Früher, in der guten alten TV-Zeit, war es der Ausdruck höchster Verachtung, wenn eine Person eine andere anspuckte. Oder - pfui! - auf dessen Grab spuckte. Diese gute alte Zeit haben wir 2015 offenbar endgültig hinter uns gelassen. Pinkeln ist das neue Anspucken. Glauben Sie mir nicht? Ich habe zwei Beweisfotos für diese Entwicklung:
Das obere stammt, wie am Namen "Underwood" auf dem Grabstein zu erahnen ist, aus der Serie "House of Cards". Genauer: Aus der ersten Folge der dritten Staffel, die seit Februar zu sehen ist. Frank Underwood pinkelt - oh Schreck! - auf das Grab seines verhassten Erzeugers.
Das zweite Foto stammt auch aus einer Netflix-Produktion: "Sense8", am 5. Juni veröffentlicht. Wolfgang, einer der Protagonisten, uriniert bei einer Beerdigung in Berlin auf ein Grab - ebenfalls das seines Vaters. Und noch eine Parallele: Die Pinkel-Szene findet gleich in der ersten Folge statt. Zufall? Zitat? Keine Ahnung. Ist mir einfach aufgefallen. Ich werde im Auge behalten, ob David Fincher ("House of Cards") und die Wachowskis ("Sense8") hier die Grundsteine für einen Trend gelegt haben. Oder ob es eine Ausnahme bleibt und die Redewendung "jemandem aufs Grab spucken" nicht in "jemandem aufs Grab pinkeln" geändert werden muss.
In der vergangenen Woche habe ich darüber geschrieben, welch großen Einfluss Serien auf uns haben und wie wichtig es ist, dass wir uns dessen bewusst sind und darüber reden. Heute möchte ich erzählen, dass ich mich manchmal diesem Einfluss entziehen muss, weil er mir zu sehr unter die Haut geht, weil ich nicht ertragen kann, was die Serie mit mir macht. Und da meine ich nicht, dass ich mich vor irgendetwas erschrecke oder zu viel Blut fließt (ich mag guten Splatter sehr gerne!) oder dass ich wie bei "Grey's Anatomy" heulen muss, weil ein Charakter stirbt. Die HBO-Serie "The Leftovers" ist so ein Fall. Ich hatte davon auf US-Seiten gelesen, und die Ausgangssituation hörte sich vielversprechend an: Zwei Prozent der Weltbevölkerung verschwinden von einer Sekunde auf die andere - was passiert mit den Zurückgebliebenen? Die kreativen Köpfe dahinter: Tom Perrotta (Autor des gleichnamigen Buches) und Damon Lindelof (Showrunner von "Lost").
Die erste Folge war großartig - fesselnd, bewegend, unerwartet. Die zweite auch. Und doch schaute ich mir die dritte nicht an. Erst dachte ich, es liege daran, dass ich zu dem Zeitpunkt so viele andere Serien zu gucken hatte. Doch nach ein paar Tagen und intensivem In-mich-Reinhorchens wurde mir klar: Es widerstrebt mir, die Serie weiterzugucken. Trotz der spannenden Geschichten, den guten Schauspielern. Ich konnte das Leid einfach nicht ertragen. Das furchtbare Gefühl, dass diesen Figuren das Schlimmste widerfahren ist, was ich mir vorstellen kann: Sie alle haben mindestens einen, viele auch mehrere geliebte Menschen verloren - einen Freund, einen Verwandten, ein Kind, ja ein Baby, einfach so, von jetzt auf gleich. Und sie wissen nicht, warum. Und sie wissen nicht, ob dieser Mensch tot ist, wie es ihm geht oder ob er vielleicht sogar wiederkommt. Wenn es in der Serie nur darum gegangen wäre, dass die Menschen gerade erst verschwunden sind, hätte ich eventuell damit umgehen können, weil der Schmerz frisch gewesen wäre und ich einfach hätte mitheulen können. Aber die Serie setzte ein Jahr nach dem Ereignis ein. Die Trauer ist Teil des Lebens geworden, die Zurückgebliebenen haben sich leergeheult, die Arten, damit umzugehen, sind sehr unterschiedlich. Diese größtenteils unverarbeiteten Gefühle, die riesigen Narben, die dort zu spüren waren, konnte ich nicht ertragen. Hat die Serie etwas in mir verändert? Ich glaube nicht. Mir ist nur wieder klargeworden, dass ich seit der Geburt meiner Tochter vor fast vier Jahren hin und wieder von bestimmten Gefühlen übermannt werde und ich nichts dagegen tun kann. Ich nenne es meine "Mutterwunde".
Jetzt zum wirklich Wichtigen: Wo kann man das alles gucken, über das ich schreibe?
"House of Cards", Staffel drei: Es handelt sich zwar um eine Netflix-Produktion, in Deutschland sind allerdings bisher nur Staffel eins und zwei dort zu sehen. Staffel drei gibt's nur bei der Konkurrenz: unter anderem bei Amazon Instant Video, iTunes und Sky.
"Sense8": Die erste Staffel wurde am 5. Juni 2015 weltweit veröffentlicht. Die Serie gibt es nur bei Netflix.
"The Leftovers": Die HBO-Serie startete im Juni 2014 in den USA, in Deutschland ist sie bei Sky zu sehen. Die zweite Staffel ist derzeit in Arbeit.
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