Der Tag, an dem ich mich von Saga Norén verabschieden muss, ist ein grauer Freitag hier in Hamburg: ganz feiner Niesel seit dem Morgen, grauer Dunst hängt über der Stadt. Angemessen für das Finale von "Die Brücke". Gab es überhaupt einen Sonnentag in der ganze Serie? Wenn, dann kann ich mich nicht an ihn erinnern. Zu sehr drängen sich die entsättigten Farben auf, die Bilder von dräuenden Wolken über der Brücke, die Schweden und Dänemark verbindet, die grausamen, bis ins Detail inszenierten Morde, die in den insgesamt 38 Folgen begangen wurden. Ich kann mich auch nicht erinnern, je eine der wichtigen Figuren in anderen Farben als grau, dunkelblau, dunkelgrün, braun oder schwarz gekleidet gesehen zu haben. Und doch war "Die Brücke" keine Serie, die mir aufs Gemüt geschlagen wäre, sondern eine, die mich begeistert hat. Was an der ungewöhnlichen Hauptfigur Saga Norén (Sofia Helin) lag.
Saga Norén ist eine Frau, wie ich sie weder im Fernsehen noch im Kino bisher gesehen hatte. Und es dauerte ein bisschen, bis ich sie für mich entdeckte. Was "Die Brücke" angeht, war ich nämlich keine Früh-Guckerin. Erst vor drei Jahren bin ich eingestiegen, nachdem ich von vielen gelesen und gehört hatte, dass diese Krimi-Serie etwas Besonderes ist - wegen der Ermittlerin. Schon Noréns Erscheinungsbild ist anders, als man das im Fernsehen gewohnt ist: Sie trägt immer dieselben, praktischen Klamotten. Eine Lederhose, eine Strickweste mit Reißverschluss, darüber einen langen Mantel. Grün-braun, matschfarben. Ihre Haare sind lang und blond, aber leicht unordentlich und etwas dünn in den Spitzen. Sie ist eine Frau, die wenig Gedanken an ihr Äußeres verschwendet und die sich morgens einmal die Haare kämmt und sich den Rest des Tages nicht mit ihren Haaren beschäftigt. Und die eigentlich mal zum Friseur müsste. Ja! Genauso ist das nun mal, wenn man viel arbeitet - man hat nicht viel Zeit fürs Aussehen. Was in anderen Serien höchstens als Mittel eingesetzt wird, um ein klischeehaftes Abgleiten einer Figur in Krankheit und/oder Verwahrlosung zu zeigen, ist hier - ganz ohne Makel - ein wichtiges Merkmal der Hauptfigur.
Auch wenn zuerst ihre wohltuend lebensnahe Erscheinung ins Auge fällt: Das Entscheidende bei Saga Norén sind ihre - wie sie es im Finale selbst nennt - "psychosozialen Schwierigkeiten". Bis sie das in der letzten Folge so sagt, hätte ich es als "psychosoziale Herausforderungen" bezeichnet, weil mir erst da klar wurde, dass sie darunter leiden könnte. Bisher machte es den Anschein: Sie ist, wie sie ist - und wer damit Probleme hat, ist selbst Schuld. Denn Saga Norén hat Charakterzüge, die den Umgang mit anderen Menschen erschweren: Sie braucht Routinen und Strukturen fast zwanghaft; sie sagt ehrlich, was sie denkt - ohne Rücksicht zu nehmen, ob sie damit Gefühle verletzt; sie hält fast zwanghaft alle Regeln ein; Kommunikation mit anderen Menschen ergibt für sie nur Sinn, wenn sie dem Austausch von Informationen dient. Sie erscheint gefühlskalt, ihr Gesicht ist oft frei von Mimik. Diese vermeintliche Gefühlskälte der Hauptfigur ist es übrigens auch, die verhindert, dass mir die grausamen Verbrechen und die tragischen Ereignisse aufs Gemüt schlagen.
Diese Figur hat mich von der ersten Minute an fasziniert, und je besser ich sie kennenlernte, desto faszinierter war ich. Es dauerte allerdings vergleichsweise lange, bis sie mir tatsächlich ans Herz gegangen ist, und ich mit ihr mitgelitten habe, wie ich das bei anderen Figuren oft relativ schnell tue. Ich kann nicht genau sagen, wie lange es dauerte, aber vermutlich die ganze erste Hälfte der ersten Staffel. Es war clever von den Autorinnen und Autoren rund um Hans Rosenfeldt, dieser ungewöhnlichen und schwer zugänglichen schwedischen Ermittlerin Saga Norén den dänischen Ermittler Martin Rohde (Kim Bodnia) zur Seite zu stellen, der sie erstens - stellvertretend für das Publikum - selbst kennenlernen und mit ihren befremdlichen Verhaltensweisen umgehen lernen muss und der zweitens empathisch und väterlich ist.
Spoilerwarnung: Wenn Sie Staffel zwei und drei noch nicht kennen und keine Details darüber erfahren wollen, sollten Sie ab hier besser nicht weiterlesen.
Richtig gut geschriebene Drehbücher erfreuen mich doppelt: Zuerst natürlich beim Gucken selbst, klar. Und zum zweiten Mal dann, wenn ich später darüber nachdenke und feststelle, wo und wann die Drehbuchautoren und -autorinnen clevere Entscheidungen gefällt oder gute Weichen gestellt haben. Bei "Die Brücke" könnte ich da viele Punkte nennen - Entscheidungen, die die Ermittlungen oder die Verbrechen betreffen und auch Entscheidungen, die die Figurenzeichnungen betreffen. Doch in diesem Text werde ich es bei wichtigen Punkte für die Protagonistin belassen. Bei einer Figur wie Saga Norén gibt es zwei besonders verführerische Fallen: Sie erstens früh in ein emotionales Dilemma zu führen und sie zweitens "normal" werden zu lassen, sie also als an die gängigen Konventionen anzupassen, wie Fernseh-Frauen zu seien, zu handeln und zu fühlen haben. Das erste richtig große emotionale Dilemma jedoch kam zum perfekten Zeitpunkt - am Ende der zweiten Staffel. Zwei Staffeln lang hatte ich Zeit, rasch Martin und etwas später Saga Norén ins Herz zu schließen. Und dann steht Saga Norén im Finale von S2 vor der Frage: Soll sie Martin wegen Mordes am Mörder seines Sohnes anzeigen, oder ist es moralisch vertretbar, es nicht zu tun? Wer Saga Norén bis dahin gefolgt ist, zweifelt keine Sekunde, welche Entscheidung sie treffen wird - obwohl ihr Martin mittlerweile näher steht als jeder andere Mensch, kann sie schließlich nicht aus ihrer Haut. Und doch fühlt man, dass diese Entscheidung für sie schmerzhaft ist.
Obwohl ich drei Staffeln lang immer wieder aufs Neue begeistert feststellen durfte, wie hervorragend das Drehbuch geschrieben wurde, hatte ich vor der finalen vierten Staffel tatsächlich Bedenken: Würden die Autorinnen und Autoren in die zweite Falle tappen und Saga Norén "anzupassen" und das als eine Art Erlösung zu verkaufen? Schließlich gibt es in Staffel 3 mit dem dänischen Ermittler Henrik Sabroe (Thure Lindhardt) einen neuen Menschen an ihrer Seite, der ihr etwas zu bedeuten scheint. Glücklicherweise lag ich mit meinen Bedenken daneben.
Spoilerwarnung: Wenn Sie Staffel vier noch nicht kennen und keine Details darüber erfahren wollen, sollten Sie ab hier besser nicht weiterlesen.
Es gibt zwar eine Erlösung (strenggenommen sogar zwei Erlösungen), aber ganz anderer Art: Sie bekommt endlich die Bestätigung, dass ihre Mutter tatsächlich Sagas Schwester misshandelt hat. Woraufhin sie in Tränen ausbricht. Und ich auf dem Sofa? Verdrücke zum ersten Mal in dieser Serie ebenfalls ein paar Tränen, weil mich diese Szene so sehr bewegt. Die nächste Erlösung: Als sie in der Psychotherapie erkennt, aus welchem Grund sie Polizistin geworden ist und dass es vielleicht gar nicht das ist, was sie eigentlich tun will. (Okay, dieser Durchbruch in der erst in Staffel 4 begonnenen Psychotherapie kommt überraschend schnell, aber das können wir dem Team mal durchgehen lassen, finde ich.) Es folgt ein der Figur Saga Norén würdiges und gleichzeitig angemessen nüchternes Ende: Sie rettet eine blutig-brenzlige Situation, verabschiedet sich für ihre Verhältnis relativ emotional von Henrik, reitet in ihrem Porsche über die Brücke in den Sonnenuntergang und löst sich vom Polizistinnendasein.
Spoilerwarnung zu Ende: Ab hier können Sie gefahrlos weiterlesen.
Vermutlich hätte man noch viele weitere Serien-Mord-Geschichten erfinden und sie von Saga Norén und einem dänischen Ermittler oder einer Ermittlerin lösen lassen können. Und vermutlich hätte es noch ein paar Staffeln gedauert, bis das langweilig geworden wäre, weil die Macher und Macherinnen ihr Handwerk so gut beherrschen. Aber das hätte die Hauptfigur entwertet und ihre eigene Geschichte verwässert. Das Finale für Saga Norén kommt zum richtigen Zeitpunkt und fühlt sich gut an, obwohl mein Anspruch an das Ende bei hervorragend geschriebenen Serien sehr hoch ist und oft nicht erfüllt wird. An diesem grauen, vernieselten Freitag nehme ich Abschied - frei von Wehmut, aber voller Freude, dass ich die Chance hatte, Zeit mit dieser ungewöhnlichen und herausfordernden Figur zu verbringen. Mach's gut, Saga!
Alle Doppelfolgen von Staffel 4 sind bis Februar 2019 in der ZDF-Mediathek verfügbar, die finale Doppelfolge läuft am 9. Dezember im ZDF. Staffel 4 ist zum Beispiel bei Amazon oder iTunes abrufbar.
Staffel 4 gibt's seit Freitag auf DVD, die anderen Staffeln natürlich auch.
Zum Schluss noch ein Hörtipp in eigener Sache:
Folge 45 des DWDL-Podcasts "Seriendialoge" dreht sich ums Lachen beim Gucken. Was ist das überhaupt: Humor in Serien? Und wie bringt man Leute zum Lachen? Über die Dialoge, die Situationen oder doch die Figuren? Ein Gespräch mit "Das Institut"-Drehbuchautor Robert Löhr, in dem es auch um "Modern Family", "Extras" und das Problem der deutschen Comedy geht.
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