Und: Das Finale von Staffel 7 wird mit 9.5 von 10 Sternen bewertet, abgestimmt haben 53.697 IMDb-User, also etwa 130.000 Menschen weniger als beim Serienfinale. Meine Vermutung: Beim Serienfinale liegt in vielen Fällen ein Hate-Rating vor. Damit meine ich: Es gibt Leute, die sich beim Gucken furchtbar aufregen und sich dann nach dem Gucken schnell bei IMDb anmelden, um ihrem Ärger Luft zu machen, aber nie auf die Idee gekommen wären, eine Bewertung abzugeben, wenn sie mit der Folge zufrieden gewesen wären. Klar, das ist nur eine Interpretation meinerseits. Aber die Zahlen sind auf jeden Fall auffällig, finde ich.
Nur weil Staffel 7 und 8 nicht gut waren, heißt das nicht, dass "Game of Thrones" insgesamt eine schlechte Serie ist. Erstens: Sie hatte auch in Staffeln 1 bis 6 einige Mängel. Zweitens: Sie hat mit den Staffeln 1 bis 6 die Messlatte der Serienkunst sehr hoch gelegt (bemerkenswertes Storytelling, faszinierende Figuren, unerwarteter Umgang mit bekannten Themen - interessant ist hier diese "New York Times"-Analyse) und dadurch enorme Erwartungen auf einem hohen Niveau geschürt, die die Staffeln 7 und 8 einfach nicht einhalten konnten. Aber an diesem hohen Niveau und den enormen Erwartungen wären auch viele andere Serien gescheitert.