Die Erzählform Buch und die Erzählform Serie stehen in einem besonderen Verhältnis zueinander. Sie konkurrieren um die Zeit der Konsumierenden, sie werden miteinander verglichen (besonders von Journalisten, die für das Feuilleton schreiben) und sie profitieren voneinander. Denn, wie man in den vergangenen Monaten besonders gut sehen konnte: Ohne Romane wäre die Serienlandschaft um einiges ärmer und schwächer.

Vier Beispiele allein aus den vergangenen sieben Wochen: "13 Reasons Why", "The Handmaid's Tale", "American Gods", "I Love Dick". Vier sehr unterschiedliche, herausragende Bücher, die als Serien umgesetzt wurden. Und alle vier sind zu Serien geworden, über die diskutiert wird. Klar, oft steht im Mittelpunkt der Diskussion das Thema der jeweiligen Geschichte. Denn alle vier Romane widmen sich verschiedenen Themen (Teenager-Leiden, die Position der Frau in einer dystopischen Gesellschaft, die Rolle von Göttern in einer sich verändernden Gesellschaft, die Position der Frau in der Gegenwart).

Doch beim Gucken der Serien wird schnell klar: Hier kann kraftvoll und ausdauernd erzählt werden, weil die Vorlage sehr viel hergibt. Komplexe Charaktere, die so gut herausgearbeitet sind, dass man mit ihnen glaubhaft Geschichten erzählen kann, die das Publikum fesseln. Man merkt diesen Figuren an, dass sie reifen durften, dass sie teilweise über Jahre erschaffen wurden. Und vielleicht sogar nicht unbedingt erschaffen wurden, um ein bestimmtes Thema zu transportieren, sondern weil sie dem Autoren oder der Autorin aus der Hand geflossen sind und ein Eigenleben entwickelt haben. Figuren, die leben. 

Beispiel "The Handmaid's Tale": Die erste Staffel umfasst fast die komplette Handlung des Romans "Der Report der Magd" von Margret Atwood. Für die zweite Staffel stehen die Drehbuchautoren und -autorinnen nun vor der Herausforderung, die Handlung weiterzuschreiben, und zwar auf dem Niveau der Atwood'schen Geschichte. Aber: Ich mache mir keine Sorgen, weil sie in einem ausgearbeiteten Universum schreiben können, mit Figuren, die bereits das Eigenleben haben, von dem ich oben gesprochen habe. Die Figuren sind von Margret Atwood so wunderbar facettenreich angelegt, dass man sich in sie hineinversetzen und einfach beobachten kann, wie sie weiterleben. (Ein Unterfangen, das bei "The Leftovers" ja auch sehr gut gelungen ist, die Serie musste sich ab Staffel 2 vom Buch lösen.) Ich habe "Der Report der Magd" gelesen, als ich 17 oder 18 war, das Buch hat mich nachhaltig beeindruckt und beschäftigt. Es gehört zu einem der Bücher, das ein Gefühl bei mir hinterlassen hat, das sich seitdem zuverlässig immer dann einstellt, sobald ich den Titel des Buches irgendwo höre oder lese. Wie ein dunkler Schatten, der sich kurz über einen legt. Genau dieses Gefühl haben auch die Bilder und der Trailer erzeugt, die ich bisher von der Serie sehen konnte. Außerdem haben sie bei mir das Bedürfnis erzeugt, das Buch dringend noch einmal zu lesen.

Bei der Umsetzung hervorragender Bücher stellt sich eine entscheidende Frage: Wie erzähle ich, um gleichzeitig für Buch-Kenner und für Buch-Nichtkenner interessant zu sein? Ein einfaches Abbilden (sofern überhaupt möglich) könnte die Kenner-Gruppe langweilen, eine zu starke Abweichung dagegen könnte sie verschrecken. Beides ist schwierig, weil besonders diejenigen, die den Stoff bereits kennen (und im Ideafall lieben oder faszinierend finden), auf die Nachricht des Verfilmens reagieren und dafür sorgen, dass das Gesprächsstoff wird, bevor die Serie fertig ist. Also den nötigen Buzz erzeugen. Wer das Buch kennt, sollte idealerweise auch die Serie gucken wollen. Bei "Outlander" ist diese Balance gut gelungen: Fans der Buch-Reihe von Diana Gabaldon mögen die Umsetzung, die Autorin ist an der Produktion der Serie beteiligt, schreibt teilweise auch an den Drehbüchern mit.

Beispiel "American Gods": Obwohl ich einige Neil-Gaiman-Bücher gelesen (und sie geliebt) habe, war "American Gods" nicht darunter. Das habe ich als Vorbereitung auf die Serie nachgeholt und war danach besonders gespannt auf die Umsetzung dieser machtvollen Erzählung. Das Fragmentarische, die Einschübe, die eine große Rolle spielen, sind nur schwer fürs Fernsehen zu übersetzen, dachte ich. Doch ich hatte meine Rechnung ohne Bryan Fuller und Michael Green gemacht: Der Auftakt der Serie ist so inszeniert, dass er ganz lässig und selbstverständlich dem Charakter des Buches treu bleibt - die beiden Showrunner sind hier ein besonderes Risiko eingegangen, denn ein Einstieg wie dieser könnte Buch-Nichtkenner vor den Bildschirmen sehr verwirren und in der Konsequenz verschrecken. 

Dass eine Roman-Adaption unter Umständen schwierig ist - auf "American Gods" klebte ja dieses Label "schwer verfilmbar" -, gilt auch für "I Love Dick". Das Buch von Chris Kraus besteht aus Briefen, die die Protagonistin und ihr Ehemann an einen Mann namens Dick schreiben, den sie über alles begehrt. Einen Brief-Roman verfilmen? Hm. Jill Soloway, die für ihre Serie "Transparent" bereits gefeiert wurde, hat sich dieser Herausforderung gestellt. Und herausgekommen ist eine Serie, die Kritiker begeistert - darunter auch viele, die das Buch kennen. Ich selbst habe bisher nur den Piloten gesehen, als er in der Pilot-Season von Amazon Video vorgestellt wurde. Er hat mir Lust auf mehr gemacht, ich freue mich schon, am Wochenende endlich weitergucken zu können. Ob ich danach das Buch lesen möchte, weiß ich allerdings noch nicht.

Bei "13 Reasons Why" bin ich ebenfalls unentschlossen: Einerseits finde ich es spannend, vergleichen zu können, wie sich Roman und Adaption voneinander unterscheiden. Andererseits ist mir die Serie so nah gegangen, dass ich mir nicht sicher bin, ob erstens das Buch "Tote Mädchen lügen nicht" von Jay Asher dieselben Gefühle erzeugen kann und zweitens ob, ich das überhaupt noch einmal durchleben will, sollte mir das Buch auch so nahe gehen. Im Fall dieser Serie bin ich übrigens, anders als bei "The Handmaid's Tale", der Meinung, dass sie nicht über den Roman hinaus fortgesetzt werden sollte. Allerdings nicht, weil ich der Kraft der Figuren misstraue, sondern weil die wichtigste Figur in der zweiten Staffel nicht vorkommen kann. Außer: Die zweite Staffel ist zeitlich vor der ersten angesiedelt. 

Das Nachdenken über die Beziehung zwischen Buch und Serie macht mir übrigens gute Laune, weil ich mir gerade vorstelle, welche wunderbaren Bücher noch für Adaptionen entdeckt werden könnten. Und, andersherum, welche wunderbaren Bücher ich dank Adaptionen noch entdecken werde.

Und zum Schluss noch einen Hörtipp und ein paar Gucktipps: 

Der DWDL.de-Podcast "Seriendialoge" ist in die vierte Staffel gestartet - und zwar mit einem Realitätscheck zu "Star Trek". Ich habe mit Physikprofessor Dr. Metin Tolan von der TU Dortmund darüber gesprochen, ob die Zukunftstechnik, die in der Science-Fiction-Reihe zu sehen ist, wissenschaftlich gesehen realistisch ist. 

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Herrlich fies: Die Drama-Serie um den korrupten und drogensüchtigen Bürgermeister des bayerischen Örtchens "Hindafing" läuft ab 16. Mai dienstags in Doppelfolgen um 20.15 Uhr im BR. Alle Folgen sind bereits jetzt in der Mediathek verfügbar. Wer sich vor dem Gucken genauer informieren möchte, dem kann ich die Rezension der "Süddeutschen Zeitung" empfehlen: "Crystal Meth im Gemeinderathaus"

Die dritte Staffel der wunderbaren Comedy "Unbreakable Kimmy Schmidt" ist ab 19. Mai bei Netflix verfügbar.

Jetzt zum wirklich Wichtigen: Wo kann man das gucken, über das ich schreibe?

"13 Reasons Why": Nur bei Netflix verfügbar.

"The Handmaid's Tale": Ist seit Ende April in den USA bei Hulu zu sehen. In Deutschland leider noch nicht verfügbar. Aber das Buch gibt's hier natürlich auch, es heißt auf Deutsch "Der Report der Magd" von Margaret Atwood.

"American Gods": Gibt's bei Amazon Video (Prime), immer montags nach Ausstrahlung in den USA ist eine neue Folge verfügbar.

"I Love Dick": Seit Freitag nur bei Amazon Video (Prime) verfügbar.

"Outlander": Die beiden bisherigen Staffeln gibt's zum Beispiel bei den Streaminganbietern Amazon Video, iTunes und Maxdome. Netflix hat die erste Staffel im Angebot. 

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