Ermittler jagt Auftragskiller. Tausendmal gesehen. Mindestens. Mit dieser Konstellation kann man mich nicht mehr zum Einschalten locken. Wenn eine der Figuren weiblich ist, steigen die Chancen: Ermittlerin jagt Auftragskiller oder Ermittler jagt Auftragskillerin. Joah. Würde ich einschalten. Aber da sind noch so viele andere Serien, die ich vorher gucken will. Und, naja, ganz ehrlich: In etwa kann ich mir ausmalen, wie die Figuren beschaffen sein werden. Die Ermittlerin: total ehrgeizig, junges Genie, das von seinem Chef gefördert wird, erhofft sich den nächsten Karriereschritt, hat kein Privatleben, weil sie so hart arbeitet. Die Auftragskillerin: eine Frau, die schlimmste Dinge erlebt hat, wird erpresst, sieht keinen Ausweg, als als bezahlte Mörderin zu arbeiten, agiert als Liebesfalle. Puh. Wenn beide weiblich sind? Also eine Ermittlerin eine Auftragskillerin jagt? Die Chancen steigen weiter. Denn dass in einem solchen Thriller eine Frau eine mörderische Frau jagt - interessant. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas gesehen zu haben. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Figuren so beschaffen sind, wie ich oben beschrieben habe? Sehr groß. Und dennoch: Ich konnte es kaum abwarten, die BBC-America-Serie "Killing Eve" endlich zu sehen. Obwohl die Klischeefalle riesig ist, so groß, dass nur Akrobaten ihr ausweichen könnten. Glücklicherweise steckt hinter "Killing Eve" Phoebe Waller-Bridge. Eine ausgewiese Akrobatin, wenn es um Klischeefallen geht.
Ich glaube, Phoebe Waller-Bridge liebt Klischees. Ich kenne die Frau zwar nicht persönlich, habe aber die drei Serien gesehen, die sie geschrieben hat: "Crashing", "Fleabag" und "Killing Eve". Und alle drei haben neben der Autorin eines gemeinsam: Klischeefallen. "Killing Eve" hat besonders große zu bieten. Und eigentlich hatte ich vor, beim Gucken besonderes Augenmerk darauf zu legen, welche Klischees lauern und wie die Autorin ihnen ausweicht. Aber das hat nicht geklappt, die Geschichte und ihre Figuren haben mich zu sehr gefesselt. Am Ende konnte ich nur sagen: unangefochten meine liebste Serie des Jahres 2018. (Und sie ist jetzt endlich auch in Deutschland zu sehen.)
Die Auftragsmörderin heißt Villanelle (Jodie Comer), sie spricht Englisch mit einem starken russischen Akzent, sie ist jung, hübsch und skrupellos. Sie liebt schöne Dinge - Kleidung, Möbel - und teure Dinge - Kleidung, Möbel, Champagner. Sie arbeitet nicht für unterschiedliche Auftraggeber, sondern nur für einen. Dieser Auftraggeber schickt sie quer durch Europa, um bestimmte Menschen zu töten. Die Ermittlerin heißt Eve Polastri (Sandra Oh), sie ist Amerikanerin, arbeitet beim britischen Inlandsgeheimdienst MI5. Sie ist chaotisch, unzuverlässig und fasziniert von weiblichen Soziopathen. MI5 hört sich zwar aufregend an, doch Eve ist frustriert von ihrem eigentlichen Bürojob in der Londoner Zentrale. Sie interessiert sich für die europaweiten Mordfälle und ist die erste, die ein Muster entdeckt. Gleichzeitig bemerkt Villanelle, dass Eve ihr auf der Spur ist - und fängt ihrerseits an, Eve aufzuspüren. In beiden Fällen ist es Faszination: Eve ist fasziniert von einer Psychopathin an sich (die sind nämlich extrem selten), Villanelle dagegen ist fasziniert von Eve als Person.
Es ist ein großes Vergnügen, Villanelle und Eve bei ihrer gegenseitigen Jagd zuzuschauen. Das hat einerseits mit dem großen Ganzen (Figurenkonstellation, gekonnt erzählter Thriller, überraschende Wendungen), andererseits mit vielen kleinen Aspekten zu tun. Die beiden Hauptfiguren sind sorgsam entwickelt, bis ins Detail durchdacht, was sie einerseits lebendiger macht und was andererseits überraschende Reaktionen, Dialoge oder Szenen ermöglicht. Überhaupt, die Dialoge: messerscharf, blitzschnell und immer zur Figur passend. Zu den vielen kleinen Aspekten gehört hier auch die äußerst gelungene Ausstattung, ebenfalls jeweils der Figur angepasst: von üppig, wo nötig (Villanelles Wohnung, ihre wohlinszenierten Mordaufträge), bis sparsam, wo angebracht (MI5-Büros). Oder auch gemütlich-chaotisch wie in Eves Wohnung.
Das sorgsame Entwickeln der Figuren und dabei auch auf die Details Wert zu legen, ist eine Möglichkeit, Klischeefallen zu überwinden. Denn je besser eine Figur durchdacht ist, je besser sie im Alltag beobachtet ist, desto lebendiger und glaubhafter wird sie. Fast automatisch ergeben sich dann kleine Brüche, Widersprüche, Überraschungen, die den Erwartungen widersprechen und somit das Klischee aufheben. Phoebe Waller-Bridge hat aber noch einen Trick angewendet, um die Klischeefallen zu überwinden: Sie hat sich bewusst Klischees gesucht und sie umgedreht. Um zu erklären, was ich meine, muss ich ein Beispiel bringen, das allerdings nur ein Mini-Spoiler ist: Bei vielen Thrillern und Serienmördergeschichten gibt es eine unwichtige Nebenfigur, nämlich die eigentlich unbeteiligte, aber meist in den Täter verliebte Frau, die sterben muss, damit die Hauptfigur nicht entdeckt wird. Ihr beiläufiger Tod ist in etwa so vorhersehbar wie der rotuniformierter Besatzungsmitglieder bei "Star Trek"-Außenmissionen. Auch in "Killing Eve" gibt es so eine Figur. Allerdings ist das hier keine Frau, sondern ein unbedarfter, junger Mann, der sich in Villanelle verliebt und der ausgerechnet durch ein von ihr vergiftetes Parfüm stirbt. Ein Parfüm - DAS Attribut von Weiblichkeit schlechthin. Damit hat Phoebe Waller-Bridge das Klischee nicht nur völlig überdreht, sondern gleichzeitig auf den Kopf gestellt. Nicht nur an den Hauptfiguren, sondern an vielen Details durch alle Folgen hinweg wird klar: Hier wurden gängige Erzähltypen und Muster von Thrillern genaustens unter die Lupe genommen, dekonstruiert und anders zusammengesetzt.
Natürlich reicht eine Wortakrobatin allein nicht aus - "Killing Eve" wäre längst nicht so gut, wenn die Rollen nicht so hervorragend besetzt wären. Sandra Oh spielt Eve Polastri mit einer überzeugenden Nachlässigkeit, die in den richtigen Momenten von einer Faszination bis in die Spitzen ihrer langen Haare abgelöst wird. Jodie Comer hat als Villanelle diesen arroganten, abweisenden Gesichtsausdruck, der dem Rest der Welt sagt, dass niemand ihrer würdig ist. Man merkt ihr ihren Spieltrieb und ihren Ehrgeiz an, wenn sie einen Mord plant. Und - ganz wichtig für die Serie - die Chemie zwischen Sandra Oh und Jodie Comer stimmt. Die Faszination voneinander ist durch die Bildschirm zu spüren. Auch die Nebenfiguren sind hervorragend besetzt. Zum Beispiel Kim Bodnia als Villanelles Bezugsperson, die ihr die Aufträge erteilt, ist eine Art sympathische Vaterfigur, die dennoch eiskalt und brutal sein kann. Oder Fiona Shaw als altgediente Spionin Carolyn Martens, eiskalt und abgebrüht, die dennoch glaubhaft vermittelt, dass ihre Figur in früheren Jahren mit Agenten befreundeter Dienste nicht nur Freundschaft pflegte.
In den USA und in Großbritannien startet in wenigen Wochen bereits die zweite Staffel. Allerdings war bei Staffel 2 nicht Phoebe Waller-Bridge Hauptautorin - sie hat an Emerald Fennell übergeben, mischt sich aber als Executive Producer weiterhin ein. Der Grund: Phoebe Waller-Bridge ist derzeit so begehrt und mit anderen Projekten beschäftigt, dass sie nicht ausreichend Zeit für die Serie hatte. Ich bin dennoch voller Hoffnung, dass die zweite Staffel den von S1 bekannten Ton und Stil treffen wird, denn Phoebe Waller-Bridge hat Emerald Fennell persönlich ausgewählt, beide haben bereits zusammengearbeitet und sollen gut befreundet sein.
Die erste Staffel von "Killing Eve" ist bei Starz Play verfügbar, einem Angebot innerhalb der Amazon Channels.