Diese Telegeschichte beginnt am 30. Oktober 1976 in einem Studio in Köln. Von dort wird an diesem Abend die neueste Ausgabe der Talkshow „Je später der Abend“ live gesendet. Das Studio ist wie üblich dunkel gehalten. Selbst das anwesende Publikum ist kaum zu erkennen. Einzig die Sitzgruppe in der Mitte ist hell erleuchtet. Sie besteht aus zwei Sesseln und einem Zweisitzer. Beige gehalten mit gelben Sitzkissen. Dazu zwei gelbe Tische. Ein Look, wie er in vielen Wohnzimmern der 70er-Jahre zu finden ist. Für Moderator Hansjürgen Rosenbauer wird es nach zwei Jahren die letzte Ausgabe sein. Das steht schon vorher fest.
Als letzte Gäste begrüßt er den Liedermacher Knut Kiesewetter und „zwei ältere Damen“, wie er sagt. Sie teilen sich den Zweisitzer. Es sind die Gewerkschafterin Elfriede Kretschmer und Leni Riefenstahl. Letztere ist zu diesem Zeitpunkt bereits 74 Jahre alt. Es ist, wie die umstrittene Regisseurin im Verlauf selbst erklärt, ihr erster Besuch einer solchen Produktion. Sichtlich angespannt lauscht sie daher aufmerksam ihrer Vorstellung und bemüht sich dabei, ein Lächeln auf ihren Lippen zu bewahren. Sie scheint zu ahnen, was ihr gleich bevorsteht.
„Verlockende Schönheit“
Anstatt die Regisseurin direkt anzusprechen, wählt Rosenbauer den Umweg über Elfriede Kretschmer, um das Gespräch zu eröffnen. Er fragt sie, wann sie das erste Mal den Namen Riefenstahl gehört habe. Ihre Antwort richtet sie direkt an die Filmemacherin: „Wohl durch den Film ‚Blaues Licht‘, den Sie gemacht haben und der mich sehr von der Technik her fasziniert hat. Und später durch die anderen Filme, […] die gegen die ganze Menschheit waren.“ Damit meint sie vor allem den Film „Triumph des Willens“ über den Reichsparteitag der NSDAP im Jahr 1934 sowie die beiden Filme über die Olympischen Spiele im Jahr 1936 in Berlin („Fest der Völker“ und „Fest der Schönheit“). Filme, die heute als nationalsozialistische Propagandafilme eingestuft werden, weil sie die menschenverachtenden Ideale des Nationalsozialismus und das brutale NS-Regime verherrlichen. Der Autor Lutz Kinkel wird Riefenstahl später als die Frau beschreiben, die „dem Bösen eine verlockende Schönheit verliehen hat.“.
Ihre Filme sind nämlich zugleich ästhetisch beeindruckende Werke, die in Schnitt, Bildkomposition und technischer Umsetzung wegweisend sind und Standards setzen, die bis heute gelten. Harald Martenstein bringt ihr Lebenswerk im Tagesspiegel auf den Punkt: „Wir finden heute ihren ästhetischen Einfluss fast überall, in der Parfümwerbung, in den Videoclips, in den Sportreportagen. […] So umstritten Riefenstahls Biographie auch sein mag - ihre Methode, einen Turmspringer zu fotografieren, ist unumstritten und wird es bleiben.“ Sie ist eine der bedeutendsten Regisseurinnen der Filmgeschichte. Das ist bereits 1976 klar.
Unklar ist hingegen, wieviel Schuld sie im Dienst des NS-Staates hierbei auf sich genommen hat. Für Elfriede Kretschmer ist der Fall klar. Sie sagt, dass „keiner - zumindest keiner, der in einer Großstadt wohnt - sagen kann, er hat nicht gewusst, was los war.“ Es dauert also keine fünf Minuten, bis der jahrelange Vorwurf gegen Leni Riefenstahl auch in dieser Runde auf den Tisch kommt. Sie bestreitet nämlich, dass ihre Arbeiten Propagandafilme gewesen seien und sie das damalige Regime bewusst unterstützt habe. „Triumph des Willens“ sei für sie „ein reiner Dokumentarfilm“ gewesen, den sie völlig „unabhängig und nach rein künstlerischen Gesichtspunkten“ gedreht habe. Eine Ideologie des Nationalsozialismus oder gar eine Einflussnahme der Regierung verneint sie kategorisch.
„Das muss man einmal glauben.“
Für Elfride Kretschmer, die der gleichen Generation wie Riefenstahl angehört, ist diese Geschichte nicht schlüssig. Sie stellt die Rechtfertigung für ihre „Rattenfängerfilme“ mehrfach in Frage: „Wie konnte man? Wir waren ja schon Menschen um 30 herum, wir haben doch gewusst, was wir machen. […] Gewusst, was die Umwelt brachte, das haben wir.“ Zunehmend angefasst will Riefenstahl diese Vorwürfe abschmettern: „Meine Eltern waren politisch nicht interessiert, ich auch nicht.“ Zum Zeitpunkt der Machtergreifung und der Bücherverbrennung sei sie außerdem bei Dreharbeiten im Ausland gewesen und habe nichts mitbekommen. „Ich habe damals nicht voraussehen können und viele andere Millionen auch nicht, was einmal geschehen würde. Und das muss man einmal glauben.“
Im Verlauf des Gesprächs fühlt sich Riefenstahl zunehmend in die Enge getrieben. Obwohl man ihr anmerkt, dass sie mit all diesen Vorwürfen zuvor Dutzende Male konfrontiert worden ist, reagiert sie mehrfach aufbrausend: „Ich werde seit Jahrzehnten verfolgt, wie eine Hexe im Mittelalter. Und da habe ich eine ganz empfindliche Haut bekommen. Ein Rufmord ist mit meinem Namen gemacht worden, der unheimlich ist. Da müssen Sie verstehen, dass ich da nicht unemotionell empfinden kann.“
Eine weitere Anschuldigung der Runde lautet, ihre Werke bestünden ausschließlich aus Perfektionismus und Reinheit, aus einer Überhöhung des Schönen. Das Schwache oder Unvollkommene habe in ihrer Welt keinen Platz. Ein Vorwurf, der sich insbesondere gegen ihre Olympia-Filme richtet, in denen visuelle Überhöhungen und körperliche Überformungen dominieren. Das kann Riefenstahl nicht für sich gelten lassen. „Ich hatte 30 Kameraleute, jeder hat was gefilmt, und das ist im Film drin. Das war so. Da ist nichts gestellt, da ist nichts gefälscht.“ Dass es hierbei nicht zuletzt um die Umformung der Realität durch Auswahl und Montage geht, um die Kameraeinstellungen, die sorgfältig ausgewählt wurden, bis bloß noch eine stilisierte Perfektion, eine fast übermenschliche Kraft übrig bleibt, will sie nicht wahrhaben. Für sie steht hinter den Aufnahmen keine Ideologie, keine Überzeugung, kein Weltbild.
Etwas Nicht-Ästhetisches zu zeigen, sei schlicht „nicht ihr Beruf“. Schon als Kind wäre sie „im Optischen aufgegangen“. Einzig ihre Liebe zur Schönheit, ihre Natur als Ästhetin bilde den Antrieb für ihre Filme. Und da sie diese rein aus ästhetischer Überzeugung heraus gemacht habe, kann ihr Olympiafilm gar nicht politisch sein. Vielmehr ist sie sich sicher: „Ob ich den nun für Russland gemacht hätte oder für Japan, ich hätte ihn nicht anders machen können. Es ist meine Handschrift.“
„Was mir da immer angehängt wird.“
In ihren „Memoiren“, die sie im Jahr 1987 auf knapp 1000 Seiten veröffentlicht hat, widmete sie dem Talkshowauftritt ein eigenes Kapitel. Darin beklagte sie sich scharf über den Verlauf des Abends, in dem sie sich wie in einem „Verhör vor einem Tribunal“ gefühlt habe. Es ist bemerkenswert, dass sich Riefenstahl offenbar am meisten an der Frage störte, warum in ihrem Olympiafilm „nur schöne, edel gestaltete Menschen gezeigt werden“. Ihre Replik einst im Studio lautete darauf: „Was mir da immer angehängt wird, dass ich sie schön gemacht habe, ist mir ein Rätsel. Athleten sehen nun einmal etwas trainierter aus wie der Mann mit dem dicken Bauch. Dafür kann ich doch aber nichts. Ich habe sie ja nicht gezaubert.“ Es handelte sich um eine trotzig formulierte Antwort, deren Naivität erschütternd wirkte. Sie unterstrich ihre hartnäckige Weigerung, auch nur in Betracht zu ziehen, was der eigentliche Vorwurf dahinter sein könnte.
Diese absolute Ablehnung einer nationalsozialistischen Ästhetik, die über die gezeigten Motive hinausgeht, drückte sie in ihrer Autobiografie einige Zeilen später erneut aus. Dort äußerte sie ihr Erstaunen darüber, dass in ihren Fotografien von den Mitgliedern des afrikanischen Nuba-Stammes eine solche NS-Ästhetik ebenfalls erkennbar sein soll. „Daß die Bilder ‚meiner‘ Nuba an die ‚SS‘ erinnern, darauf wäre ich nie gekommen. […] Überzeugte Nationalsozialisten waren doch Rassisten und ließen neben blonden Ariern nichts gelten. Wie verträgt sich das mit meiner Freundschaft und Liebe zu den Schwarzen Nuba?“
Sie kann scheinbar nicht anerkennen, dass die nationalsozialistische Wirkung ihrer Bilder nicht allein in den Personen zu suchen ist, die sie ablichtet. Sie manifestiert sich genauso in der Art und Weise, wie sie diese Menschen visuell darstellt und glorifiziert. Ob der verherrlichte Körper nun "arisch" oder "farbig" ist, spielt keine Rolle. Es geht um ihre Handschrift und um das Menschenbild, das dahinter steht.
Vor dieser Ignoranz ist dann auch ihr ironisch gemeinter Kommentar zu verstehen, dass sie bei Unterwasseraufnahmen darauf achten müsse, „keine ‚braunen‘ Fische“ zu fotografieren.
Ein letzter Film
Rund 25 Jahre nach ihrem Auftritt bei „Je später der Abend“, am 15. August 2002, widmete der deutsch-französische Kultursender Arte der Regisseurin anlässlich ihres 100. Geburtstags einen Themenabend. Dieser begann mit der Fernsehpremiere ihres neuen Films. Ihr erster seit 48 Jahren und es sollte ihr letzter werden.
Im Alter von 72 Jahren entdeckte Riefenstahl ihre Leidenschaft für das Tauchen und machte in Kenia ihren Tauchschein. Danach unternahm sie rund 2.000 Tauchgänge im Roten Meer, auf Kuba, den Bahamas, den Malediven, den Seychellen, in Indonesien, Mikronesien, Papua-Neuguinea und in der Karibik. Ihr Spätwerk mit dem Titel „Impressionen unter Wasser“ versammelte Naturaufnahmen von diesen Expeditionen. Aufgenommen größtenteils von ihrem Lebensgefährten und Tauchpartner Horst Kettner. Arrangiert ohne gesprochenen Kommentar, bloß unterlegt mit Synthie-Musik von Giorgio Moroder.
Das Ergebnis bestach zweifellos durch eindrucksvolle Aufnahmen von Fischen, Korallen und anderen Unterwassertieren, die durch eine durchdachte Montage kunstvoll miteinander verwoben waren. Als „elegant geschnittenes Unterwasserballett“ bezeichneten die Oberösterreichischen Nachrichten das Werk. Ein Film, in dem es „kein zweitrangiges Material“ zu sehen gibt, hieß es in der Berliner Morgenpost. Mechthild Zschau lobte im Tagesspiegel Riefenstahls „präzises Gespür für Rhythmus und Farben“, stellte allerdings zugleich fest, dass die Bilder „der ideale Stoff zum Wegdösen“ wären, mit denen man sich aus „dem schmuddeligen Alltag“ wegziehen lassen könne, „hinein in den ewigen Traum von schwebender Harmonie.“
Als ein Plädoyer für den Schutz der Unterwasserwelt wollte Riefenstahl ihre Arbeit verstanden wissen. Daher stellte sie ihr ein Vorwort voran, das sie selbst einsprach. „Es ist mein Herzenswunsch, dass meine Aufnahmen dazu beitragen, den Menschen bewusst zu machen, was sie verlieren, wenn es ihnen nicht gelingt, die Zerstörung der Riffe zu verhindern.“ Bewusst verzichte sie auf jede Erzählung, weil „die Bilder ohne Kommentar schöner wirken“. Insofern, so der Journalist Rainer Rother, sei auch ihre harmlose Natur-Doku ein „echter Riefenstahl-Film“ gewesen, der „den Schwund von Vielfalt und Schönheit eben nicht zeigt“. Von der Bedrohung, vor der Riefenstahl eingangs warnte, war nichts zu spüren. Sie war ausgeblendet, von Schönheit verdrängt und überlagert. Es kostete Anstrengung, sie sich beim Anblick der überwältigenden Bilder präsent zu halten.
Ein Rundgang durch ihr Leben
Nach dem Aufmarsch der Fische hielt der Arte-Themenabend im Jahr 2002 als nächstes die Fernsehpremiere der Sendung „Die Maßlosigkeit, die in mir existiert“ bereit. Ein einstündiges Interview, das Sandra Maischberger mit Leni Riefenstahl zu ihrem bevorstehenden Jubiläum führte. Dafür begrüßte sie die Moderatorin zu einem Rundgang durch ihr Haus im Bayerischen Pöcking am Starnberger See. Ein Rundgang durch ihr Leben. Stolz präsentierte sie ihre analogen und digitalen Schnittplätze sowie ihr beeindruckendes Archivsystem, in dem jeder Schnipsel über ihr Leben sorgfältig geordnet und abgelegt war.
Im Gegensatz zu Hansjürgen Rosenbauer 25 Jahre zuvor ging Maischberger geschickt und behutsam mit ihren Fragen auf die Regisseurin zu. Dadurch gewann sie Riefenstahls Sympathie. Vielleicht etwas von ihrem Vertrauen. Sie erreichte dies zudem durch behutsame Berührungen und dadurch, dass sie der Filmemacherin mehrfach schmeichelte und ihr Ego bauchpinselte.
Dennoch fiel das Fazit nach einer Stunde ernüchternd aus. Neue Erkenntnisse kamen nicht zutage. Zu oft hat sich Riefenstahl für die ewig gleichen Vorwürfe rechtfertigen müssen. Längst waren ihre Geschichten und Erklärungen einstudiert und zum hundertsten Mal abspulbereit. Daher verglich sie Reinhard Krause in der "taz" mit einer Hütchenspielerin, die „Maischberger Deckel um Deckel lüften ließ - und nirgends war eine braune Perle zu finden.“
Wie routiniert sich diese Begründungen bei ihr eingeschrieben hatten, wurde darin deutlich, dass sie Maischberger stellenweise nahezu identische Antworten gab wie Rosenbauer vor 25 Jahren. Hier liegt die Relevanz der beiden Fernsehauftritte. Durch ihre Kombination oder genauer gesagt durch ihr Gegenüberstellen werden Riefenstahls rhetorische Strategien und einstudierten Erklärungsmuster offengelegt, die sie über ein halbes Jahrhundert perfektionieren konnten.
So zog sie sich erneut auf ihre ästhetische Natur zurück, die derart ausgeprägt sei, dass sie gar kein Interesse daran entwickeln könne, „hässliche Dinge zu fotografieren“. Deswegen wäre es undenkbar gewesen, den Reichsparteitag-Film wie eine Pflichtübung abzuliefern – als „Dienst nach Vorschrift“ im Stil eines „Wochenschau“-Beitrags. „Ich könnte das gar nicht. Es liegt mir nicht, Schlechtes zu machen.“ So einfach lautete ihre Erklärung. Wie schon vor einem Vierteljahrhundert präsentierte sie sich als eine Frau, die einzig von ihrem Talent angetrieben wird. Als Opfer des eigenen Genies. Damals behauptete sie, die Olympiafilme hätten nicht anders ausgesehen, hätte sie diese für Russland oder Japan gedreht. Jetzt war sie der festen Überzeugung, dass der Film vom Reichsparteitag „genau das gleiche gewesen“ wäre, wenn sie ihn für die Sozialdemokraten oder Churchill gemacht hätte. Es sei schlicht ihre Handschrift.
„Dafür kann ich ja nichts“
Ihr Film „Triumph des Willens“ könne allein deshalb nicht politisch sein, da er ohne Kommentar auskommt. „Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich einen Kommentar im Film gehabt. Etwas dazu gesagt. Eine Idee oder hätte Werbung gemacht, aber das habe ich nicht.“ Kaum zu glauben, dass die begabte Filmemacherin ein solch blauäugiges Verständnis von dem Medium hatte, das sie so meisterhaft zu nutzen wusste. Ebenso zweifelhaft erschien ihre Behauptung, sie wäre bei ihren Dreharbeiten stets nur bestrebt gewesen, „ein gutes Foto“ aufzunehmen, ohne sich jemals „Gedanken darüber zu machen, wie die Wirkung der Bilder ist“. Die „perfekteste Bilderkomponistin des Jahrhunderts“, die für die perfekte Einstellung Fahrstühle und Katapulte für Kameras installieren oder Gruben ausheben ließ, will nie gewusst haben, was sie da eigentlich tat?
Aussagen wie diese passten zu dem Bild, das sie seit Jahren von sich zu zeichnen bemüht ist. Es war das Bild einer Frau, die nie selbst Entscheidungen getroffen hat, der immer alles passierte, die nie eine Wahl hatte, die nie für etwas verantwortlich war und darum für nichts zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Es war ein Bild, das sich aus endlosen Widersprüchen speiste, die sie (wahrscheinlich bewusst) nie auszuräumen wusste. So versuchte sie Sandra Maischberger davon zu überzeugen, dass sie zu ihrem Reichsparteitagsfilm gezwungen worden wäre, diesen dann jedoch unabhängig und künstlerisch frei gestalten konnte. Dass daraus ein wegweisendes Kunstwerk wurde, entzog sich erneut ihrer Einflussnahme. „Man sagt, es ist der beste Dokumentarfilm, der gemacht wurde. Das habe ich nicht gewusst. Das zeigt eben meine Begabung, die Hitler erkannt hat. [...] Dafür kann ich ja nichts.“
Auch ihr Unterwasserfilm ist in ihrer Schilderung einfach passiert: „Ich habe bei meinen Tauchgängen die Kamera mitgenommen und aufgenommen, was mir gefallen hat. Ich war wie eine Sammlerin.“ Und irgendwann sei aus dem ganzen Material ein Film entstanden. Wie das manchmal so läuft.
Hier widersprechen ihr viele Historiker:innen vehement. Sie werfen ihr vor, dass sie eben keine wehrlose Mitläuferin gewesen ist. Vielmehr wusste sie ihre Privilegien und Kontakte zu höchsten NS-Kadern gezielt zu nutzen und sei vor allem als Filmemacherin sehr zielstrebig, selbstbewusst und rigoros aufgetreten. Aus diesem Grund halten viele ihr angebliches politisches Desinteresse für eine Schutzbehauptung. Sie führen zahlreiche Belege dafür an, dass sie stattdessen eine glühende Anhängerin des Nationalsozialismus war. Ob sie dies aus ideologischen Gründen war, ist fraglich. Wahrscheinlicher scheint, dass sie die prominente Rolle im System und die damit verbundene Anerkennung genoss. So sehr, dass sie dafür bereit war, über vieles hinwegzusehen.
Die „riefenstählerne Nuss“ knacken
Leni Riefenstahl starb am 8. September 2003 in ihrem Haus, in dem sie ein Jahr zuvor mit Sandra Maischberger gesprochen hatte. Ihr Nachlass ging 2018 in den Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz über. Rund 700 Kartons mit Filmen, Fotografien, Manuskripten, Akten und Briefen. Sandra Maischberger, die nach ihrem Treffen mit Riefenstahl ein großes Interesse für die kontroverse Person entwickelt hatte, produzierte gemeinsam mit dem Regisseur und Drehbuchautor Andres Veiel aus dem umfangreichen Material den Dokumentarfilm „Riefenstahl“ (Kinostart: 31. Oktober 2024). Ihr damaliges Interview habe sie sich nie wieder angesehen, weil sie mit dem Verlauf nicht zufrieden war. Riefenstahl, so ihr Fazit, habe so fest an ihre Lügen geglaubt und sie derart oft erzählt, dass sie letztlich zu ihrer eigenen Wahrheit wurden.
Seit dem Ende des Krieges war beinahe jedes Interview mit der Filmemacherin davon getrieben, die „Riefenstahl‘sche Nuss“ zu knacken, wie es Wiebke Brauer im Spiegel beschrieb. Das heißt, sie zu irgendeiner Art von Einsicht oder Schuldeingeständnis zu bewegen. Doch nach jedem dieser Interviews blieben die gleichen Fragen offen. Kann Leni Riefenstahl wirklich so naiv gewesen sein, wie sie behauptet? Konnte man die Gräueltaten der damaligen Zeit überhaupt übersehen? Oder hat sie sich in vollem Bewusstsein mitschuldig gemacht? Aus Überzeugung oder um persönliche Vorteile zu erlangen? Wurde sie vom NS-Staat instrumentalisiert oder hat sie das Regime für die Umsetzung ihrer ehrgeizigen Visionen ausgenutzt? War sie vielleicht so egozentrisch, dass sie blind blieb für all den Schrecken um sie herum? Hat sie im Nachhinein versucht, die eigene Verantwortung mit Unwissenheit zu entschuldigen? Vielleicht vor allem vor sich selbst? Und welche dieser Konstellationen wäre eigentlich die verwerflichste?
Mit solchen Fragen, die bis heute nicht zweifelsfrei beantwortet werden können, ist sie zugleich eine Symbolfigur für die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen schmerzlichen Vergangenheit des Nationalsozialismus. Es sind Fragen, die man vielen anderen Menschen von damals stellen kann. Es sind aber auch Fragen, die unsere nachfolgenden Generationen vielleicht einmal an einige von uns stellen wird.
Wie entstehen diese verzerrten Weltbilder, die in der eigenen Wahrnehmung schlüssig wirken mögen, von außen betrachtet, aber jede Konsistenz und Glaubhaftigkeit vermissen lassen? Durch welche Mechanismen verfestigen sich Überzeugungen, die derart stark auf konstruierten Lügen und Verdrehungen basieren, dass tatsächlich belegbare Fakten zu ideologischen Unwahrheiten erklärt werden. In diesen Fragen liegt das Gegenwärtige an der Person Leni Riefenstahl.
Pünktlich zu ihrem 90. Geburtstag initiierte die Regisseurin 1993 ein umfangreiches filmisches Porträt über ihr Leben, für deren Realisation sie letztlich Ray Müller auswählte. Für diesen kehrte sie an die Schauplätze ihrer Propagandawerke zurück, wo sie mit leuchtenden Augen erklärte, wie sie diese einst gedreht hatte. So sehr der dreistündige Dokumentarfilm mit dem Titel „The Wonderful, Horrible Life of Leni Riefenstahl“ einen Einblick in ihre damalige Arbeitsweise erlaubte, so sehr bildete er ein weiteres Puzzleteil in der Rekonstruktion ihrer Figur als missverstandenes Opfer. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte.