Diese Telegeschichte beginnt am 08. März 1999 im Kölner Theater am Rudolfplatz. Bis vor etwa einem Jahr entstand in dem ehemaligen Kino noch die glücklose "Ulla Kock am Brink Show". Jetzt ist die Kulisse etwas verändert. Ein junger Mann tritt auf die Bühne. Er trägt einen zu groß geratenen anthrazitfarbenen Anzug, dazu ein blassblaues Hemd mit weißem T-Shirt darunter. Etwas unbeholfen verbeugt er sich und setzt am Ende des Auftrittsapplauses mit seiner Begrüßung an: "Meine Damen und Herren, herzlich willkommen zu ‚TV Total‘."
Sichtlich nervös hampelt und stottert sich Stefan Raab durch die Premiere seiner neuen Sendung. Dafür hat er allen Grund. Für ihn stellt sie endlich den überfälligen Sprung vom jugendlichen Musiksender VIVA zum Erwachsenen-Fernsehen dar. Lang hat er darauf hingearbeitet und vor zwei Jahren sogar einen Piloten produziert und im Programm seines ehemaligen Arbeitgebers testen lassen. Nun also hat es geklappt. Eine wöchentliche TV-Show, montags um 22.15 Uhr auf ProSieben. Was sich bald zu einem der prägendsten Konzepte für die nächsten zwei Dekaden herausstellen wird, muss er an diesem Abend seinen Zuschauenden noch erläutern. Dabei steckt er das Humorlevel ab, auf dem er sich fortan bewegen wird: "Das tolle für Sie, sie brauchen nur noch eine einzige Sendung in der Woche zu sehen - nämlich diese hier. […] Wenn zum Beispiel etwas Sensationelles oder was Spektakuläres passiert oder was höchst Seltenes - wie zum Beispiel, wenn Johannes B. Kerner ein Witz erzählt, der gut ankommt - dann sehen Sie das hier in dieser Sendung."
Raab fehlt noch die Übung. Das Timing sitzt nicht. Er verschluckt manche Gags, wirkt hektisch. Immer wieder setzt er sein breites Grinsen auf, als eine Art Entschuldigung für seine Beleidigungen. Es soll sagen: "Nicht böse sein, war ja nur ein Spaß."
Danach folgt der allererste Ausschnitt des Formats. Er stammt aus dem RTL-Magazin "Life – Die Lust zu leben". Raab kündigt ihn mit einem Verweis darauf an, dass heute der Internationale Frauentag sei und er sich anlässlich dieses Tages verliebt hätte. Gezeigt wird ein Schnipsel, in der eine Frau darüber spricht, wie sie ihren Damenbart am Kinn stutzt, da er sonst zu "zipfelig" würde. Raab feixt, kratzt sich nervös am Hinterkopf. "Sie haben es erkannt. Das war natürlich Käpt'n Iglu." Das Publikum grölt. Es ist die Art von Humor, die Raab bis heute mit Stolz vor sich herträgt.
In diesem Stil geht es weiter. Im schnellen Wechsel amüsiert sich Raab über einen schwer verständlichen Holzschnitzer und über einen Sporttrainer, der empfiehlt, das Becken vorzuschieben und langsam wieder herauszuziehen. Er scherzt über zwei Männer, die ihrer Tante Jutta mit einem Lied im breitesten Sächsisch zum Geburtstag gratulieren ("Ö La Palöma Blanca"). Er singt Rudi Carrell ein beleidigendes Ständchen (ein "Raabigramm"). Er besucht eine lokale Puddelausstellung und er macht sich über die sichtbaren Schweißflecken von Nachmittagstalker Andreas Türck lustig.
Außerdem begrüßt er drei Personen im Studio, die der Redaktion in der vergangenen Woche besonders aufgefallen wären. Hierbei handelt es sich um einen überdrehten Bademeister aus der Talkshow von "Birte Karalus", um die "geheimnisvolle Schnittlauch-Lady" sowie um den 85-jährigen, rüstigen Tanzlehrer Lommi Lommertzheim, der im Offenen Kanal Berlin einen Kurs für Senioren-Tango präsentiert. Letzter gewinnt nach einer Abstimmung im Studio den "Raab der Woche" und darf beim nächsten Mal wiederkommen. So schnell ist die erste Ausgabe von "TV Total" vorüber und Fernsehgeschichte geschrieben.
"Kümmerliche Erscheinung"
Dass das neue Format rasch zu einer festen Größe im deutschen Fernsehprogramm werden und Raab sowohl vor als auch hinter der Kamera zu einer der prägenden Persönlichkeiten des Senders aufsteigen würde, war aus den meisten Kritiken nach der Premiere kaum abzusehen. "Wenig witzig", lautete etwa das Urteil von Michael Burucker im Tagesspiegel. Für ihn wirkte das Konzept "bemüht", während Raab "überraschend unsicher und gequält" erschien. Ähnlich kritisch äußerte sich Günther Wolf im Hamburger Abendblatt, der die Beiträge als "kurz komisch, dann aber gleich öd" empfand. Noch schärfer formulierte es Harald Keller in der taz, der befand, dass die Werbeblöcke "mehr Pointen zu bieten hatten als das sie umgebende Programm".
Besonders Raabs Auftreten und Humor stießen bei vielen Beobachtenden auf Ablehnung. So bezeichnete Steffen Lüddemann in der Leipziger Volkszeitung Raab als "kümmerliche Erscheinung", dessen Gestik und Tonfall an "halbstarke Eckensteher" erinnerten. Die Stuttgarter Zeitung warf Raab vor, "kein witziger Kritiker des Fernsehens" zu sein, sondern Menschen bloßzustellen und sich gezielt in die "Schwächsten der Schwachen" zu verbeißen. Und Susanne Mühlemann erkannte im Schweizer Tagesanzeiger in "TV Total" vor allem "billige und nur bedingt witzige Effekte", die sich bevorzugt gegen "Frauen und Minderheiten" richteten, da diese "als Lachnummern mehrheitsfähig und bewährt" seien. Ihr Fazit: "Für Stefan Raab aufzubleiben, lohnt sich nicht."
Doch es gab auch wohlwollendere Stimmen. Rüdiger Hemlich attestierte der Show wegen ihrer zelebrierten Häme, "ganz nett" zu sein. Frank Jordan schrieb in der Welt, die Sendung mache Spaß, während Emmanuel van Stein in der Mitteldeutschen Zeitung ihr sogar das Prädikat "total witzig" verlieh. So unterschiedlich konnten die Wahrnehmungen ausfallen.
Die unzufriedenen Kritiker und Kritikerinnen konnten noch nicht sehen, worin Raabs wahre Stärke liegt. Sie liegt nicht im Vortragen von vorgefassten Stand-Ups, nicht im Führen von Gesprächen mit für ihn uninteressanten Menschen und nicht im disziplinierten Zusammenhalten eines Ablaufs, der sich aus vielen disparaten Elementen zusammensetzt. Sie liegt vielmehr darin, aus Nichtigkeiten großes Fernsehen zu machen - kleine Vorfälle zu riesigen Kampagnen und zu überbordenden Pseudo-Events hochzustilisieren. Und sein Gesellenstück für diese Kunst fiel ihm in der fünften Ausgabe eher zufällig in die Hände.
Gipfel der Calgon-Männer
Die Redaktion hatte sich vorgenommen, die verschiedenen Werbegesichter der Firma Calgon zusammenzubringen. Man kennt die Spots heute noch: "Waschmaschinen leben länger mit Calgon". Damals rotierten durch die Werbeblöcke mehrere Waschmaschinenmonteure, die ernsthaft und bedeutungsschwer davor warnten, keinen Waschmaschinenentkalker einzusetzen. Andernfalls würden die Geräte beschädigt und insbesondere vom ikonischen Lochfraß befallen werden. Drei dieser Testimonials lud man ein, um mit ihnen an 12. April 1999 den "Gipfel der Calgon-Männer" abhalten zu können. In diesem Rahmen sollten sie "für ihren unerbittlichen Kampf gegen den Lochfraß" mit dem "Raab der Woche" ausgezeichnet werden – wie es im zugehörigen Einspieler hieß. Gekommen waren Herr von der Meulen und Herr Richter. Stilecht im blauen Monteurkittel nahmen sie auf der Couch neben Raabs Schreibtisch Platz und warteten brav auf dessen Fragen. Doch der bemerkte zunächst: "Moment mal, fehlt da nicht einer?" Aus dem Publikum war sogleich ein Ruf zu hören: "Dieter!".
Dieter Bürgy aus Leimen war ebenfalls ein Handwerker, der in den Werbespots auftrat. Eigentlich ein unauffälliger Typ. Dunkle Haare, Vollbart, Papa-Figur. Wie man sich einen Waschmaschinenmonteur so vorstellt. Und doch entwickelte er sich mit seiner sonoren Stimme und seinem Leimener Akzent zur markantesten und bekanntesten Figur aus dem Calgon-Universum. Ausgerechnet er fehlte beim Gipfeltreffen. Fatal.
Damit alle Zuschauenden wussten, wer gemeint war, spielte Raab einen Werbespot mit ihm ein. Unterdessen saßen die beiden anderen Calgon-Männer unbeachtet auf der Couch. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Raab ihnen keine nennenswerte Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt wandte er sich ihnen endlich zu – allerdings nur, um sie zu fragen, ob sie Bürgy bereits persönlich kennen würden. Offensichtlich beeindruckt von dem Szenarium um ihn herum, prahlte Herr von der Meulen stolz, dass er ihn mal auf einer Hausmesse getroffen habe. Ein ernstes Interesse hinter seiner Frage hatte Raab nicht. Sie diente ihm lediglich als Rampe zu seiner eigentlich geplanten Aktion.
Unterstützen Sie die "Bürgy-Initiative"!
Wie Raab erklärte, habe man Bürgy ebenso eingeladen, dann aber ein Fax vom "Dieter Bürgy Elektroservice" erhalten. Darin stand: "Ich habe nun Ihre Sendung ‚TV Total‘ vom 28.03. gesehen und sollte ich tatsächlich an Ihrer Sendung teilnehmen, müsste ich Ihnen ein Honorar von DM 20.000 berechnen." Das Publikum feierte und Raab parierte gut gelaunt: "20.000 DM. Da sind die Anfahrt und die Kleinteile ja noch gar nicht mit drin." Längst war ihm zu diesem Zeitpunkt klar, dass er in seinen Händen das Potenzial für eine große Story hielt.
Wie Bürgy später anerkennend erklärte, handelte es sich bei seiner Antwort um eine erkennbar scherzhafte Forderung, die Raab und sein Team jedoch absichtlich falsch bewerteten, um daraus ihre Scherze ziehen zu können. Genau das tat Raab: Er rief eine Spendenaktion aus, um die angebliche Gagenforderung auf diesem Weg aufbringen und Bürgy so vor seine Kameras locken zu können. "Bürgy-Initiative" nannte er diese Aktion und rechnete vor: "Wenn nur jeder Hundertste zehn Pfennig oder jeder Zehnte eine Mark oder einer 20.000 Mark gibt, kann er kommen." Über den Fortlauf der Causa und den aktuellen Spendenstand wolle er in der kommenden Woche berichten.
Herr von der Meulen und Herr Richter blieb nichts weiter übrig, den um sie herum abgefeuerten Hype um ihren Mitstreiter unbeteiligt zu beobachten. Ein ernsthaftes Gespräch führte Raab nicht mit ihnen. Stattdessen konfrontierte er sie mit der Behauptung: "Ihr lebt doch davon, dass ihr Waschmaschinen repariert. Calgon verhindert, dass Waschmaschinen kaputtgehen. [...] Das ist, wie wenn ein Schwein Werbung für einen Metzger macht." Was sollten die Calgon-Männer darauf antworten? Und so zogen sie schließlich von dannen, ohne jeweils kaum zehn Worte gesagt zu haben. Ein Interesse an ihnen zeigte Raab an diesem Abend nicht. In der Absage von Bürgy hatte er längst ein neues Spielzeug gefunden.
Ein Lied für Bürgy
Wie sich herausstellte, waren Menschen tatsächlich bereit, ihr eigenes Geld einzusetzen, um ein Teil von diesem Joke zu sein. Nach sieben Tagen waren zwar gerade 3,21 DM zusammengekommen, doch zogen die Summen danach merklich an. Bald informierte ein Laufband, wie es in großen Spendengalas üblich ist, über die Namen der Spender:innen und deren überwiesene Beträge. Es verriet, dass beispielsweise eine Computer-Personalberatung aus Hamburg 126,87 DM überwiesen hatte. Ab der dritten Woche beteiligten sich zunehmend spezifische Gruppen wie der Dieter-Bürgy-Fanclub Miltenberg (30,00 DM) oder der Dieter-Bürgy-Förderverein Kraichgau (3,25 DM) und bewiesen damit, dass die Quatsch-Aktion tatsächlich Fahrt aufnahm und sich die Zuschauenden von ihr anstecken ließen.
Parallel versuchte Raab, den Waschmaschinen-Monteur unabhängig vom Erreichen des Spendenziels von einem Besuch zu überzeugen. Unter dem Motto "Ein Lied sagt mehr als tausend Worte" präsentierte er am 19. April 1999 einen Song, den er eigens für Dieter (um-)geschrieben hatte. Er basierte auf dem damals erfolgreichen Chart-Hit "Vater, wo bist du?" von der Band "Die 3. Generation", den er recht unkreativ zu "Bürgy, wo bist du?" umtextete.
Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Youtube, der den Artikel ergänzt. Sie können sich den Inhalt anzeigen lassen. Dabei können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Weitere Informationen finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
"Ich hoffe, Ihnen nächste Woche ein neues Lied präsentieren zu können. Das machen wir jetzt so lange, Dieter, bis du kommst!", drohte Raab nach dem Ende des dazugehörigen Clips.
Und er hielt Wort. In den kommenden Wochen legte er weitere Coverversionen nach. Zunächst servierte er eine Neuinterpretation von "Night Fever" der Bee Gees. "Vielleicht", leitete Raab den Beitrag ein, "war das Video der vergangenen Woche nicht sein Geschmack. Vielleicht hört er lieber Seventies-Style. Er ist ja so ein bisschen Disco-Typ und aus der Love-, Peace- und Lochfraß-Generation." Entsprechend trat Raab in einer Diskothek, begleitet von zwei Tänzerinnen, in einem goldfarbenen Anzug, mit Afro-Perücke, Sonnenbrille und einer unbeholfenen Choreografie auf. Mit seiner markanten Kopfstimme intonierte er zur eingängigen Melodie des Originals: "Komm doch vorbei, Dieter, bei, Dieter."
Eine Woche später startete Raab einen letzten Versuch "mit Gottes Hilfe". Am 3. Mai 1999 präsentierte er zusammen mit den Dieter-Bürgy-Lochfraß-Gospel-Singers einen Gospel-Blues, wie man ihn aus Gottesdiensten in afroamerikanischen Gemeinden zu kennen glaubt. Diesmal nicht als Video, sondern live im Studio. "Super-Dieter, Hallelujah!" Dazu hüllte er sich in eine rote Robe und brüllte wie James Brown ins Mikrofon. Eine platte Darbietung voller Klischees, an der Raab selbst wohl die meiste Freude hatte. Sie bildete den Schlussakkord in Raabs Bemühungen, denn als er nach der Aufführung erneut bei Bürgy anrief, bestätigte dieser überraschend, nun doch vorbeikommen zu wollen. "Ihr habt euch ja auch die Mühe gemacht, die honoriert werden soll", lautete seine versöhnliche Begründung. Natürlich war das Gespräch eine Inszenierung, im Hintergrund waren die zugehörigen Vereinbarungen längst getroffen. Deutschland war bereit, für den Auftritt von Dieter Bürgy und damit für das große Finale des Schauspiels.
Bürgy kommt!
Am 17. Mai 1999 war der große Tag gekommen, auf den das Team von "TV Total" in den vergangenen sechs Wochen hingearbeitet und ihre Narration zugespitzt hatte. Es war der Tag, an dem Dieter Bürgy endlich als Gast auftreten sollte. Und natürlich musste das letzte Kapitel dieses überhöhten Hypes opulent inszeniert werden. So war vor dem Theater ein roter Teppich ausgerollt und mit Absperrleinen gesichert worden. Dahinter jubelte und kreischte eine (engagierte) enthusiastische Fangemeinde. Ausgestattet mit Plakaten und Spruchbändern und gekonnt so ins Bild genommen, dass sie größer wirkte, als sie eigentlich war.
Mittendrin stand Moderatorin Susann Atwell, die Raab als seine "heißeste Kollegin" ankündigte und die ihre Rolle der euphorischen Society-Reporterin glaubhaft ausfüllte. In mehreren Schalten berichtete sie von angeblichen Fotografen und Kamerateams vor dem Gebäude, von einem Konvoi aus 129 Begleitfahrzeugen, die Bürgy eskortieren würden und davon, dass allein acht Mädchen in Ohnmacht gefallen wären, weil ein Mann im grauen Kittel auf der anderen Straßenseite vorfuhr. Er habe sich aber als Techniker entpuppt, der den Fahrkartenautomaten reparieren wollte. Zudem gestand sie aufgrund ihrer enormen Vorfreude selbst für ein paar Minuten weggetreten gewesen zu sein. Atwells selbstironische Zwischenberichte übersteigerten den Auftritt des einfachen Handwerkers ins Absurde und verzögerten die überfällige Auflösung dieses banalen Sketches immer mehr.
Bevor Dieter Bürgy endlich das Studio betrat, galt es für das Publikum zunächst unzählige Ausschnitte aus Daily Talks, die Besuche von Talkshow-Göre Francesca und Musiker Helmut Zerlett sowie ein homophobes Raabigramm für Brisko Schneider durchzustehen. Nach schier endlosen 45 Minuten war der große Moment endlich da. Ein dunkler Audi rollte vor das Studio. Darin Dieter Bürgy - begleitet von zwei Bodyguards in schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen. Nach einer Werbepause betrat er schließlich unter großem Jubel das Studio. Es war ein großspuriger Einzug – vergleichbar mit denen, die sich Raab später gern für sich selbst arrangieren wird bei seinen WOK-WMs, Stock-Car-Rennen oder Trumsprung-Wettkämpfen.
Bürgy spielte bei all diesem Zirkus freiwillig mit. Sichtlich amüsiert, antwortete er auf Raabs Frage, ob er mit einem solchen Empfang gerechnet habe, trocken: "Ja, natürlich." Viel mehr durfte er zunächst nicht sagen. Im Ablauf war nämlich vorgesehen, dass ein deutlich zu lang geratener Einspieler die Ereignisse der vergangenen Wochen zusammenfasst. Danach verkündete Raab den finalen Spendenstand der "Bürgy-Initiative". 1.556,37 DM. Der Calgon-Mann bewies Großzügigkeit, verdoppelte die Summe aus eigener Tasche und kündigte an, sie für Flüchtlingslager im Kosovo und Mazedonien zu spenden. Nach einer zusätzlichen Verdopplung durch das Team von "TV Total" standen am Ende 6.226,92 DM auf dem gigantischen Scheck.
Im nachfolgenden rudimentären Gespräch - wenn man es überhaupt so nennen konnte – erläuterte Bürgy, dass Lochfraß tatsächlich ein häufiger Defekt bei Waschmaschinen sei – genauso wie Elektronikfehler oder Bügel-BHs, die in die Trommel geraten. Raab hörte ihm kaum zu. Stattdessen wartete er nur auf Möglichkeiten, einmal mehr plumpe Wortspiele rund um den Begriff "Lochfraß" zu platzieren. Ein Witz, den er in den vergangenen Wochen deutlich überstrapaziert hatte. Zum Abschluss drückte Raab seinem Gast noch lieblos den "Goldenen Ehren-Raab" in die Hände und wechselte schnell in die nächste Werbepause. Am Ende kam der lang angekündigte Dieter Bürgy auf etwa 5 Minuten Sendezeit netto. Was für ein Theater!
Die große bunte Raab-Show
Die Ereignisse im Frühjahr 1999 haben auf mehreren Ebenen bis heute Relevanz. Sie bildeten die erste große Kampagne von "TV Total", von denen es im Laufe der Reihe viele andere gab. Und sie ebneten den Weg für Stefan Raabs prägenden Einfluss auf das deutsche Fernsehen. Die Dramaturgie der Ereignisse, die Kunst der endlosen Verzögerung, die überlebensgroße Inszenierung von Auftritten und das Aufblasen eines eigentlich unspektakulären und kurzen Anlasses zu einem gigantischen Medienereignis – all das, was Raab in den Folgejahren perfektionieren und bei seinem Comeback-Boxkampf letztlich überreizen sollte, und all das, was viele andere Produktionen in den nachfolgenden 25 Jahren übernommen haben, war in Ansätzen bei Bürgy bereits zu erkennen. Das Event als Selbstzweck: Nicht Bürgy war der Star, sondern das Brimborium um ihn herum.
Man kann die Bürgy-Kampagne daher wohlwollend als Parodie auf die Mechanismen des Showgeschäfts lesen. Auf diese Weise lässt man jedoch das Ego von Stefan Raab außen vor. Schon bei VIVA war dies ein unsympathischer Charakterzug an ihm. Er ließ neben sich stets wenig Platz für andere. Auch die "Bürgy-Initiative" drehte sich letztlich allein um Raab: um seine ermüdenden Lochfraß-Gags, um seine Songs, um seine Talente. Der Handwerker war dafür lediglich eine nützliche Projektionsfläche und im Grunde austauschbar. Vor diesem Hintergrund offenbarten die Bürgy-Sendungen, wie viel Show man veranstalten kann, einzig um sich selbst zu feiern.
Zugleich definierte Bürgy einen neuen Typus von Prominenz und etablierte das Fernsehen als Katalysator beliebiger Bekanntheit. Zeitlich angesiedelt zwischen den Daily Talks und dem Aufkommen der sozialen Medien begann das Fernsehen um die Jahrtausendwende, unscheinbare, normale Menschen ohne besonderen Star-Glanz gerade wegen des Fehlens eines solchen Glanzes zu großen Stars hochzujubeln. Für Zlatko, Daniel Küblböck, Kader Loth, Daniela Katzenberger, Bauer Heinrich und die vielen anderen Figuren, die durch das Fernsehen bekannt wurden, ohne dass sie etwas geleistet hatten, lieferte der künstliche Hype um Dieter Bürgy die Blaupause ihres Durchbruchs.
Die drei Bürgy-Songs gelangten kurz danach übrigens auf das offizielle Album zu "TV Total". Dort reihten sie sich ein neben "Der Puller von Dubinski", vier Liedern der Ö La Paloma Boys, Raabs ESC-Beitrag "Wadde Hadde Dudde Da" und zahlreichen Raabigrammen. Ebenfalls vertreten war der Hit "Maschendrahtzaun", für den er die ahnungslose Regina Zindler zu seinem nächsten Opfer machte. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte.