Diese Telegeschichte beginnt im September 1997 im holländischen Fernsehzentrum Hilversum. In den Büros seiner Produktionsfirma trifft sich Inhaber John de Mol mit einigen Mitarbeitenden, darunter Patrick Scholtze sowie die Geschwister Paul und Bart Römer. Sie tauschen Ideen für künftige Formate aus. Dabei kommen sie auf das amerikanische Experiment „Biosphere 2“ zu sprechen, bei dem sich zu Beginn der 90er-Jahre acht Personen für zwei Jahre in einen Glaskuppelbau einschließen ließen. Man wollte auf diese Weise erproben, ob es möglich ist, in vollständiger Isolation von der Außenwelt zu überleben und ein künstlich erschaffenes Ökosystem aufrechtzuerhalten. Erkenntnisse, die bei einer künftigen Besiedlung des Mondes oder des Mars nützlich wären.

Für John de Mol und sein Team birgt diese Anordnung großes Potenzial für eine spannende Fernsehshow. Sie fragen sich, wie die Menschen damals zusammenlebten, welche Konflikte es gab und wie faszinierend es wohl wäre, sie in ihrer Abgeschiedenheit zu beobachten. Aus diesen Überlegungen entwickeln sie am Ende ein Fernsehkonzept. Es sieht vor, dass eine Handvoll Menschen für 365 Tage in eine luxuriöse Villa ohne jeglichen Kontakt nach draußen eingeschlossen und unentwegt von Kameras gefilmt wird. So zumindest lautet die Legende.

Für de Mol ist es von Beginn an ein zentrales Anliegen, ein Format zu entwickeln, das sich international verkaufen lässt – eines, das größer ist als die Niederlande. Doch noch ist unklar, ob ein solches Vorhaben überhaupt praktisch umsetzbar ist und wie viel Unterhaltungswert das Setting tatsächlich bietet. Ein Test muss her.

Hierfür fährt ein kleines Produktionsteam in den Ferienpark „De Eemhof“ in Zeewolde, nur wenige Minuten von Hilversum entfernt. Dort mieten sie zwei nebeneinanderliegende Bungalows, um ihre Idee auszuprobieren. In dem einen Haus sitzen sechs einander fremde Personen auf einem Sofa, in dem anderen beobachtet die Crew die Geschehnisse auf Bildschirmen. Alles ist improvisiert. Die Kabel liegen wild im Regieraum herum, es gibt kaum Platz. Die Ereignisse werden lediglich mit einer beweglichen Kamera aufgenommen, die deutlich sichtbar mitten im Zimmer aufgestellt ist. Und dennoch erleben die Verantwortlichen, welche Anziehungskraft die bloße Beobachtung normaler Menschen entfaltet. Immer wieder bleiben neue Gäste und Kollegen, die den Kontrollraum betreten, stundenlang hängen. Bald starren 20 Personen gebannt auf die Monitore.

John de Mol © IMAGO / teutopress John de Mol

Rund 48 Stunden dauert der Probelauf. An dessen Ende steht für die Beteiligten fest: Die Idee wird funktionieren. John de Mol ist derart überzeugt, dass er in Aussicht stellt, das Konzept notfalls in Eigenfinanzierung umzusetzen, sollte sich kein Abnehmer finden.

„De deur is dicht.“

Monate vergingen. Monate, in denen am Format kräftig geschraubt wurde. Der Testlauf hatte nämlich offenbart, dass es gar keinen Luxus, keine teuer eingerichtete Villa für Liebe, Streit und Trauer braucht. Im Gegenteil: Interessante und emotionale Geschichten entstehen umso eher, je spartanischer das Umfeld ist. Daher lautete das neue Motto nun „Back to Basics“ – mit rationierten Lebensmitteln, karger Einrichtung und einer Beheizung per Feuerholz. Die Laufzeit wurde zudem von einem Jahr auf 100 Tage reduziert.

Trotzdem blieb es schwierig, die ungewohnte und aufwendige Idee zu verkaufen. Letztlich stimmte der holländische TV-Sender Veronica zu, die Produktion umzusetzen. Die Verantwortlichen ließen sich vor allem dadurch überzeugen, dass de Mols Firma anbot, die Hälfte der Herstellungskosten zu übernehmen. Als Ausgleich erhielt er auch die Hälfte der Werbeeinnahmen zugesichert. Ein guter Deal, wie sich bald herausstellen sollte.

Los ging es am 16. September 1999. Rund zwei Jahre waren seit dem legendären Meeting vergangen. Auf einem Fabrikgelände in Almere, unweit der Außensets der Serie „Die Flodders“, hatten sich ein paar Dutzend Menschen hinter Absperrgittern versammelt. Sie jubelten neun dunklen Limousinen zu, die in einer Kolonne vorfuhren. Aus ihnen stiegen fünf Männer und vier Frauen. Schnell verteilten sie sich in der Menge. Diese bestand vor allem aus ihren Freunden und engen Familienmitgliedern. Gemeinsam machten sie Fotos, küssten und umarmten sich, lachten und sangen.

Dazwischen standen die Moderatoren Rolf Wouters und Daphne Deckers. Sie forderten die neun Teilnehmenden auf, sich nun langsam zu verabschieden. Mit ihren silbernen Diplomatenkoffern versammelten sie sich schließlich an einem Tor, das in einem mit blauen LKW-Planen verzierten Bauzaun eingelassen war. Dahinter führte ein gerader Weg direkt auf eine unscheinbare Baracke zu.

Nach und nach schritten Bart, Ruud, Willem, Karin, Maurice, Bianca, Mona, Sabine, Tara und Martin den Weg entlang und verschwanden durch eine schmucklose Tür im Inneren des Flachbaus. Der Letzte von ihnen schloss die Tür. Rolf Wouters und Daphne Deckers drehten sich in diesem Moment zur Kamera und stellten abwechselnd fest: „De deur is dicht. ‚Big Brother‘ is begonnen.“

Skandalshow ohne Skandal

Die gesamte holländische Nation war gespannt, was nun passieren würde. Immerhin sollten die Kandidaten für Monate gemeinsam in einem kümmerlich eingerichteten Wohncontainer leben – rund um die Uhr beobachtet von Kameras in jeder Ecke. Dafür war der Bau so konstruiert, dass sich in dessen Mitte hinter den Wänden ein versteckter Bereich befand, von dem aus die Ereignisse in allen Wohnräumen durch halbtransparente Spiegel gefilmt werden konnten. Die Bilder waren entweder via Livestream im Internet oder in einer täglichen Zusammenfassung der Highlights im Abendprogramm um 20.00 Uhr zu sehen.
Die Mitspielenden selbst bekamen von der Außenwelt nichts mit. Kein Fernsehen, kein Radio, keine Telefone oder andere Möglichkeiten der Kontaktaufnahme waren erlaubt. Das Gelände und der Garten waren großflächig abgesperrt und mit blickdichten Zäunen versehen.

Noch vor dem Start gab es große Widerstände und Bedenken gegen das Vorhaben.
Als eine der ersten Gruppen protestierten Ärzte aus Almere gegen die Sendung, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft entstehen sollte. In einem offenen Brief warfen sie der Produktion vor, „ein soziales Experiment“ durchzuführen, bei dem Menschen „absichtlich psychischem Stress ausgesetzt werden“, einzig um daraus „finanziellen Nutzen“ zu ziehen.

Andere kritische Stimmen sprachen von einem Verstoß gegen die Menschenwürde. Sie befürchteten psychische und emotionale Schäden bei den Teilnehmenden durch die Isolation oder die freiwillige Aufgabe der Privatsphäre. Zudem wurden die Macherinnnen und Macher beschuldigt, primitive voyeuristische Bedürfnisse des Publikums befriedigen zu wollen – insbesondere, weil auch in den Bade- und Schlafräumen Kameras installiert waren. Zuletzt protestierten Tierschutzorganisationen, da im Garten des Hauses Hühner lebten und befürchtet wurde, diese könnten im Fernsehen geschlachtet werden.

Doch schnell zeigte sich, dass all die Aufregung unbegründet war. Vielmehr entpuppte sich das Geschehen als häufig banal, oft zäh und überhaupt nicht empörend. Die befürchteten psychologischen Ausfälle oder handfesten Streitereien traten schlicht nicht auf. Sogar den Hühnern ging es den Umständen entsprechend. Dafür dominierten meist Langeweile, müde Gespräche, alltägliche Routinen oder eintöniges Herumlümmeln. Entsprechend ließ das Interesse an der vermeintlichen Skandalshow bald nach. Und es stellte sich die Frage: Hatte sich John de Mol etwa verkalkuliert? Hatte er das Publikumsinteresse an Reality-TV überschätzt?

Die entscheidende Zigarette danach

Doch dann entwickelte sich zwischen Bart und Sabine eine romantische Beziehung, die sie vor laufenden Kameras offen auslebten. Sie streichelten sich, küssten und kuschelten miteinander. Schnell isolierten sie sich dadurch von den anderen, die sichtlich genervt auf das Paar reagierten und es in der dritten Woche prompt auf die Nominierungsliste setzten.
Hierzu muss man wissen: Zum Spiel gehörte, dass regelmäßig eine Person das Haus verlassen und damit aus der Sendung ausscheiden musste. Darüber stimmte letztlich das Publikum per Telefon ab. Vorher wählten die Teilnehmenden in geheimer Abstimmung zwei aus ihrer Mitte aus, die für diesen Auszug nominiert wurden und sich dem Telefonvoting zu stellen hatten. Mit der gleichzeitigen Nominierung von Bart und Sabine war also klar, dass das Paar in der kommenden Woche sicher getrennt werden würde.

Am Abend vor der Entscheidung kam es zur folgenreichen Szene. Im Wissen, dass es ihre letzte gemeinsame Nacht war, krochen die beiden in ein Bett. Im schwarz-weißen Nachsichtmodus der Kameras war einzig anhand des Auf und Abs der Bettdecke zu erahnen, was geschah. Doch als sie nach ein paar Minuten hervorkamen und sich genüsslich zwei Zigaretten anzündeten, war klar: Bart und Sabine hatten echten Sex. Im Fernsehen. Eine Sensation und der einkalkulierte Jackpot für das Team. Am nächsten Tag musste Sabine das Haus verlassen.

Als ob das nicht schon spektakulär genug war, erhielt die Szene eine zusätzliche Brisanz dadurch, dass Sabine einer anderen Insassin ihre wahren Gefühle gestand. Für sie war die Beziehung mit Bart nämlich keine allzu ernste Sache. Davon aber ahnte Bart nichts, der sich wirklich verliebt hatte und zu ihrem Abschied heftig weinte. Er war wahrscheinlich der einzige Mensch in den ganzen Niederlanden, der nicht wusste, was Sabine tatsächlich fühlte. Was für ein Drama.

So schwer Bart der Abschied fiel, so zentral war seine letzte Nacht mit Sabine für die Marke „Big Brother“. Von diesem Moment an stiegen die Quoten um 50 Prozent an und blieben bis zum Ende der Staffel auf diesem hohen Niveau. Jetzt, da klar war, was alles passieren konnte, war das Interesse an der Reihe immens.

Bis zu 1,5 Millionen Menschen schalteten fortan die täglichen Zusammenfassungen ein. Die Entscheidungsshows gerieten noch beliebter und erreichten nicht selten zwei Millionen Zuschauende. Das Finale erzielte sogar eine durchschnittliche Sehbeteiligung von 3,5 Millionen. Für ein Land mit einer Bevölkerung von knapp 18 Millionen Menschen waren das herausragende Werte. Der Marktanteil bei den 20- bis 44-Jährigen lag zuweilen bei schwindelerregenden 60 Prozent.

Nach diesem Abend. Nach dieser Sex-Nummer. Nach dieser Zigarette danach war die Sendung nicht mehr dieselbe. Und auch die Fernsehwelt war nicht mehr dieselbe.

Campen, Crashen und Kassieren

Es entstand ein riesiger Hype um „Big Brother“, der in den nächsten Wochen die gesamte Medienlandschaft dominieren und Fernsehverantwortliche auf der ganzen Welt beeindrucken sollte. Die Kandidaten wuchsen zu nationalen Stars. Fans begannen, vor dem Gelände in Almere zu campieren und Fanseiten für einzelne Teilnehmende zu erstellen.

Der Erfolg zog ebenso das Interesse von Journalisten wie Willibrord Frequin auf sich. Er war bereits für seine spektakulären, oft umstrittenen Berichte berüchtigt. Nun nahm er sich vor, mit einem Fallschirm im Hof des Containers zu landen – angeblich mit dem Ziel, die löchrigen Sicherheitsvorkehrungen nachzuweisen. Während er im Anflug das Haus selbst knapp verpasste, crashte sein Kollege gegen die Hauswand und kam so in direkten Kontakt mit den Bewohnenden. Mit seinem mitgebrachten Camcorder konnte er die Reaktionen noch schnell einfangen, bevor er unter Anwesenheit der örtlichen Polizei vom Gelände geleitet wurde. Der Vorfall bescherte Frequin und seinem Magazin zwar einen kurzen Moment der Aufmerksamkeit, sorgte jedoch zugleich dafür, dass der Bereich um das TV-Studio fortan deutlich strenger gesichert werden musste und nun an ein Hochsicherheitsgefängnis erinnerte.

Wenige Tage später ereignete sich eine ähnliche Szene. Nachdem die Bewohner und Bewohnerinnen ihre Wochenaufgabe verloren hatten, wurde ihr Budget für Essen und Trinken gekürzt. Daraufhin beschlossen Jop Nieuwenhuizen und seine Freunde, ein Survival-Paket mit Sandwiches, einer Zeitung und etwas Alkohol packen und an Bart, Ruud und Co. übergeben zu wollen. Dazu spionierten sie das Gelände und die Schutzvorrichtungen akribisch aus und entwickelten einen filmreifen Plan. In einer Nacht schlich sich Jop dann an. Schwarz gekleidet, mit dunkler Schminke getarnt und bewaffnet mit einer Zange, schnitt er den frisch installierten Stacheldraht durch und kletterte über den Innenzaun. Hierbei landete er zunächst in der Komposttonne des Gartens, Trotzdem schaffte er es ins Haus. Dort traf er auf Sabine und Bianca, die sich furchtbar erschraken. Da er keine Zeit zu verlieren hatte, stellte Jop das Paket bloß schnell ab und stürmte gleich wieder davon. Auf der Flucht vor den Sicherheitsleuten versteckte er sich hinter einer Couch, die in einem der leeren Häuser aus dem „Flodder“-Set stand, bis sich die Lage beruhigt hatte und er zu seinen wartenden Freunden zurückkehren konnte. Das Tragische an der Geschichte war, dass die Insassen das Paket nicht behalten durften und die Szene nie im Fernsehen zu sehen war. Vor allem um auf diese Weise keine weiteren Nachahmungen zu provozieren.

In den restlichen Wochen bestimmten das Leben im TV-Knast vor allem monotone Wochenaufgaben und routinierte Abläufe. Sie wurden durchbrochen als Popsängerin Anouk auf einen kurzen Blitz-Besuch mit Essen und Wein vorbeikam. Nach 43 Tagen wollten die Verantwortlichen offenbar etwas Bewegung ins Spiel bringen. Sie boten den Teilnehmenden jeweils 10.000 Gulden an, für den Fall, dass sie das Haus sofort verlassen und ihre Chance auf den Hauptgewinn von 250.000 Gulden aufgeben würden. Bianca und Mona nahmen das Angebot überraschend an und stiegen so vorzeitig aus.

Bei ihrem Auszug erlebten alle Kandidaten vor dem Haus einen Empfang wie Popstars. Sie traten danach in Talkshows auf oder besuchten verschiedene Veranstaltungen. Einige nahmen CDs auf. Der holländische „Playboy“ verpflichtete die 21-jährige Tara für Nacktaufnahmen. Sie war schon nach zwei Wochen freiwillig aus dem Haus ausgezogen, weil ihr die ständige Umarmerei und die übertrieben freundliche Art der anderen auf die Nerven gingen.

„Hirnlose Monster“

Nach 100 Tagen setzte sich im Finale am 30. Dezember 1999 letztlich der Bewohner Bart durch. Nach seinem kurzen, aber heftigen Ruhm arbeitete er zunächst als Radiomoderator und Fernsehproduzent. Später distanzierte er sich deutlich von der Sendung. In einem viel beachteten Interview mit der britischen „Times“ offenbarte er, dass er nach seiner Zeit im Container mehrere Nervenzusammenbrüche erlitten habe und sich seine Privatsphäre zurückwünsche. Seine Kritik gipfelte in seiner oft zitierten Aussage: „Wenn es stimmt, dass ich dazu beigetragen habe, dieses hirnlose Monster zu erschaffen, bin ich nicht besonders stolz darauf... ‚Big Brother‘ hat die Notwendigkeit, inspirierende Programme zu machen, durch hirnloses Geschwätz ersetzt. Es ist an der Zeit, es in ein Museum für seltsame Artefakte der Fernsehgeschichte zu stellen.“

1. BB-Gewinner Bart © IMAGO / Sven Simon Bart gewann die erste Staffel von "Big Brother" in den Niederlanden

Für John de Mol erwies sich das Projekt indessen als wahre Goldgrube. Nach dem überragenden Zuspruch in den Niederlanden konnte man das Format in über 60 Länder verkaufen. In Deutschland sicherte sich der Sender RTL2 die Rechte. Schon zwei Monate nach dem holländischen Finale zogen dann John, Jürgen, Zlatko, Andrea, Thomas, Kerstin, Manuela, Jana, Despina und Alex in den deutschen Container in Hürth ein. Auch hier löste allein die Ankündigung der Show eine große Debatte unter Vertretenden der Medienaufsichten, Kirchen und Politik aus. Selbst der Bundespräsident äußerte seine Bedenken. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte, … die bald erzählt wird.