Mein erster Versuch, in "Die Sopranos" einzusteigen, war gescheitert. Rückblickend ist das eigentlich auch keine Überraschung: Das war Anfang der 2000er, als "Die Sopranos" im ZDF lief, ich war Mitte 20, schaute zwar gerne Serien, aber meine wahre Begeisterung für Serien entwickelte sich erst ein paar Jahre später. Und dass ich selbst nach drei oder vier Folgen mit den langsam erzählten Geschichten um Tony Soprano (James Gandolfini) und seinen Mafia-Männern nichts anfangen konnte, ist eigentlich nur logisch.
Natürlich ist das eine riesige Lücke. Denn es reicht nicht aus, nur vier Folgen zu kennen, um diese Serie und ihren Einfluss auf vieles, was danach kam und noch kommt, einschätzen zu können. In diesen Tagen kann man zwar wegen des 20. Jubiläums der Erstausstrahlung am 10. Januar viel über ganz unterschiedliche Aspekte der Serie nachlesen - doch das ist selbstverständlich nicht dasselbe, wie die Serie geschaut zu haben. Deswegen habe ich Ende November tatsächlich beschlossen, es noch einmal mit Tony und seinen Jungs zu versuchen. Mein Vorsatz: Dieses Mal würde ich die erste Staffel durchhalten und - sollte der Funke bis dahin nicht übergesprungen sein - danach erst aussteigen.
Um jetzt hier keine künstliche Spannung aufzubauen: Ja, der Funke ist übergesprungen. Kurz vorm Schreiben dieses Textes habe ich das Finale der fünften Staffel geschaut, und am Montag geht's mit Staffel 6 weiter. Dennoch: Es ist mir in den ersten Folgen wieder nicht gelungen, persönliche Anknüpfungspunkte bei der Hauptfigur zu finden. Eigentlich kein Wunder: Was hat dieser mittelalte, amerikanische Mann mit italienischen Wurzeln, der eine kriminelle Organisation anführt, in New Jersey in einem riesigen Haus lebt, meist grimmig schaut und Panikattacken hat, mit mir gemein? Außer der Haut- und der Haarfarbe: nichts. Da ich aber nun mit anderen Augen Serien schaue als noch Anfang der 2000er-Jahre, ist es bei bestimmten Serien kein Problem, wenn ich nichts finde, womit ich mich bei einer Hauptfigur identifizieren kann. Zumal ich bei "Die Sopranos" durch meinen ersten Guckversuch darauf vorbereitet war, dass ich nicht mit Tony Soprano mitfiebern würde. Gerade bei einer so hervorragend geschriebenen und großartig gemachten Serie wie dieser gibt es vieles, worauf man achten kann und was einen faszinieren kann. Mir war innerhalb der ersten zwei Folgen klar, was es bei mir sein würde: Tony und seine Frauen.
In seinem Arbeitsalltag in der Mafia-Welt ist Tony Soprano fast ausnahmslos von Männern umgeben - wenn Frauen anwesend sind, sind sie Sexobjekte oder Servicekräfte. Aber in der Nicht-Mafia-Welt, seinem Privatleben, das einen großen Teil der Handlung der Serie umfasst, sind die entscheidenden Bezugspersonen Frauen: seine Ehefrau Carmela, seine Tochter Meadow, seine Mutter Livia, seine Schwester Janice und seine Psychotherapeutin Dr. Jennifer Melfi.
Carmela Soprano (Edie Falco) ist eigentlich eine wohlhabende Hausfrau und Mutter aus der amerikanischen Vorstadt, wie man sie aus vielen popkulturellen Bezügen Ende der 90er-Jahre kennt: Sie kümmert sich um die Kinder - die Teenagerin Meadow und den etwas jüngeren Anthony junior, A.J. genannt - und das große Haus. Sie organisiert das Leben der Familie in Abwesenheit des im Job erfolgreichen Mannes. Sie sorgt dafür, dass er sich um fast nichts kümmern muss, wenn er von der Arbeit zurückkommt, und dass das Essen auf dem Tisch steht. Sie weiß grundsätzlich um die Geschäfte ihres Mannes, kennt aber keine genauen Details und will sie lieber auch nicht wissen. In dieser Ehe ist es nicht möglich, dass ihr Mann ihr von seinen Problemen im Job erzählt. Hin und wieder blitzt auf, dass sie sich durchaus ihrer gesellschaftlichen Position durch Tonys Macht bewusst ist und sie diese Position bewusst einsetzt. Aber das tut sie selten und auch nur, wenn nichts anderes hilft. Ob ihr das unangenehm ist oder nicht, finde ich schwer zu sagen. In einem Aspekt spielt Carmela spielt allerdings für Tony eine wichtige Rolle bei seinen Mafia-Geschäften: Sie repräsentiert an seiner Seite bei Familienfesten. Diese sind in der Sopranos-Welt immer auch öffentliche Auftritte, die Geschäftsinteressen dienen, denn es sind weit verzweigte Verwandtschaftsverhältnisse, auf denen die kriminelle Organisation aufbaut. Für Carmela steht felsenfest, dass ihr Sohn nicht in Tonys Fußstapfen treten soll. Und Tony sieht das genauso. In der Serie ist das kein Thema, daher haben die beiden das offenbar in den Jahren davor geklärt.
Als wir, das Publikum, mit der Serie in das Leben der Soprano-Familie einsteigen, toleriert Carmela es, dass Tony immer wieder Geliebte hat. Doch beim Fortschreiten der Serie wird das für sie zunehmend zum Problem, was ich als Zeichen dafür sehe, dass ihre Unzufriedenheit mit ihrer Rolle und ihrem Leben an Tonys Seite wächst. Genauso wie sie sich in Bezug auf die Geliebte emanzipiert, versucht sie das auch in Bezug auf das Familienvermögen. Hartnäckig bearbeitet sie Tony, damit er sich mit ihr gemeinsam Gedanken über die finanzielle Zukunft der Familie macht. Schließlich nimmt sie sich in der Folge "Mergers and Acquisitions" (S04E08) sogar eine hohe Summe aus seinen Geldverstecken - die er vor ihr geheimhält -, um sie für sich und die Kinder zu investieren. Aus beiden Unabhängigkeitsbestrebungen folgt schließlich, dass sie sich auch von ihm zu emanzipieren versucht. Die Trennung der beiden ist die logische Folge - und nach den Reaktionen des Umfelds zu urteilen ist das ein unkonventionelles Vorgehen in Italo-Mafia-Kreisen. Was wiederum Tony anfangs in Erklärungsnöte bringt und ihn in der Folge dazu zwingt, über seine Beziehung zu Carmela nachzudenken.
Meadow (Jamie-Lynn Sigler) kommt für mich überraschend gut damit klar, dass ihr Vater ein Gangsterboss ist. Sie wächst nicht in diesem Wissen auf, sondern kommt selbst dahinter und konfrontiert in der Folge "College" (S01E05) ihren Vater damit, als beide zusammen unterwegs sind, um Colleges für sie anzuschauen. Sie ist keineswegs schockiert. Es gibt zwar später immer mal wieder Situationen, in denen sie damit hadert. Doch deswegen gegen ihren Vater zu rebellieren, weil er mit Erpressung, Korruption und Mord sein Geld verdient, scheint ihr nicht in den Sinn zu kommen. Was aber auch daran liegt, dass sie - genau wie ihre Mutter - kein Interesse an Details zu haben scheint, fadenscheinige Lügen glaubt, weil sie anderenfalls ihr angenehmes Leben in Frage stellen müsste. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass Tony nie etwas riskieren würde, dass dazu führen würde, dass Meadow Details über seine Geschäfte erfährt. Tony liebt seine Tochter sehr, er ist stolz auf sie und zeigt immer mal wieder väterliche Beschützerinstinkte. Die Beziehung der beiden zueinander ist viel herzlicher als die zwischen Tony und seinem Sohn A.J.
Livia Soprano (Nancy Marchand) wird als ewig unzufriedene, meckernde, unfreundliche und manipulative alte Frau gezeigt. Wenn sie im Bild ist, trägt sie meist einen Haushaltskittel und hält sich in ihrem Haus auf (später dann im Seniorenheim). Sie wirft Tony bei seinen Besuchen oft vor, undankbar und unzuverlässig zu sein und ignoriert es in der Regel, wenn er etwas Nettes zu ihr sagt oder für sie tut. Ihr negatives, destruktives Verhalten gipfelt darin, dass sie wissentlich dazu beiträgt, dass ein Auftrag erteilt wird, Tony - also ihren eigenen Sohn - töten zu lassen. (Was allerdings so verschlüsselt passiert, dass ich zwei bis drei Wiederholungen der Szene in S01E11 brauchte, um zu verstehen, was gemeint ist.) Woraufhin er wiederum droht, sie zu töten oder töten zu lassen und den direkten Kontakt zu ihr abbricht. Die Beziehung zwischen Tony und seiner Mutter ist nicht erst schlecht, seit er erwachsen ist: In den Psychotherapie-Sitzungen spielt Livia häufig eine Rolle, wenn Tony von seiner Kindheit erzählt und von der Freudlosigkeit und Lieblosigkeit, die seine Mutter damals ausstrahlte und die sich auf ihn auswirkte. Basierend auf Tonys Schilderungen vermutet seine Psychotherapeutin, dass Livia eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat.
Livias natürlicher Tod in der Folge "Proshai, Livushka" (S03E02) erleichtert ihn, macht ihn fast froh, und das Reflektieren über die lieblose Mutter, die ihm, seinen Schwestern und seinem oft abwesenden Vater das Leben schwer machte, hilft ihm, sein eigenes Verhalten besser zu verstehen und vielleicht sogar zu ändern. Mich hat dieses so stark negative Mutterbild, was in den Staffeln 1 bis 4 von Livia gezeichnet wird, erschreckt. Und ich habe mich immer mal wieder gefragt, warum Erfinder und Drehbuchautor David Chase sich entschieden hat, die Mutter so darzustellen. Ja, das Abarbeiten an einer so kalten und ungerechten Mutter bietet viel Stoff für Therapiestunden. Aber war das tatsächlich der Hauptgrund, Livia so zu schreiben? Eine Wendung in Staffel 5 hat mich allerdings ein bisschen mit dieser Art, die Mutter zu zeichnen, versöhnt: Tonys Bild von seiner Mutter verändert sich nämlich dadurch, dass er in Episode 5 "In Camelot" zufällig die langjährige Geliebte seines verstorbenen Vaters kennenlernt. Erst scheint sie genau die Mutter zu sein, die er sich früher gewünscht hätte: herzlich, glamourös, kümmernd. Doch als er sie näher kennenlernt, stellt er fest, dass sie eigentlich rücksichtslos, wenig einfühlsam und egozentrisch ist. Und er versteht ein bisschen besser, warum seine Mutter so unzufrieden mit ihrem Leben war.
Die Beziehung zwischen Tony und seiner Schwester Janice (Aida Turturro) ist ebenfalls schwierig. Tony war in der Kindheit oft eifersüchtig, weil Janice vermeintlich mehr Aufmerksamkeit vom Vater bekommen hat. Außerdem ist er enttäuscht, dass sich Janice im Erwachsenenleben von ihm und der Mutter abgewandt hat, ihm die Mutter zum Kümmern überlassen hat und unterstellt ihr, als sie nach vielen Jahren wieder zurückkommt, dass sie eine Erbschleicherin sei. Ich hatte erwartet, dass Janice nach dem Tod der Mutter wieder verschwindet, doch sie bleibt ein Teil der Serie - was ich interessant finde, weil die Figur Seiten an Tony möglich macht, die durch die anderen Frauenfiguren nicht gezeigt werden können. Zwei Beispiele: Tony verachtet seine Schwester zwar dafür, dass sie einer russischen Pflegekraft in Staffel 3 die Beinprothese klaut. Doch nachdem zwei russische Schläger sie aus Rache verprügeln, schickt Tony den russischen Schlägern wiederum italienische Schläger auf den Hals. Denn dass seine Schwester angegriffen wurde, kann er nicht so stehen lassen. Sein Verständnis von Ehre und Stärke verlangt es, dass er hier aktiv wird. Das zweite Beispiel, in der Folge "Cold Cuts" (S05E10): Um ihre oft bei banalen Anlässen ausbrechende Wut in den Griff zu bekommen, macht Janice ein Wut-Management-Seminar mit. Als sie Tony davon erzählt, scheint er neidisch auf ihren Erfolg, darauf, dass sie dazu gelernt und sich entwickelt hat - und reizt sie so lange mit immer gemeineren Aussagen, bis sie irgendwann ausrastet. Was ihn wiederum erfreut.
Dr. Jennifer Melfi (Lorraine Bracco) ist phasenweise die wichtigste Frau in Tonys Leben. (Und bei jeder Szene mit ihr freue ich mich darüber, wie klug es von David Chase war, aus dem Therapeuten eine Frauenfigur zu machen.) Ihre Therapiestunden ermöglichen es uns, dem Publikum, einerseits in Tonys Kopf zu gucken und zu verstehen, wo er herkommt, wie er tickt und wie er sich entwickelt. Und andererseits spiegelt Dr. Melfi das Verhalten Außenstehender auf Tonys Geschäfte und Geständnisse: Sie ist fasziniert, angewidert und abgeschreckt zugleich von diesem Patienten, der in einer anderen Welt mit anderen Wert- und Moralvorstellungen zu existieren scheint als der Ihrigen. Damit übernimmt sie eine für uns wichtige Rolle. Zusätzlich verstärkt wird diese Rolle durch Melfis Gespräche mit Freunden und Freundinnen über die Mafia und ihre Andeutungen, dass sie einen solchen Patienten habe. Und später durch Sitzungen mit ihrem eigenen Therapeuten. Interessant ist auch: Es kommt sehr selten vor, dass ihre Welt Tonys Welt berührt. Doch in den wenigen Fällen, in denen das passiert, kämpft sie gegen ihre innere Faszination an und versucht eine längere Überschneidung der Welten zu verhindern. Doch Melfis Funktion geht natürlich weit darüber hinaus, eine Stellvertreterin für das Publikum zu sein. Sie ist das Korrektiv in Tonys Leben, das es ihm möglich macht, das eigene Verhalten zu reflektieren, den moralischen Kompass zu justieren, sich zu entwickeln. Zusätzlich stellt sie durch ihr Geschlecht, ihren Job, ihre Bildung, ihre Geisteshaltung und ihre Wertvorstellungen einen Gegenpol dar zu Tonys Welt, seinen Erfahrungen und seinem Leben. Tony wird durch Jennifer Melfi mit Ansichten außerhalb seines Männlichkeitskosmos konfrontiert. Auch wenn sie sich in der Regel mit ihrer Meinung zurückhält, regen ihn seine Stunden mit ihr an, sich besser in die Frauen in seinem Leben hineinzuversetzen.
Wie sehr Tonys Leben und Denken wiederum die Psychotherapeutin beeinflussen, lässt sich sehr gut in der Folge "Employee of the Month" ablesen (S03E04). Sie wird vergewaltigt, die Polizei kann den Fall nicht weiterverfolgen, obwohl Jennifer Melfi den Täter erkannt hat. Sie fühlt sich hilflos, verängstigt. Und spielt mit Rachegedanken, die dank Tony denkbar einfach umzusetzen wären: Wenn sie Tony von ihrer Vergewaltigung und dem Täter erzählen würde, würde er sofort alles daransetzen, den Täter nach Mafia-Art zu bestrafen. Doch Melfi widersteht der Versuchung und erzählt ihm, dass sie einen Autounfall hatte. Anders als die anderen wichtigen Frauen in Tonys Leben, ist sie die einzige, die weder von Tonys Position noch von seinen Geschäften profitiert. Ich bin gespannt, ob der Angriff auf sie in der letzten Staffel wieder aufgegriffen wird. Es gibt eine Sache, die mich am Handlungsstrang zwischen Dr. Jennifer Melfi und Tony Sopranos stört: Dass es tatsächlich eine Phase gibt, in der er in sie verliebt scheint und mit ihr ausgehen will. (Was sie natürlich ablehnt.) Das war - wie ich finde - erwartbar und unnötig zugleich.
Diese fünf Frauenfiguren existieren, um die Figur Tony zu erklären, sie zu entwickeln, sie herauszufordern. Alles, was von ihrem Tun und Denken gezeigt und thematisiert wird, steht im Verhältnis zu Tony. Das ist konsequent, weil "Die Sopranos" eine auf eine starke Hauptfigur zugeschnittene Serie ist. Doch gleichzeitig finde ich das schade. Von Carmela und Meadow würde ich gerne mehr sehen - von Dr. Jennifer Melfi natürlich auch.
Alle sechs Staffeln von "Die Sopranos" gibt's zum Beispiel bei Amazon, iTunes, Maxdome oder den Sky-Streamingdiensten. Oder auf DVD.
Hier noch fünf Lesetipps zu "Die Sopranos":
- Wie "Die Sopranos" das Gangstergenre verändert haben, hat der "Guardian" aufgeschrieben.
- "Variety" hat ein ausführliches Interview mit David Chase und seiner Drehbuch-Crew geführt.
- Für "The Cut" haben elf Autorinnen und Autoren aufgeschrieben, welche ihre Lieblingsszene in der Serie ist und was sie damit verbinden.
- Stirbt er oder lebt er? Alan Sepinwall und Matt Zoller Seitz diskutieren in ihrem gerade erschienen Buch "The Sopranos Sessions" unter anderem auch die Frage über das Schicksal von Tony Soprano im Serienfinale. Ihre Diskussion über das Ende wurde als Exzerpt bei "Vulture" veröffentlicht.
- Und schließlich: die besten amerikanischen 20 Drama-Serien seit "Die Sopranos", gekürt von der Redaktion der "The New York Times"