Diese Telegeschichte beginnt am 5. November 1999 im holländischen Zuidlaren. In der Prins-Bernhard-Halle steht auf einer Fläche von 4.000 Quadratmetern ein riesiger Parcours aus 2,5 Millionen Dominosteinen bereit. Ein 70-köpfiges Team hat diesen in den vergangenen 49 Tagen mühevoll aufgebaut. Nun warten Moderatorin Linda de Mol und Magier Hans Klok auf einem schmucklosen Podest, um die Kettenreaktion auszulösen. Es ist die zweite Auflage vom „Domino Day“. Doch diesmal ist das Team deutlich angespannter als im Vorjahr. Die Motive sind komplexer und es müssen mehr Steine umfallen, um den Rekord aus 1998 brechen zu können. Vor allem aber schwebt über dem Spektakel die Drohung eines Anschlags durch eine Aktivistengruppe. Sie hat in einem Schreiben angekündigt, die Übertragung zu sabotieren, indem sie die Dominosteine frühzeitig umfallen lassen will.
Die darin zum Ausdruck gebrachte Wut richtet sich nicht ausdrücklich gegen das Team des „Domino Day“. Sie richtet sich gegen den holländischen TV-Sender SBS 6, der das Event gemeinsam mit dem deutschen Kanal RTL austrägt. Genau genommen richtet sich der Protest gegen einen Mitarbeiter von SBS 6 - nämlich den Journalisten Willibrord Frequin. Er hatte zuvor im Rahmen seines Magazins „De week van Willibrord“ in einer fragwürdigen Aktion versucht, mit einem Fallschirm auf einem eigentlich abgesperrten Teil des Studiogeländes in Almere zu landen. Dort stand der spärlich eingerichtete Containerbau, in dem eine Gruppe von Menschen für 100 Tage lebten - abgeschottet von der Außenwelt und rund um die Uhr von TV-Kameras überwacht. Ein umstrittenes Vorhaben, das noch vor seinem Beginn wegen der darin praktizierten schamlosen Ausbeutung von Intimitäten in den Niederlanden zu heftigen Diskussionen führte. Trotzdem löste die weltweit erste Staffel von „Big Brother“ nach wenigen Wochen einen riesigen Hype aus, der das gesamte Land durchzog.
Frequin nahm sich nun vor, die Herstellung der Konkurrenzsendung durch sein Eindringen zu stören. Angeblich, um auf die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen hinzuweisen. Dabei verfehlte er mit seinem Fallschirm selbst das Ziel und landete neben dem Haus. Sein Kollege traf allerdings den Container und kam tatsächlich in Kontakt mit den isolierten Bewohnerinnen und Bewohnern. Von dieser Aktion sind einige „Big Brother“-Fans derart verärgert, dass sie sich nun an Frequins Haus-Sender SBS 6 mit der Sabotage des „Domino Day“ rächen wollen. Was für eine wilde Story.
Als Reaktion auf die Drohung verschärft das Team die Sicherheitsvorkehrungen und stockt das Security-Personal auf. Selbst die Freiwilligen, die sich eigentlich um den Aufbau der Steine kümmern sollen, patrouillieren auf dem Gelände, um mögliche Eindringlinge aufhalten zu können. Die Situation ist heikel, und alle Beteiligten sind nervös, ob die Ankündigung wirklich in die Tat umgesetzt wird.
Nach rund zwei Stunden löst sich die Anspannung. Der „Domino Day“ ist störungsfrei verlaufen. Am Ende steht fest: Mit 2.472.480 umgefallenen Steinen wird der Rekord des Vorjahres deutlich übertroffen.
Obwohl es letztlich gar nicht zur Sabotage kam, sorgt die Aktion dafür, dass das niederländische TV-Experiment „Big Brother“ nun auch in Deutschland breite Aufmerksamkeit erhält. Bislang war die umstrittene Show hier kaum mehr als eine Randnotiz auf den Medienseiten.
Knapp eine Woche nach diesem aufregenden Abend teilten die Verantwortlichen von Endemol und RTL II dann mit, das Reality-Format ab dem kommenden Frühjahr auch in Deutschland umsetzen zu wollen.
„Big Brother“ kommt nach Deutschland
Um genügend Teilnehmende für das in Deutschland weitgehend unbekannte Experiment zu finden, zeigte RTL II am 15. Dezember 1999 eine Sondersendung, in der die Spielregeln ausführlich erläutert wurden. Dabei kamen vor allem Bilder aus der noch immer laufenden Staffel aus dem Nachbarland zum Einsatz. Durchschnittlich 1,1 Millionen Menschen verfolgten die einstündige Einführung, in der regelmäßig dazu aufgerufen wurde, sich zu bewerben.
Das verfing offenbar. Innerhalb weniger Tage meldeten sich über 20.000 Interessierte. Darunter fast doppelt so viele Männer wie Frauen. Sie wollten sich auf das Abenteuer einlassen, obwohl vorab klar war, dass man die deutsche Version im Vergleich zu Vorlage verschärfen wollte. Wie dies gelingen sollte, erklärte Rainer Laux, der verantwortliche Produzent, in einem Interview mit dem „Stern“: „In Holland wurden die Kandidaten so zusammengestellt, dass sie eine relativ homogene Gruppe bildeten. In Deutschland werden wir das Gegenteil versuchen.“ So wäre es denkbar, dass Chaoten auf Ordnungsfetischisten, Dauerqualmende auf Nichtrauchende oder Vegetarier:innen auf Fleischliebhabende treffen können. Potenzielle Konflikte waren folglich von Anfang an eingeplant. Zudem wurde der „Back To Basics“-Ansatz zugespitzt, indem es jetzt bloß eine Stunde heißes Wasser pro Tag gab. Wer danach nicht kalt duschen wollte, musste Holz für den Ofen hacken.
Ansonsten blieb das meiste unverändert. Der Container glich dem niederländischen Vorbild bis ins kleinste Detail – inklusive Einrichtung und Wandfarbe. Den Teilnehmenden standen erneut 155 Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung, überwacht von 28 Kameras und 59 Mikrofonen. Die Highlights des Tages liefen abermals in einer 40-minütigen Zusammenfassung zur besten Sendezeit. Wer mehr sehen wollte, konnte über das Internet verschiedene Live-Streams abrufen. Entweder gab es einen durchproduzierten „Master Cut“, oder man konnte sich auf einem virtuellen Grundriss der Wohnanlage eigenständig durch die Räume klicken.
„Allergrößte Bedenken“
Lang schien es, als würde „Big Brother“ in Deutschland ohne größere Widerstände auskommen. Zwar erwähnten viele Zeitungsmeldungen immer wieder die Kontroversen, die die Show in ihrer niederländischen Heimat ausgelöst hatte, doch eine breite Protestwelle blieb zunächst aus. Das änderte sich rund sechs Wochen vor der Premiere. Als eine der ersten brachte die Pfarrerin Johanna Haberer, zugleich Rundfunkbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, ihre „allergrößten Bedenken“ gegen die Sendung zum Ausdruck. Gegenüber der Stuttgarter Zeitung erklärte sie: „Bei ‚Big Brother‘ werden Menschen wie im Zoo präsentiert. Wenn Teilnehmer von Mitbewohnern und Zuschauern rausgemobbt werden, geht das an die Menschenwürde.“ Ein Vorwurf, den das Programm lang begleiten wird.

Bei der LPR stieß Beck auf offene Ohren. Insbesondere ihr Vorsitzender Wolfgang Thaenert vertrat dieselbe Position. Bereits nach der Auftaktsendung im Dezember hatte er angemerkt, dass das Konzept in einem Maß auf Voyeurismus abziele, das die bisherige Grenze überschreitet.
Nach Becks Brief stellte sich Thaenert demonstrativ an dessen Seite und bekräftigte: „Ein Genre, das Menschen allein zum Zwecke der Unterhaltung instrumentalisiert und Voyeurismus salonfähig macht, entspricht nicht den Normen unserer Gesellschaft.“ Darum sehe er ebenfalls die Notwendigkeit eines Eingreifens durch die Medienaufsicht. Gleichzeitig räumte er jedoch ein, dass aufgrund des Zensurverbots rechtliche Sanktionen kaum vorab durchzusetzen seien. Über die LPR-Programmbereichsleiterin Annette Schriefers ließ er verlauten, dass man zwingend bis zur Ausstrahlung warten müsse: „Wenn wir nach der ersten Sendung feststellen, dass sie gegen geltendes Recht verstößt, können wir weitere Sendungen sofort unterbinden.“
Experiment wie mit Ratten?

RTL II-Geschäftsführer Josef Andorfer verteidigte naturgemäß seine Pläne und forderte von Beck ein Ende der „Stimmungsmache“ gegen die geplante Show: „Es ist erschreckend, wie hier ohne jegliche Sachkenntnis eine politische Vorverurteilung dieses neuartigen TV-Formates vorgenommen wird.“ Eigentlich würden das Grundgesetz und der Rundfunkstaatsvertrag doch die Meinungsfreiheit garantieren. Der Präsident des Privatfunkverbands VPRT, Jürgen Doetz, sprang ihm zur Seite und stellte pointiert fest:
„Die Rundfunkfreiheit gilt auch für Mist.“
damaliger VPRT-Präsident Jürgen Doetz
Angesichts der gegensätzlichen, verhärteten Positionen brachte ein Treffen Anfang Februar zwischen Kurt Beck und Josef Andorfer keine Annäherung. Der RTL II-Chef betonte danach einmal mehr, dass es „keinen objektiven Grund“ gebe, „die Sendung in der geplanten Form zu verbieten“. Außerdem verwies er darauf, dass die Teilnehmenden freiwillig mitmachten, psychologisch begleitet werden und im Haus einzelne Bereiche wie die Toilette existieren, von denen keine Aufnahmen angefertigt werden.

Alle gegen „Big Brother“
Kurt Becks entschlossenes Vorgehen ermutigte weitere Politiker und Politikerinnen, sich öffentlich gegen „Big Brother“ zu positionieren. Im Monat vor dem Start wetterten unter anderem der Parlamentarische Wirtschafts-Staatssekretär Siegmar Mosdorf (SPD), Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) sowie der Vorsitzende der Bayerischen Staatskanzlei, Erwin Huber (CSU) dagegen. Ausgerechnet die hessische FDP, die sich sonst vehement gegen staatliche Regulierung aussprach und sich der Freiheit verpflichtet sah, kündigte an, gemeinsam mit der CDU eine Änderung des Privatrundfunkgesetzes anzustreben. Ziel war es, ähnliche Auswüchse künftig schon vor der Ausstrahlung unterbinden zu können.
Plötzlich wurde in der Politik überall über die bevorstehende Reality-Show diskutiert. So kam es, dass sich Abgeordnete in mehreren Landtagen und sogar der Bundestag in einer eigenen Debatte mit ihr befassen mussten. Offenbar galt sie als eine ernsthafte Bedrohung für die deutsche Ordnung.
Entsprechend rief die Frauen-Union der CDU-Hochtaunus einen Boykott aus. „Durch eine solche Sendung werden Menschen allein zum Zweck der Unterhaltung instrumentalisiert und zu Versuchskaninchen degradiert“, rügte die Kreisvorsitzende Cornelia Alsheimer das Projekt. Daher forderte sie alle Menschen auf, für die Laufzeit von „Big Brother“ nicht nur dieses, sondern gleich das gesamte Programm von RTL II zu vermeiden. „Der Verlust von Einschaltquoten und damit der Attraktivität der Werbeeinblendungen wird“, so hoffte Alsheimer, „bei den Verantwortlichen die Besinnung auf den gesunden Menschenverstand befördern.“ Drei Tage später formulierte der Landesfrauenrat in Hessen einen ähnlichen Aufruf.
Derartige Appelle nahmen in der letzten Woche vor dem Auftakt der Show inflationär zu. Neben der hessischen Sozialministerin Marlies Mosiek-Urbahn (CDU) befürworteten ebenso der bayerische SPD-Medienexperte Heiko Schultz, der hessische Ministerpräsident Roland Koch (CDU), Thüringens Wissenschaftsministerin Dagmar Schipanski sowie der Trierer Bischof Hermann Josef Spital einen solchen Boykott.
Am Tag der Premiere klinkte sich noch ein Mitglied der Bundesregierung in die Causa ein. Innenminister Otto Schily (SPD) verurteilte das Format in einem selbst verfassten Zeitungsbeitrag als „massiven Verstoß gegen Artikel 1 des Grundgesetzes“. Seine Empfehlung:
„Wer sich ein Gefühl für die Würde des Menschen bewahrt hat, sollte die Sendung boykottieren. Zu viel Fernsehen schadet sowieso der Gesundheit.“
damaliger Innenminister Otto Schily
Na dann.
Nun fehlte eigentlich noch der Bundespräsident. Spoiler-Alarm: Ein paar Tage später meldete er sich tatsächlich zu Wort – dazu aber später mehr.
Der Countdown läuft…
Am Abend des 1. März 2000 war es so weit: Nach all den Diskussionen, Drohungen und Schuldzuweisungen, nach all den Befürchtungen und apokalyptischen Warnungen, nach all den Beschwichtigungen und Versicherungen, dass keine Gefahr drohe, startete endlich die erste deutsche Staffel von „Big Brother“. Nun würde sich zeigen, ob darin tatsächlich ein verabscheuungswürdiger Menschen-Zoo für Spanner veranstaltet wird – oder doch nur eine harmlose Unterhaltungsshow. Der Druck war enorm, das Interesse riesig, und die Messer waren gewetzt. Besonders Kurt Beck und die Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk waren fest entschlossen, die Reihe sofort nach der ersten Übertragung vom Bildschirm zu verbannen.
Doch dann kam alles anders, und die Medienanstalten winkten das Format unerwartet durch. Das lag nicht zuletzt an einem Last-Minute-Angebot von RTL II, das die Medienaufsicht zurückhalten konnte. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte, … die in der kommenden Woche erzählt wird.
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