Diese Telegeschichte beginnt am 18. März 1973 in einem Studio in Köln. An diesem Abend führte der WDR unter dem Titel "Je später der Abend" erstmals im deutschen Fernsehen eine "Talkshow" auf. Noch unter dem Deckmantel eines innovativen Experiments und vorerst auf vier Ausgaben begrenzt. Worum es dabei genau ging, musste der Gastgeber Dietmar Schönherr seinem Publikum zunächst erläutern: "Eine Talkshow - was ist das? Darüber zerbrechen sich seit einiger Zeit die Fernsehmacher in den verschiedenen Anstalten die Köpfe. Sie haben sicherlich viel darüber gelesen und gehört. [...] Talk kommt von to talk, reden, und das Ganze ist also eine Rederei." Bis dahin hatte man von einer Unterhaltungssendung vor allem Auftritte von musikalischen Interpreten, artistische Darbietungen oder illustre Spiele mit prominenten und nicht prominenten Teilnehmenden erwartet. Nun also sollte nur "ganz gemütlich" geredet werden.
Am Anfang war das Wort
Die Inflation an neuen Talks in den USA geriet zu dieser Zeit in das Blickfeld der deutschen Fernsehanstalten, die begannen, eine Einführung dieses Genres in Erwägung zu ziehen, obgleich talkshowartige Ansätze hier längst existierten. Einzig der Name war noch nicht geboren. Dies erfolgte erst durch die gezielte Übernahme der amerikanischen Vorbilder.
Striptease im heimeligen Wohnzimmer
Das erklärte Ziel der Redaktion von "Je später der Abend" war es, in "heimeliger, geselliger Stimmung" die prominenten Gäste "mit freundlichen, aber gezielten Fragen zu ermuntern, Auskünfte zur Person zu geben, um sie möglichst bis an die Grenze des seelischen Striptease zu entblättern". Das zumindest versprach der zuständige WDR-Redakteur Hans-Joachim Hüttenrauch vollmundig im Interview mit dem "Spiegel". Entsprechend glich die anfänglich genutzte Kulisse eher einem für diese Zeit typischen bürgerlichen Wohnzimmer als einer Fernsehbühne.
Aufgrund der unerwartet großen Zuschauerresonanz, die sich in mehr als 1.000 positiven Briefen niederschlug, erfuhr die Sendung kurz nach ihrer Premiere eine Verlängerung und wenig später die Beförderung ins Gemeinschaftsprogramm der ARD, wo sie ab 1976 sogar den zentralen Platz am Samstagabend um 20.15 Uhr erhielt. Durch diese prominente Platzierung und einem Pensum von nur zwölf Ausgaben pro Jahr geriet jede Folge zu einem Fernsehereignis, bei dem die halbe Nation interessiert zusah. Obwohl die Reichweiten mit bis zu 12 Millionen zusehenden Menschen oder Einschaltquoten von rund 50 Prozent regelmäßig erfreulich waren, stand die Reihe oft in der Kritik der Presse. Häufig wurden der banale Verlauf und der fehlende Tiefgang bemängelt. Ein Vorwurf, den weder Dietmar Schönherr noch seine beiden Nachfolger Hansjürgen Rosenbauer und Reinhard Münchenhagen gänzlich abschütteln konnten.
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Aller Biederkeit zum Trotz waren es schon damals ausgerechnet die Episoden mit unerhörten Vorfällen, die im kulturellen Gedächtnis des Publikums haften blieben. Hierzu zählten der mürrische Auftritt von Klaus Kinski oder auch der verschüchterte Romy Schneider, die den ebenfalls anwesenden Schauspieler und Bankräuber Burkhard Driest mit den berühmten Worten "Sie gefallen mir. Sie gefallen mir sehr" anhimmelte.
"Ja, nun sind wir also zum ersten Mal da": Der Daily Talk kommt nach Deutschland
Die Redaktion initiierte oft hitzige Diskussionen, indem sie gezielt Menschen mit unterschiedlichen Meinungen gegeneinander aufstellte. Ab 1986 sprach die amerikanische Moderatorin Oprah Winfrey in ihrer Nachmittagssendung ebenso über gesellschaftliche Tabus, allerdings auf eine emotionale und nicht mehr journalistisch neutrale Art und Weise. Diese Herangehensweise war beim (hauptsächlich weiblichen) Publikum derart beliebt, dass sie bis zum Ende fast durchgehend die höchsten Einschaltquoten am Nachmittag einfuhr. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt erreichte die tägliche, amerikanische Talkshow-Welle Deutschland.
Ab 1993 brachte der tägliche Talk von Ricki Lake in den USA eine neue Note in das Genre. Adressierten die bisherigen Vertreter vor allem ein erwachsenes oder gar älteres Publikum, richtete sie sich durch ihr Alter und die Inszenierung ihrer Gespräche an Menschen zwischen 18 und 34 Jahren. Bei der Themenwahl orientierte sie sich hierbei stark an den Problemen der jungen Zuschauenden und griff hauptsächlich Beziehungsprobleme auf. Die konsequent junge Ausrichtung brachte nicht nur die etablierten Vorgänger in Bedrängnis, sie zeigte sich überdies für die Werbeindustrie als höchst attraktiv, die auf diese Weise eine junge eskapistische, konsumfreudige Zielgruppe erreichte. In "Arabella" (ProSieben, um 14:00 Uhr) und "Bärbel Schäfer" (RTL, um 14:00 Uhr) fanden sich schnell die ersten deutschen Pendants, die das Genre ähnlich wie Ricki Lake ins Interesse junger Leute zog.
Tabubrüche und Schmuddeleien
Der Erfolg der Daily Talks war nicht zuletzt darin begründet, dass sie häufig Diskussionen über (vermeintliche) Tabus aufnahmen. Wurde anfangs vor allem über soziale Fragen wie Wohnungsnot, Partnersuche, Schulden, Spielsucht und Diäten debattiert, wichen diese im Laufe der Zeit zunehmend Themen aus den Bereichen Sexualität und Intimität. Waren diese Themen im Jahr 1991 noch vereinzelt zu finden, bestimmten sie laut einer ausgiebigen Analyse im Jahr 1998 etwa zwei Drittel aller Ausstrahlungen. Allein bei RTL betrug demnach die Anzahl der Themen über Privates und Intimes rund 57 Prozent des gesamten Talkprogramms des Kanals in den 90er Jahren. Und das führte zu immer abseitigeren Konstellationen. So traten beispielsweise in einer Episode von „Vera am Mittag“ (Sat.1, um 12.00 Uhr) eine sogenannte Domina und ihr Sklave sowie ein Windelfetischist auf. Solche Ausbrüche brachten dem Genre bald ein negatives Image ein, das allgemein unter dem Schlagwort "Schmuddeltalks" bekannt wurde.
An ihnen war ebenso zu erkennen, dass parallel zur Verschmuddelung die Sendungen in ihrer Ausrichtung konfrontativer gerieten. Ein wichtiger Grund dafür war die Einführung der "Jerry Springer Show" in den USA, die nach anfänglichen Schwierigkeiten und Veränderungen im Ablauf verstärkt auf emotionale Ausbrüche, Wut und übertriebene Gewalt setzte. Das aufgeführte Treiben konnte kaum als Talkshow bezeichnet werden, da der Schwerpunkt nicht mehr auf Gesprächen lag. Stattdessen waren hasserfüllte Anschuldigungen, persönliche Beleidigungen, körperliche Angriffe und Schlägereien zwischen den Gästen an der Tagesordnung.
Die wachsende Nachfrage nach Zank steigerte sich soweit, dass die rheinland-pfälzische Landesmedienanstalt im Jahr 1997 gegen den Kanal Sat.1 wegen der Folge mit dem Titel "Hilfe, mein Kind schlägt mich" aus dem Format "Sonja" (Sat.1, um 13:00 Uhr) ein Bußgeld in Höhe von 100.000 DM verhängte. In der Begründung hieß es dazu: "In der Sendung wurde ein ca. elfjähriges Mädchen als Talkgast von der eigenen Mutter, vom Studiopublikum und auch von der Moderatorin angegriffen und sichtlich in die Enge getrieben."
Vergebliche Regulierung
Im Jahr 1998 sahen sich fast alle Produktionsfirmen mit einer steigenden Anzahl von Abmahnungen und Beanstandungen konfrontiert. Um drohenden staatlichen Eingriffen zu entgehen, einigte sich die Branche auf einen gemeinsamen "Verhaltenskodex". Dieser sogenannte "Code of Conduct" verpflichtete dazu, Maßnahmen zu ergreifen, um extreme Ansichten auszugleichen, Diskriminierungen und vulgäre Sprache zu unterbinden, Eskalationen zu vermeiden und Konflikte stets mit Hinweisen auf mögliche Vorgehensweisen zu lösen.
Das führte anfangs zu einer Entspannung der Situation und einer Züchtigung der Shows, die aber nur kurz anhalten sollte. Im März 1999 hatte die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) schon wieder 23 mögliche Verstöße entdeckt. Entsprechend musste Joachim von Gottberg, der Vorsitzende der FSF, in der Zeitschrift tvdiskurs eingestehen: "Die Umsetzung der Verhaltensgrundsätze hatte offenbar darunter gelitten, daß aufgrund des Konkurrenzverhältnisses jeder die Kriterien nur so lange einhielt, wie dies in der jeweiligen Konkurrenzsendung auch geschah. Scherte eine Talkshow aus und erreichte damit eine positive Quote, zogen die anderen nach."
Ein zunehmend beliebtes Vorgehen der Redaktionen war es außerdem, Personen bewusst unter falschem Vorwand einzuladen, um sie unvorbereitet vor laufenden Kameras in eine Konfliktsituation zu bringen, in der Hoffnung, dass sich der Streit hierdurch umso heftiger entladen würde. Von der einstigen Gemütlichkeit des Wohnzimmers von "Je später der Abend" war man inzwischen weit entfernt.
"Birte Karalus" - Krawall und Remmidemmi
Bereits in der zweiten Woche stellte die zuständige Landesmedienanstalt erste Verstöße fest und musste mit Konsequenzen drohen, falls die gerade erst erlassenen freiwilligen Verhaltensgrundsätze weiter nicht eingehalten würden. Konkret wurde beanstandet, dass dort Kinder auftraten, die emotional der veranlassten Konfliktsituationen nicht gewachsen gewesen seien. Sie gerieten nämlich inmitten eines öffentlichen Familienstreits, dessen Auseinandersetzungen auf einem "kommunikativ niedrigem Niveau verliefen und hauptsächlich aus gegenseitigen Vorwürfen und Vorhaltungen bestanden". Die streitenden Personen, die aus einem problembehafteten Umfeld mit Armut oder Alkoholismus stammten, wären nicht in der Lage gewesen, ihre Konflikte positiv zu lösen. Auf diese Weise wäre zudem minderjährigen Zuschauenden ein pessimistisches Bild von zwischenmenschlichen Beziehungen vermittelt worden. Die Redaktion versprach daraufhin, künftig keine Gäste unter 16 Jahren einzuladen und alkoholisierte Personen nicht mehr auftreten zu lassen.
Selbst der Begründer des Genres Hans Meiser, dessen Firma ebenfalls für "Birte Karalus" verantwortlich war, konnte sich dem negativen Trend nicht widersetzen und übernahm zunehmend konfliktschürende Methoden. Das führte letztlich dazu, dass sich der Vorsitzenden des Medienrats der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien (BLM), Klaus Kopka, öffentlich über die Sendung empörte und dabei den fast legendären Satz nutzte: "Was bei Hans Meiser läuft, ist unter aller Sau."
Der Bogen ist überspannt
Auf die Äußerung reagierte Meiser zuerst mit einem öffentlichen Brief, in dem er Kopka "übelste Demagogie" und eine "Instrumentalisierung" seines Amts für "ganz persönliche geschmäcklerische Moralvorstellungen" vorwarf. Wenig später gab er aber im Gespräch mit Harald Keller zu, dass er sich "von diesem Trend ‚immer schneller, immer krasser, immer schräger‘ hab mitziehen lassen". Mit dieser Einsicht war er nicht allein, viele der damaligen Protagonistinnen und Protagonisten äußerten sich später kritisch über ihre damaligen Programme. Birte Karalus gestand in einem Interview mit der "Bild"-Zeitung: "Nie wieder würde ich eine Nachmittags-Talkshow machen. [...] Es gab Augenblicke, da stand ich im Studio und habe mich geschämt. Sinnloser Krawalltalk! Da zog sich mir der Magen zusammen." Ihre Kollegin Arabella Kiesbauer bereute erst kürzlich im Gespräch mit dem "Zeit-Magazin", den Konkurrenzdruck unter den Redaktionen um die spektakulärsten Gäste und Themen mitgemacht zu haben: "Das Prekariat war viel vertreten. Das hat vielleicht auch zu einigen Runden geführt, die unter einem gewissen Niveau waren. Ich würde bei Sendungen im Nachhinein schon sagen: Da sind wir zu weit gegangen."
Im Glauben das schwindende Interesse der Zuschauenden mit immer spektakuläreren Konfrontationen aufrecht erhalten zu können, waren die Zerwürfnisse in einigen Shows vermehrt von Autorinnen arrangiert und von Laiendarstellern vorgetragen worden. Durch diesen Schritt raubte sich das Genre jedoch seinem Kernversprechen nach Authentizität. Gleichzeitig ebneten sie hierdurch den Weg für Gerichtsshows wie "Richterin Barbara Salesch", die viele der freigewordenen Slots übernahmen. Einen bedeutenden Beitrag leistete hierzu übrigens wieder Hans Meiser, der im Jahr 1999 gleich zwei Mal völlig überzogene Geschichten mit Fake-Gästen inszenierte. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte…