Erwartungen bei Serien sind ein schwieriges Thema. Einerseits, wenn man zu viel erwartet: Ich habe in dieser Kolumne bereits hin und wieder erwähnt, dass ich bei bestimmten Serien, auf die ich mich sehr freue, oft Gefahr laufe, zu viel zu erwarten. Und dann enttäuscht bin, obwohl die Serie gut war - aber eben nicht sooo gut, wie ich erwartet hatte. Andererseits, was die Art der Serie angeht: Wenn man eine Comedy einschaltet, erwartet man, dass es lustig wird oder zumindest amüsant. Und klar, bei einem Thriller ist man enttäuscht, wenn der erwartete Nervenkitzel nicht eintritt. Das Problem bei Erwartungen: Sie schränken ein. Ich erwarte etwas Lustiges, weil eine Serie unter "Comedy" einsortiert wurde. Ist sie dann nicht lustig, noch nicht einmal amüsant, bin ich enttäuscht. Dann kann es passieren, dass ich wegen der Enttäuschung nicht mitbekomme, was die Serie stattdessen Großartiges zu bieten hat.
Ideal wäre, wenn man ganz ohne Erwartungen an Serien herangehen könnte. Ich weiß natürlich, dass das nicht möglich ist. Für uns Menschen ist es evolutionär bedingt wichtig, dass wir Situationen vorab einschätzen und auf Basis des Wissens, das wir haben, bewerten. Nicht wissen, was auf uns zukommt? Das konnte Jahrtausende lang den Tod bedeuten. Und kann es auch heute noch - in bestimmten Situationen. Serien gehören allerdings nicht dazu, doch dieses "Erwartungen haben müssen" ist so tief drin in uns Menschen, dass wir es selbst für Serien fast nicht ausschalten können.
Eine Serie, bei der ich froh bin, dass ich an sie keine inhaltlichen Erwartungen hatte, weil ich fast nichts über sie wusste: die Netflix-Eigenproduktion "Matrjoschka". Und allen, die die Serie bisher nicht gesehen haben, rate ich, möglichst ohne jegliches Vorwissen einzuschalten (denn je weniger man weiß, desto schlechter lassen sich Erwartungen aufbauen). Das einzige, was wichtig ist: Das Gucken lohnt sich. Und sollten Sie irgendwo gelesen haben, dass die Serie mit dem Film "Und täglich grüßt das Murmeltier" vergleichbar ist - vergessen Sie das bitte schnell. Ja, es gibt eine einzige Gemeinsamkeit, nämlich, dass Dinge immer wieder passieren. Aber das war's dann auch schon. Und dementsprechend bitte ich alle, die die Serie nicht kennen, aber noch gucken wollen, ab hier mit dem Lesen des Textes aufzuhören.
Achtung, im Rest des Textes folgen große Spoiler für "Matrjoschka"!
Wer sich beim Gucken von "Matrjoschka" an erlernte Muster hält und vom Verlauf einer Folge oder gar einer Szene auf den Verlauf späterer Episoden oder Szenen schließen will, verschenkt bei dieser Serie mehr als bei vielen anderen. Diese Serie wirkt dann besonders gut, wenn man offen und neugierig bleibt. Wie oben geschrieben, weiß ich, dass das gar nicht leicht ist. Aber hier hat sich die Mühe gelohnt, finde ich. Denn "Matrjoschka" wirkt erst harmlos und amüsant, doch dann wird sie clever und hintersinnig, bis sie schließlich abgründig und tiefgründig zugleich ist. Wow!
Bei den Episoden 2 bis 4 haben mein Mann und ich vor dem Anschauen der Folgen gewettet, wie oft die Hauptfigur Nadia (Natasha Lyonne) dieses Mal sterben würde. (Es ist 2:1 für meinen Mann ausgegangen.) Doch ab Folge 5 waren wir so überrascht und gefesselt zugleich von dem, was sich da auf dem Fernseher von unseren Augen entwickelte, dass wir gar nicht mehr auf die Idee gekommen sind, Nadias Tode zu zählen. Verblüffend!
Als ich in der letzten Folge verstanden habe, dass Nadia und Alan (Charlie Barnett) in verschiedenen Zeitschleifen sind, hat mich das ganz plötzlich sehr traurig gemacht, weil ich dachte, dass sie nun nie erlöst würden. Es hat mich so geschmerzt, wie es sonst nur der Tod einer geliebten Serienfigur kann. Dieses Gefühl wurde schnell abgelöst von großer Erleichterung, als ich feststellte, dass sie deswegen in verschiedenen Schleifen sind, weil sie sich gegenseitig helfen müssen. Eine Gefühlsachterbahn, die ich - wenn mich jemand nach der ersten Folge gefragt hätte - so nie erwartet hätte. Bemerkenswert!
Muss ich noch etwas zu Natasha Lyonne als Nadia schreiben? Ist überflüssig, denke ich. Wir sind uns einig, dass das eine großartige schauspielerische Leistung war. Nur so viel: Ich bin froh, dass sie diese besondere Figur gemeinsam mit Amy Poehler und Leslye Headland entwickelt, sich auf den Leib geschrieben und das so durchgezogen hat. Respekt.
Zur Musik möchte ich kurz noch etwas sagen. Und zwar zwei Dinge: Erstens: Dieser Soundtrack hat die Serie perfekt begleitet. Hat Stimmung hervorgehoben, wo es passte. War zurückhaltend, sanft, wo es nötig war. Zweitens: Viele Lieder hörten sich an wie die Musik, die ich seit Jahren mag und höre. Aber es war kein einziges Lied darunter, das ich kannte. (Übrigens: Der Soundtrack eignet sich überhaupt nicht zum Schreiben, wie ich gerade beim Hören von Fan-Listen auf Spotify feststelle - dafür tritt er viel zu sehr in den Vordergrund.) Überraschend.
Klar habe ich mich mitten im Staffelfinale mehr als einmal gefragt, wie sie das wohl zu Ende bringen wollen. Je näher die Folge dem Ende der höchstens 30 Minuten kam, umso drängender wurde diese Frage in meinem Kopf, umso größer wurde das Fragezeichen. Als das erzählerische Ende dann erreicht war, war ich überrascht und erleichtert zugleich: Denn dieses Nicht-Ende war für mich ein gutes Ende. Tausendmal besser, als jedes "Huch, schon so spät, jetzt müssen wir den Topf aber zumachen"-Ende, das ich schon zu oft in meiner Serienguckerin-Laufbahn gesehen habe. Hah!
Ich bin eigentlich froh, dass ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass die Serie auf drei Staffeln angelegt ist (das hat Natasha Lyonne im Interview mit "The Hollywood Reporter" gesagt). Mit dem Wissen hätte ich dieses Ende, das nur ein vorläufiges ist, natürlich anders bewertet - weil meine Erwartungshaltung eine andere gewesen wäre. So habe ich die erste Staffel gesehen, finde sie gleichzeitig wunderbar schlüssig und mysteriös bis zum Schluss. Und wenn Netflix die Serie nicht verlängern sollte (was ich mir nicht vorstellen kann, die sehr, sehr vielen begeisterten Reaktionen auf unterschiedlichen Social-Media-Kanälen erwecken den Eindruck, dass die Serie von vielen Menschen geschaut und gebingt wurde) - werde ich sie als großartige Mini-Serie in Erinnerung behalten. Hach.
Aber natürlich, jetzt, da ich weiß, dass die Geschichte von Nadia und Alan weitergehen soll, bin ich gespannt und kann es kaum abwarten, weiterzuschauen. Es ist schade, dass ich dann, wenn es weitergeht, Erwartungen haben werde - die ich nicht ausschalten kann, höchstens dämpfen.
"Matrjoschka" wird eine der ganz wenigen Serien sein, die ich noch einmal gucke. Und zwar kurz nach dem ersten Mal. Da ich jetzt weiß, welche Gefühle, Überraschungen und Geheimnisse mich erwarten, kann ich die Serie dann analytischer schauen. Da ist noch einiges zu entdecken, denke ich.
Und vielleicht habe ich mit "Matrjoschka" auch schon die Serie gesehen, die am Ende des Jahres auf meiner Lieblingsserien-Liste auf Platz eins landet.
Die erste Staffel von "Matrjoschka" ("Russian Doll" im Original) ist bei Netflix verfügbar.