Diese Telegeschichte beginnt am 27. November 1909 etwa 75 km nordöstlich von Bergen in der kleinen norwegischen Gemeinde Voss. An diesem Tag weiht dort König Haakon nach jahrzehntelangen, mühsamen Bauarbeiten den letzten Streckenabschnitt der sogenannten "Bergensbanen" ein, die fortan die Hauptstadt Oslo mit Bergen verbindet. Er würdigt die Arbeit als das "ingenieurtechnische Meisterwerk Norwegens dieser Generation".
Auf den Tag genau 100 Jahre später zeigt der norwegische Rundfunk (NRK) ein außergewöhnliches Sonderprogramm zum runden Jubiläum. Unter dem Titel "Bergensbanen minutt for minutt" ist dort eine vollständige Reise auf der traditionsreichen Route zu sehen. Und zwar in voller Länge und damit mit einer Dauer von 7 Stunden und 14 Minuten. Spärlich inszeniert, konzentriert sich das Gezeigte vor allem auf den langsamen Wechsel der Landschaften, der mit drei feststehenden Kameras aufgenommen wird. Eine vierte fängt ergänzende Bilder aus dem Inneren des Zuges ein. Lediglich bei Tunneldurchfahrten wird das gefilmte Material durch einige Archivaufnahmen aus der Geschichte der Bahnlinie ergänzt.
Gänzlich neu ist die Idee zu dieser Zeit nicht mehr, dienten doch Führerstandsfahrten auf spektakulären Eisenbahnlinien schon länger dazu, Programmlücken zu füllen. In Deutschland etwa begann das Erste ab 1995 nächtliche Freiräume mit der Reihe "Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands" zu überbrücken und die unterschiedlichen Längen des Tagesprogramms auszugleichen. Das ZDF folgte kurz darauf mit einem ähnlichen Konzept und platzierte die Kamera auf dem Beifahrersitz eines Autos, das durchs Land fuhr. Im früheren Berliner Regionalfernsehen B1 konnten schlaflose Zuschauende indessen mit den städtischen S-Bahnen und später U-Bahnen mitfahren, während der MDR die Linien der Leipziger Straßenbahn übertrug.
Doch die Fahrt der norwegischen "Bergensbanen" ist nicht als Sendepause zu verstehen und nicht im Randbereich des Programms versteckt, wo sie wenig Schaden anrichten kann. Es geht bei ihr auch nicht darum, zu möglichst geringen Kosten viel Sendezeit zu füllen. Ihr Clou besteht gerade darin, sie nicht als Pausenfüller zu verstehen, sondern als vollwertiges Programm, das im staatlichen Kanal DRK2 entsprechend an einem Freitag zur Hauptzeit platziert ist. Ein mutiger Schritt, weil er die bis dato tradierten und angenommenen Sehgewohnheiten vorsätzlich negiert. "Das ist so falsch, dass es schon wieder richtig ist", begründet Thomas Hellum, einer der Produzenten des ungewöhnlichen Events, das Wagnis.
Sein Mut wird belohnt, denn entgegen aller Wahrscheinlichkeiten erweist sich die Übertragung der Bergensbanen-Fahrt für das norwegische Fernsehen als ein Publikumsmagnet. Laut einer Pressemitteilung der staatlichen Rundfunkgesellschaft Dänemarks erzielt sie eine durchschnittliche Sehbeteiligung von 176.000 Menschen und verfünffacht die für diesen Sendeplatz üblichen Reichweiten. In ihrem siebenstündigen Verlauf haben etwa 1,2 Millionen Personen die Ausstrahlung wenigstens einmal eingeschaltet, was einem Fünftel der Gesamtbevölkerung des Landes entspricht.
"Klingt langweilig..., weil es das ist."
Obwohl sich die Konzeption von "Bergensbanen minutt for minutt" den Normen des zeitgenössischen Fernsehmarktes vehement widersetzt, griff nach deren Erfolg die unvermeidliche Marktlogik ein. Dies führte ein Jahr später mit "Flåmsbana minutt for minutt" zu einer naheliegenden Fortsetzung, die sich nun der Zugfahrt von Myrdal nach Flåm widmete.
Im Jahr 2011 folgte schließlich mit "Hurtigruten minutt for minutt" eine Tour des Schiffs MS Nordnorge entlang der Fjorde von Bergen nach Krikenes. Mit einer vollständig übertragenen Laufzeit von 134 Stunden (also fast sechs Tagen) wurde sie zur weltweit längsten Live-Fernseh-Dokumentation und sorgte für internationale Aufmerksamkeit. Etwa beschrieb ein Moderator des englischsprachigen Nachrichtennetzwerks Al Jazeera das Projekt folgendermaßen: "Eine neue Art von Reality-TV-Show wurde geboren, die gegen alle Regeln des Fernsehens verstößt. Es gibt keine Handlung, kein Drehbuch, kein Drama, keinen Höhepunkt, und man nennt es ‚Slow TV‘. [...] Klingt langweilig, ...weil es das ist."
Hinter der sechstägigen Schifffahrt stand erneut das Team um Produzent Thomas Hellum, das schon die "Bergensbanen" auf den Schirm gebracht hatte. "Wir sind das so angegangen, als würden wir zu den Olympischen Spielen fahren: hochprofessionell", sagte er im Umfeld der Übertragung. Schließlich hatten er und sein Team nun elf Hightech-Kameras im Einsatz. Im Vergleich zu den Bahnfahrten schalteten sie beim Tempo noch einige Gänge herunter und trieben ihren Ansatz auf die Spitze.
Wie sehr, beschrieb Hellum in einem sehenswerten TEDtalk. Darin zeigt er auch ein Bild aus der Übertragung, auf dem ein einsamer Bauernhof direkt am Ufer eines Fjords zu erkennen ist: "Das ist vom letzten Sommer und als Fernsehproduzent würde ich sagen: ‚Das ist ein schönes Bild, aber jetzt kannst du zum nächsten gehen.‘ Aber wir sind beim ‚Slow TV‘. Man muss dieses Bild so lange sehen, bis es einem wirklich weh tut, und dann noch ein bisschen länger. Und wenn man so lange dranbleibt, haben sicher einige von Ihnen die Kuh gesehen. Einige von Ihnen haben die Flagge gesehen. Einige von Ihnen haben sich gefragt, ob der Bauer zu Hause ist, ob er weggegangen ist. Beobachtet er die Kuh? Und wohin geht die Kuh? Ich will damit sagen, je länger man ein Bild wie dieses betrachtet, und wir haben es zehn Minuten gezeigt, desto mehr Geschichten entstehen im eigenen Kopf. Das ist ‚Slow TV‘."
Mit dieser Beharrlichkeit gelang es Hellum die Sehbeteiligungen der "Bergsbahnen"-Fahrt noch einmal deutlich zu steigern. Die Live-Übertragung der Schiffsreise erzielte über das Wochenende einen Marktanteil von 35 Prozent - fast das Zehnfache der üblichen Werte. Diesmal hatten während der sechs Tage rund 2,5 Millionen Zuschauende mindestens einmal eingeschaltet, was etwa der Hälfte der norwegischen Bevölkerung entsprach. Im Verlauf der Sendung versammelten sich immer mehr Menschen am Rande der Route oder begrüßten das Schiff in jedem angesteuerten Hafen. Regelrechte Volksfeststimmung. Sie winkten, riefen, hielten Plakate hoch oder bemühten sich auf andere Weise, Teil dieses Fernsehereignisses zu werden. So geriet das abseitige Tele-Experiment zum nationalen Spektakel, das das ganze Land bewegte.
Den Rippchen beim Braten zusehen
Damit war die einst als ungewöhnlich und bizarr belächelte Idee endgültig etabliert. So werden seit 2012 mit einer planbaren Regelmäßig- und Verlässlichkeit jährlich mehrere derartige Projekte realisiert – meist unter der gleichbleibenden Marke "minutt for minutt". Es ist eine Reihe, die sich irgendwo zwischen Format und Genre, zwischen Event und Serie bewegt. Jede Ausgabe hat einen Bezug zur norwegischen Kultur und entwickelt eine ganz eigene Faszination. Neben weiteren Reiserouten per Schiff und Bahn gehörte dazu im Jahr 2012 eine 18-stündige Übertragung vom Lachsfischen ("Lakseelva minutt for minutt"). Es dauerte drei Stunden, bis der erste Fisch gefangen wurde.
Ein Jahr später folgte mit "Nasjonal strikkekveld" eine fast neunstündige Ausstrahlung, die unter dem Motto stand "From The Sheep To The Sweater". Sie zeigte, wie erst die Wolle eines Schafes geschoren und diese dann zu einem Pullover gestrickt wurde. Zudem strahlte man im Februar 2013 die Sendung "Nasjonal vedkveld" aus, in der das dreistündige Hacken und Stapeln von Holz sowie sein achtstündiges Abbrennen zu sehen waren. Außerdem bestaunten die norwegischen Zuschauenden im Jahr 2016 wie Kinder und Jugendlichen im Videospiel Minecraft die Wahrzeichen des Landes nachbauten und sie lauschten in "Grieg minutt for minutt" (2018) einer 30-stündigen Aufführung von insgesamt 74 verschiedenen Werken von Edvard Grieg.
In "Ribba - grad for grad" konnte das Publikum im Dezember 2016 sogar eine Portion Weihnachtsrippchen vom Koch Øyvind Hjelle beim Backen beobachten. Es ging dabei ausdrücklich nicht um deren Zubereitung, sondern einzig um das Backen im Ofen, das in voller Länge gezeigt wurde. Grad für Grad und Minute für Minute. Sieben Stunden lang. Gefilmt mit zwei Ofenkameras, die ausschließlich den Bräter zeigten. Eine Infografik lieferte die stets aktuelle Temperatur des Gerichts sowie den optimalen Verlauf der Hitzeentwicklung. Dazu lief Weihnachtsmusik von einem Plattenspieler, der in einem separaten Fenster gemächlich vor sich hindrehte.
Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums des Formats nahm man den Titel "minutt for minutt" wörtlich und zeigte im Jahr 2019 für 24 Stunden eine große, "lebendige" Uhr, die auf dem Bahnhof Bergen aufgebaut war. Die etwa 5-Meter hohen Zahlen waren aus Brettern zusammengesetzt und mussten jede Minute durch das Entfernen oder Hinzufügen von Latten an die aktuelle Uhrzeit angepasst werden. Verantwortlich dafür waren Schüler:innen der Volkshochschule Åsane, die die Aufgabe in mehreren Teams im Schichtbetrieb umsetzten. Alle 60 Sekunden stolperten sie oft etwas unbeholfen mit großen Aluminiumleitern ins Bild, veränderten die betreffende(n) Zahl(en), verließen dann die Szene mit den Leitern wieder - nur um wenige Augenblicke später die sperrigen Leitern erneut herein zu schleppen, um die Konstruktion zur nächsten Minute umzubauen.
Weil die Übertragung live erfolgte, versammelten sich auf dem Bahnsteig hinter der Uhr fortwährend Zuschauende, die in die Kamera winkten, grüßten, tanzten oder auf andere Weise mit ihr interagierten. Ein absurdes, aber zugleich faszinierendes Treiben, das wie alle bisherigen Ausgaben von "minutt for minutt" auf der Seite des norwegischen Fernsehens in voller Länge archiviert ist. Hier der Link zur "lebendigen Uhr".
Wenn Rentiere und Elche wandern
Im Frühjahr 2017 bot die Reihe zwischen dem 24. April und 3. Mai ein besonders wegweisendes Highlight. Damals konnte nämlich eine Rentierherde auf ihrer mehrwöchigen Wanderung von der Winterweide auf Finnmarksvidda zur Sommerweide auf Kvaløya observiert werden ("Reinflytting minutt for minutt"). Wieder in voller Länge, nur unterbrochen von einigen aktuellen Nachrichten und Sportsendungen.
Diese Ausgabe inspirierte augenscheinlich den schwedischen Kanal SVT, der im Jahr 2019 die Übertragung einer Elchwanderung im nordschwedischen Ångermanland zeigte. 15 ferngesteuerte und zwei Handkameras fingen die Wanderung ein, die dann fast 19 Tage lang unkommentiert im Fernsehen zu sehen war. Dieses Projekt kam auch in Schweden derart gut an, dass es dort schnell zu einer lieb gewonnenen Tradition geworden ist, denn seitdem ist die jährliche Elchwanderung über den Bildschirm zu verfolgen. Der Zuspruch ließ auch TV-Stationen im Ausland aufhorchen, sodass die Dokumentation des Naturschauspiels bald vom finnischen Fernsehen übernommen wurde.
In Deutschland hat RTL angekündigt, die Wanderung im Jahr 2024 in voller Länge für mindestens zwei Wochen zeigen zu wollen. Dann allerdings nicht im linearen Programm, sondern lediglich auf der Streaming-Plattform RTL+.
Das deutsche Fernsehen entdeckt die Langsamkeit
Die Elchwanderung wird nicht das erste Mal sein, dass im deutschen Fernsehen versucht wird, "Slow TV" zu etablieren. Die Erfolge der dänischen Reiseübertragungen veranlasste den Norddeutschen Rundfunk bereits am 5. Juni 2017 unter dem Titel "Die Elbe. Ganz in Ruhe." eine fünfstündige Flussfahrt von Bleckede nach Hamburg mit dem 117 Jahre alten Raddampfer "Kaiser Wilhelm" auszustrahlen. Dafür musste das historische Schiff umfangreich umgebaut und mit einer zusätzlichen Stromversorgung für Beleuchtung, Regie und Akkus ausgestattet werden. Die Fahrt wurde dann eingefangen von zehn Kameras sowie durch den Einsatz einer Drohne. Ein Dreivierteljahr lang habe das Team den aufwendigen Dreh vorbereitet. Es bedarf offenbar viel Aufwand und Anstrengung im Vorfeld, um "Ganz in Ruhe" über die Elbe schippern zu können.
Noch davor, im Jahr 2015, begann der Kanal ARD Alpha, das mehrteilige Projekt "Mora – Gib Dir echtZeit" umzusetzen, in der die Tätigkeiten unterschiedlicher Berufsgruppen (u. a. eine Cellobauerin, ein Trockenmauerbauer und ein Uhrmacher) für jeweils eine Stunde ohne Kamerafahrten, ohne Schnitt und ohne Musik zu studieren waren. Diese Produktion, die sich anstelle von Naturerlebnissen auf das Beobachten von Menschen bei der Arbeit konzentrierte, verstand sich selbst als eine Spielart des norwegischen "Slow TV". Im Gegensatz zu den meisten "minutt for minutt"-Sendungen nutzte sie jedoch einen feststehenden Split-Screen, mit dessen Hilfe die Handgriffe gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln einsehbar waren.
Im Oktober 2016 versuchte der Sender Tele 5 mit einem ebenfalls außergewöhnlichen Experiment, den Trend auf die Spitze zu treiben. Dabei wählte man allerdings einen völlig anderen Ansatz, der mit der ursprünglichen Idee nur noch lose in Verbindung stand. "Boccia Boccia" war nämlich keine Dokumentation eines langwierigen Vorgangs in Echtzeit, sondern ein fiktionaler Spielfilm von Friedrich Liechtenstein und Jarek Raczeck. Dieser fiel mit einer Laufzeit von 72 Minuten zudem geradezu niedlich aus. Er fing einer Gruppe von Freunden ein, die sich an einem entspannten Nachmittag im Grünen zum Boulespiel trafen. Dabei redeten, tranken, tanzten, rauchten und flirteten sie miteinander. Unterlegt waren die stummen Bilder mit Referenzen zu William Shakespeare, Rainer Maria Rilke oder Konrad Adenauer sowie mit Ambient-Musik von Richard Dorfmeister. Warum Tele 5 die Kunst-Installation überhaupt in die Nähe des "Slow TV" rückte? Das Werk lief über seine gesamte Länge in Zeitlupe. Es bestand also ausschließlich aus hypnotisierenden Slowmotion-Aufnahmen. Dadurch verzichtete es bewusst auf eine treibende Dramaturgie, schnelle Schnitte und laute Knalleffekte. Entsprechend ließ der begleitende Pressetext die Frage offen, ob es sich bei dem Streifen noch um einen Film oder schon um einen Bildschirmschoner handelte.
Bloße Entschleunigung?
Regelmäßig werden solche Projekte einer sogenannten "Slow Movement" zugeordnet, die bestrebt ist, Bereiche wie Ernährung, Produktion, Bildung, Religion und Sex zu entschleunigen, weil dies zu einem gesunden, erfüllten und insgesamt besseren Leben führen würde. Es geht demnach darum, einen Ausbruch aus einer (recht vage definierten) steigenden Beschleunigung der modernen Gesellschaft zu finden. Diese Interpretation deckt sich mit den Aussagen der NDR-Autorin Claudia Sarre, die "Slow TV" ausdrücklich in eine Linie mit einem verstärkten Zulauf für Yoga-Kurse und einem allgemein höheren Interesse an Sabbat-Jahren oder Babypausen (für Männer) stellte. Sie machte dafür ebenso einen wahrnehmbar ansteigenden Effizienz- und Geschwindigkeitsdruck der westlichen Industriegesellschaften verantwortlich, der für einen sprunghaften Anstieg an psychischen, oftmals stressbedingten Krankheiten wie Burnout oder Depression sorge und daher eine Rückbesinnung zu einer bewussten Langsamkeit als gesellschaftlichen Trend hervorbringe.
Das Phänomen lässt sich medienwissenschaftlich auch anders deuten. Ohne zeitliche Raffung, ohne Sprünge in der Zeitstruktur, ohne Verdichtung bilden diese Sendungen eine Kongruenz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit aus. Sie existieren in "Echtzeit" und ermöglichen damit ein Erleben der Zeit selbst. Diese Momente, in denen vermeintlich Alltägliches, Nichtiges oder Unwichtiges einen Raum erhält, verzichten auf eine sonst übliche Fokussierung auf Storytelling. Sie verzichten auf eine Anordnung, in der die Elemente einzig dann eine Berechtigung haben, wenn sie dem Vorantreiben der Narration dienen. Damit lassen sie die Abbildung einer Welt zu, die nicht nur funktional ist und ein Anrecht auf eine eigene Existenz hat. Unweigerlich drängt sich hier die von Siegfried Kracauer formulierte realistische Tendenz des Films auf, die besonders geeignet sei, die physische Realität der Welt und den „Fluss des Lebens“ abzubilden. Dafür müsse die Handlung zuweilen weit hinter sich gelassen und das Privileg genossen werden, auch das "Zittern der im Winde sich regenden Blätter" zu zeigen.
In Kracauers Sinne stellt die totale Entschleunigung in "Slow TV" dann eine Gestaltungsmöglichkeit dar, um die von ihm beschriebene Durchlässigkeit für den Fluss des Lebens zu erzeugen. Sie erlaubt einzelnen Elementen innerhalb eines Bildes die Zuordnung eines eigenständigen Sinns – eines eigenen Lebens. Auf diese Weise präsentieren sie nicht nur ein Ereignis, sie zeigen die gesamte Peripherie darum – sie bilden die (Um-)Welt abseits des dokumentierten Vorgangs ab. "Man muss das Gefühl bekommen, wirklich da zu sein", sagte Produzent Thomas Hellum einst über das von ihm erfundene "Slow TV".
In einer Zeit, in der unterhaltende und informierende Inhalte zunehmend durch Abrufe und nicht mehr durch ein lineares Programm genutzt werden, ist die wahrgenommene Entschleunigung dann eher als eine Sehnsucht nach simultaner Teilhabe und nach einem Durchfluss von Leben zu interpretieren und nicht zwingend als ein esoterischer Spleen oder als eine Distanzierung von einer vermeintlich beschleunigten westlichen Welt.
Übrigens, der ehemalige Ostdeutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) bespielte zwölf Jahre lang sein Nachtprogramm mit Aufnahmen eines Aquariums, in dem lediglich ein paar Fische träge um eine dürftige Wasserpflanze kreisten. Jede Nacht, stundenlang, ohne Schnitt, ohne Wechsel der Perspektive. Unterlegt nur mit dem Ton von Radio Brandenburg. Eine Idee, die ursprünglich ebenfalls aus Norwegen stammte. Dort füllten Aufnahmen von Zierfischen bereits in den 1970er-Jahren kurze Programmlücken. Slow ging es also schon damals zu. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte.
RTL+ überträgt die Elchwanderung ab dem 22. April um Mitternacht