Diese Telegeschichte beginnt am 30. Juli 2003 auf dem Studiogelände des Coloneum in Köln-Ossendorf. Dort stellen auf der alljährlichen Telemesse insgesamt 26 Fernsehsender in aufwendigen und prominent besetzten Präsentationen ihre kommenden Programmpläne vor. Sie wollen vor allem bei werbetreibenden Unternehmen und Agenturen das Interesse an Reklamebuchungen wecken. In diesem Jahr stehen unter anderem Ralf Möller, Heike Henkel, Heiner Brand, Oliver Kalkofe, Harald Schmidt und Barbara Schöneberger auf der Bühne. Die No Angels spielen ein kleines Konzert, und Michael Bully Herbig, Rick Kavanian und Christian Tramitz schlüpfen in einem Sketch in ihre Rollen aus „Der Schuh des Manitu“ und „(T)Raumschiff Surprise“.
Besondere Aufmerksamkeit gilt der Vorschau von RTL. Denn gerade ist dort die erste Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“ zu Ende gegangen. Mit bis zu 13 Millionen Zuschauenden war sie ein Riesen-Erfolg, dessen Ausmaß selbst bei RTL niemand zuvor für möglich gehalten hätte. Wenig überraschend versprach daher Geschäftsführer Gerhard Zeiler eine baldige Fortsetzung der Castingshow. Mit 23 Ausgaben werde diese sogar sieben mehr umfassen als ihr Vorgänger.
Einen Großteil dieses Zuspruchs verdankt man dem Engagement von Juror Dieter Bohlen. Er drückt der Sendung nicht nur musikalisch seinen Stempel auf. Unter anderem stammen der Siegertitel „Take Me Tonight“ sowie die gemeinsame Single aller Finalisten „We Have A Dream“ aus seiner Feder. Seine Erfahrung im Musikgeschäft, seine direkte Art, seine markigen Sprüche und sein unprätentiöses Auftreten machen ihn zum eigentlichen Star des Formats.
Dieter - Das große Buch
Geschäftstüchtig, wie man ihn kennt, veröffentlichte er pünktlich zum Start von „DSDS“ seine Memoiren „Nichts als die Wahrheit“. Ein episodenhaftes Buch, das sich lose an seinem Leben orientiert und gespickt ist mit pikanten Details und Lästereien über Ex-Partnerinnen, Ex-Kolleg:innen und Ex-Promis. Darin offenbart er, wie er bei einer irrtümlich angenommenen Hausdurchsuchung nackt aus dem Fenster sprang, wie er den Dreier mit Brigitte Nielsen aus Angst vor Sylvester Stallone kaum genießen konnte, wie ihn seine Ex-Frau Verona Feldbusch in der 30-tägigen Blitzehe ausgenutzt haben soll, wie sehr sein Bandpartner Thomas Anders von seiner Ehegattin Nora manipuliert und kontrolliert worden sei, und wie er beim Sex mit Dauerfreundin Naddel einen Penisbruch erlitten habe.
Seine Geschichten und Ergüsse trafen auf ein enormes Interesse. Über 800.000 Mal verkauften sie sich innerhalb kürzester Zeit allein in gedruckter Form. Hínzu kamen Tausende Exemplare des Hörbuchs, das Bohlen höchstpersönlich eingesprochen hatte. Der enorme Absatz wurde befördert durch die „Bild“-Zeitung, die den Verkaufsstart mit einer umfangreichen Kampagne begleitete, insbesondere durch den Vorabdruck von brisanten Auszügen. Nicht ganz zufällig entstand das Buch unter der Mitarbeit Katja Kesslers, einer „Bild“-Kolumnistin, die zugleich mit dem damaligen Chefredakteur Kai Diekmann verheiratet war. Wie praktisch.
Am Hype um das Buch war zudem Thomas Gottschalk beteiligt. Er sprang zu dieser Zeit gern auf jeden Boulevardzug auf und verhalf ihm auf dem Sofa von „Wetten, dass..?“ zu einer zusätzlichen Aufmerksamkeit. So auch am Samstag bevor die Biografie auf den Markt kam, als er vor knapp 13 Millionen Menschen eine ausführliche Passage aus dem Buch vorlas, Co-Autorin Katja Kessler interviewte und schließlich Bohlen auf der Couch begrüßte. Als i-Tüpfelchen verleitete er den ebenfalls anwesenden Verleger Hubert Burda dazu, ein Urteil zum Buch abzugeben. Der gestand daraufhin, es auf dem Flug hierher begeistert gelesen zu haben: „Man ist immer wieder neugierig, wie jetzt eine Szene zur anderen kommt, und ich finde, das ist prickelnd gemacht. Es hat so etwas Frivoles, das kommt gut an.“ Wie konnte nach diesen Szenen das Buch kein Hit werden?
Was außerdem rund um die Veröffentlichung der Biografie passierte, fassen Carolin Worbs und Miguel Robitzky in einer Ausgabe ihres Podcasts „Too Many Tabs“ pointiert zusammen.
Klar, dass RTL bestrebt war, diesen doppelten Rummel um Bohlen zu verlängern. Und so steht Geschäftsführer Gerhard Zeiler auf der Bühne der Telemesse und verkündet neben der Fortsetzung von „DSDS“ stolz, dass man zudem an der Verfilmung von Bohlens Skandalbuch arbeite. Das Ergebnis solle im kommenden Jahr ins Kino kommen und danach bei RTL seine TV-Premiere feiern. Was für ein Coup!
Dieter - Die Krönung
Bereits zwei Monate nach Erscheinen des Buches hatte Bohlen öffentlich über eine Verfilmung fantasiert. In einem Interview mit „Frau im Spiegel“ stellte er klar, dass er sich darin nicht selbst darstellen wolle. Verona hingegen müsse sich selbst verkörpern: „Es gehört schon ’ne unheimliche schauspielerische Leistung dazu, sich so blöde zu stellen, sich zu reduzieren auf das Niveau von Knäckebrot.“ Das schaffe einzig das Original. Zumal es schwer sei, überhaupt eine zweite Frau mit einer solchen „Piepsstimme“ zu finden. Für die übrigen Rollen hatte Bohlen ebenfalls klare Wunschvorstellungen. Nadja Abd el Farrag solle von Yasmina Filali gespielt werden, Thomas Anders von Thomas Fritsch und sein polnischer Gärtner von Stefan Raab. Für die Regie wünschte er sich in dem nicht ganz ernst gemeinten Gespräch natürlich Bully Herbig. Wen sonst?
Was anfangs wie ein Hirngespinst klang, wurde im Sommer 2003 tatsächlich Realität. „Dieter – Der Film“ sollte kommen. Anders als zunächst spekuliert, nicht als Realfilm mit Schauspieler:innen, sondern als Zeichentrickvariante. „Alles wird total überdreht“, freute sich Bohlen im Gespräch mit der „BILD“-Zeitung über den Entschluss. „Zum Beispiel kriegt Verona sechs Mal größere Brüste als normal. Außerdem noch ein Ventil zum Luftrauslassen! Und Naddel bekommt einen Papagei auf die Schulter, da hat sie was zum Nachquatschen.“ Die Überzeichnung diente wohl nicht nur dem Selbstzweck, sie war zugleich ein juristisch notwendiger Kniff, um das Vorhaben überhaupt umsetzen zu können. Da die vielen Prominenten auf diese Weise lediglich als Überzeichnungen auftraten, konnten sie sich nicht auf ihr Persönlichkeitsrecht berufen und den Film verhindern oder eine Vergütung einfordern. Wenigstens versprach Bohlen, seiner animierten Version die Stimme zu leihen.
Für die Realisierung konnten die renommierte TFC Trickcompany und der erfahrene Regisseur Michael Schaack gewonnen werden, die zuvor unter anderem mehrere „Werner“-Teile sowie die Geschichten von „Das kleine Arschloch“, „Käpt’n Blaubär“ und die „Ottifanten“ („Kommando Störtebeker“) ins Kino brachten. Zuletzt hatte das Studio an einer albernen Cartoon-Variante der Krimiserie „Derrick“ gearbeitet. Insgesamt 250 Menschen (davon rund 200 in China) waren mit den 250.000 Einzelbildern von den Bohlenschen Eskapaden beschäftigt. Um den anschließenden Vertrieb wollte sich Universum Film kümmern.
Inhaltlich hielt sich das Drehbuch eng an die literarische Vorlage und erzählte Bohlens Aufstieg anhand exemplarischer Stationen nach. Neben seiner Kindheit standen vor allem Frauenbekanntschaften und Auseinandersetzungen mit anderen Musikgrößen im Mittelpunkt. Und immer wieder: Brüste. Von denen war der kleine Dieter laut Skript von Geburt an fasziniert. Egal ob als Kuh-Euter oder silikongefüllte Dekolletés – kaum eine Szene kam ohne eine entsprechende Anspielung aus.
Dieter - Der Stern sinkt
Im Mai 2004 war das entstehende Spektakel noch als großes Highlight für den kommenden September angepriesen. Doch je weiter die Produktion voranschritt, desto stiller wurde es um den Streifen. Gleichzeitig klang das Bohlen-Fieber in Deutschland ab. Die zweite Staffel von „DSDS“ erreichte bloß einen Bruchteil der Einschaltquoten des ersten Durchlaufs und befand sich in einer kreativen Pause. Das Nachfolgebuch „Hinter den Kulissen“ überspannte den Bogen und schleuderte nur noch Dreck um sich. Die zweite Trennung von Modern Talking sorgte für unschöne Schlagzeilen und auch musikalisch kamen neue Meeega-Hits seltener vor.
Kurz vor dem ursprünglichen Starttermin wurde dieser auf Januar 2005 verschoben. Doch auch dieses Datum verstrich, ohne dass „Dieter“ in die Kinos kam. In einem Statement des Verleihs hieß es damals nüchtern: „Wir können nicht sagen, ob der Film ins Kino kommt.“ Und das, obwohl die Produktion satte 6,5 Millionen Euro verschlungen hatte. Zu groß war offenbar die Sorge, dass das Werk an den Kinokassen verschmäht und durch die zusätzlichen Kosten für Vertrieb und Marketing weiteren Schaden verursachen könnte.
Letztendlich nahm Universum den Titel komplett aus dem Programm. Somit stand fest: „Dieter – Der Film“ schafft es nicht mehr auf die große Leinwand. Fürs Kino „würde die Verfilmung der Bohlen-Biografie jetzt so nicht mehr funktionieren“, rechtfertigte ein Sprecher die Entscheidung. „Aber da es eine Koproduktion mit RTL ist, gehen wir davon aus, dass er im Fernsehen laufen wird.“
Dieter - Die letzte Ölung
Rund anderthalb Jahre waren seit der Fertigstellung ins Land gezogen, als Co-Produzent RTL ankündigte, das ungeliebte Stück doch zeigen zu wollen. Als Sendetermin wählte man den 4. März 2006, wodurch der Zeichentrickfilm ausgerechnet gegen den Show-Klassiker „Wetten, dass..?“ antreten musste. Ein Todes-Slot. Schließlich lockte Thomas Gottschalk mit seinen Stars und Wetten regelmäßig ein zweistelliges Millionenpublikum an. Da blieb kaum etwas für die Konkurrenz übrig. Entsprechend setzten andere Sender meist auf Wiederholungen oder zweitklassige Archivleichen. Dass nun die Weltpremiere von „Dieter – Der Film“ in diesem Umfeld stattfinden sollte, ließ ahnen, wie gering das Vertrauen der RTL-Verantwortlichen in das einstige Prestige-Projekt inzwischen war.
Das zeigte sich ebenso darin, dass der Presse keine Vorab-Sichtung des Films gewährt wurde. Stattdessen bekamen Journalisten lediglich einen siebenminütigen Zusammenschnitt zur Ansicht. „Weil das eine Überraschung wird“, hieß es dazu knapp von RTL. Was kess klingen sollte, war eher Schadensbegrenzung. Das Machwerk galt als Desaster und sollte nun möglichst geräuschlos versendet werden, um es wenigstens steuerlich abschreiben zu können.
Entsprechend verzichtete RTL weitgehend auf Hinweise auf die Ausstrahlung im eigenen Programm. Ein Auftritt von Bohlen bei „Top of the Pops“ blieb die einzige nennenswerte Promotion-Aktion. Dort stellte der Musiker vor allem den Soundtrack zum Film vor, auf dem sich neben dem offiziellen Titelsong „Gasoline“ auch ein letztes Lied von Modern Talking befand, das er aus alten Tonaufnahmen zusammengestückelt hatte.
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Zu allem Überfluss gab Gottschalk bekannt, an diesem Abend ausgerechnet Bohlens Ex-Partner Thomas Anders begrüßen zu wollen. Damit war der Fernsehkampf perfekt, der öffentlich ausgetragen wurde. In mehreren Interviews äußerten sich Bohlen und Gottschalk zum bevorstehenden TV-Duell und verteilten dabei gegenseitig verbale Tiefschläge. In der „Bild“ räumte Dieter etwa ein, dass Thomas wahrscheinlich mehr Zuschauende anziehen würde, aber bloß „weil er der Ältere ist und man zu Älteren höflich sein soll. Ich helfe auch älteren Leuten über die Straße.“
Angesichts dieses aussichtslosen Kampfes schien das letzte Kapitel von „Dieter – Der Film“ eigentlich geschrieben. Doch es sollte anders kommen.
Dieter - Die Auferstehung
Am Tag nach der Weltpremiere meldete Media Control für „Wetten, dass..?“ eine durchschnittliche Reichweite von 13,04 Millionen Zuschauenden. Ein solider Wert. Doch dann die Überraschung: Trotz der übermächtigen Konkurrenz erzielte „Dieter – Der Film“ eine Sehbeteiligung von unglaublichen 5,51 Millionen Menschen. Schon lange hatte sich kein anderes Programm so stark gegen „Wetten, dass..?“ behauptet.
In der Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen waren Bohlen und Gottschalk sogar nahezu gleichauf. Mit einem Marktanteil von 30,5 Prozent lag Dieter nur knapp hinter Thomas (32,7 Prozent). Dafür triumphierte RTL mit einem Marktanteil von 42,8 Prozent bei den 14- bis 29-Jährigen umso deutlicher. Beinahe ein doppelt so hoher Wert wie der des ZDF. Selbst die Wiederholung am Sonntagnachmittag lockte abermals über drei Millionen Zuschauende vor den Bildschirm und machte den Film in der werberelevanten Zielgruppe zur meistgesehenen RTL-Sendung des Tages.
Entgegen aller Vorzeichen geriet „Dieter – Der Film“ doch noch zum Hit.
Der überraschende Erfolg verhalf Dieter Bohlen zu einem neuen Popularitätsschub – nicht zuletzt, weil er sich im Film betont selbstironisch präsentierte. Diese Entwicklung erlaubte es ihm ein weiteres Mal, seine Erzählung vom unterschätzten Underdog fortzuschreiben. Ein Motiv, das bereits den Kern seiner Biografie bildete. Für RTL kam das zur rechten Zeit, stand doch in zwei Wochen das Finale der dritten Staffel von „Deutschland sucht den Superstar“ an.
Die Entscheidung, seine umtriebigen Abenteuer als Zeichentrickfilm umzusetzen, erwies sich im Nachhinein ebenfalls als kluger Schachzug. Nach der Premiere prüften angeblich Verona Pooth und Nadja Abd El Farrag juristische Schritte gegen das Werk. Sie fühlten sich durch ihre Charakterisierung als „hinterlistig“ und „geldgierig“ (Verona) oder als „trinkende und rauchende Nervensäge“ (Nadja) verunglimpft, hatten jedoch keine rechtliche Handhabe. „Als ich von Dieters Film hörte, bin ich zu meinem Anwalt gegangen“, zitierte die „Bild“ Abd El Farrag. „Er sagte mir, ich könne nichts dagegen machen, da es sich hier um Karikaturen handelt.“
Dieter - Der Zerstörer
Was diese Anekdote fernsehhistorisch relevant macht, ist nicht einzig der Umstand, dass ein Film, der fast im Giftschrank versauert wäre, letztlich doch sein Publikum fand. Viel wichtiger ist, die hohen Quoten von „Dieter – Der Film“ offenbarten, dass der eigentlich als unschlagbar gehaltene Unterhaltungs-Gigant „Wetten, dass..?“ doch zu bezwingen war. Es zeigte sich erstmals ein feiner Riss in der bis dahin makellosen Fassade des Klassikers. Ein Riss, der sich bald zum Einfallstor für gezielte Frontalangriffe entwickelte.
Nach dem Zufallstreffer mit dem Bohlen-Streifen hatte RTL im März 2007 nämlich genug Mut gesammelt, um die Castingshow „DSDS“ erstmals gegen Gottschalk zu senden. Bisher hatte man sie stets pausieren lassen, wenn es hieß: „Top, die Wette gilt.“ Da dieses Wagnis erneut belohnt wurde, wiederholte RTL das Experiment nun regelmäßig und klaute so dem ZDF systematisch das junge Publikum. Die einst unangefochtene Vormachtstellung von „Wetten, dass..?“ begann zu bröckeln. Auf lange Sicht leitete dies das (erste) Ende der Show ein.
Verkürzt könnte man also sagen: Bohlen zerstörte „Wetten, dass..?“ Natürlich ist das überspitzt formuliert und blendet viele andere Umstände aus, aber Überspitzungen gefallen dem Dieter doch gut. Es hat zugleich eine gewisse Ironie, dass Gottschalk ausgerechnet selbst mit daran beteiligt war, seinen späteren Zerstörer derart stark zu machen.
Übrigens, RTL versuchte den Bohlen-Coup etwa ein Jahr später zu wiederholen – diesmal gegen den zweiten Boxkampf zwischen Stefan Raab und Regina Halmich. Man hoffte jetzt, ProSieben einige junge Zuschauende klauen zu können. Doch der Plan ging nicht auf. Zwar erzielte RTL mit 18,6 Prozent Marktanteil in der Zielgruppe einen akzeptablen Wert, gegen den Raab-Kampf hatte man jedoch keine Chance. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte.
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