Diese Telegeschichte beginnt im Jahr 1979 in einem Haus im niedersächsischen Hollenstedt. Es gehört Winfried Debertin, der eigentlich beim Norddeutschen Rundfunk als Redakteur für die Kindersendung „Sesamstraße“ arbeitet. Derzeit nimmt er gerade im Landesfunkhaus Hannover die Pilot-Folgen einer neuen Puppenserie auf, deren Konzept er miterdacht hat. Vielleicht, so seine Hoffnung, kann diese den teuren US-Import irgendwann ersetzen. Obwohl die Aufzeichnung schon laufen und das Figurenensemble längst feststeht, werkelt Debertin ohne Absprache mit Sender und Team in seinem Haus an einem weiteren Charakter. Er soll die vielen Spielszenen und Einspielfilme zusammenhalten, die bisher als disparate Elemente schlicht aneinandergereiht werden. Es sind Szenen von einem gewissen Paul, der mit seiner Freundin Lulu und deren Schwester Peggy in einer kleinen Wohnung leben, vom grimmigen Nepomuk, vom gefräßigen Drachen Poldi, vom Bücherwurm Lexi oder vom freundlichen Eichkater Kasimir.
Debertin modelliert einen Kopf aus Ton und formt ihn anschließend aus Gips ab. Es entsteht eine Klappmaul-Puppe mit gelber Plüschhaut, großen Augen und einer orangen Knubbelnase. Für ihre angedachte Rolle als Moderator verpasst er seiner Schöpfung in Anlehnung an den beliebten Showmaster einen karierten Anzug. Damit ist sie fast komplett. Bloß ein Name fehlt noch. Wie es der Zufall will, läuft an diesem Abend das Drama „Der alte Mann und das Meer“ aus dem Jahr 1958 im Fernsehen. In der Hauptrolle Spencer Tracy. Der Schauspieler inspiriert ihn so sehr, dass er beschließt, seine Figur nach ihm zu benennen.
Heimlich schmuggelt Debertin die Puppe am nächsten Tag ans Set und macht mit ihr, als das Team in der Mittagspause ist, einige Probeaufnahmen. Diese überzeugen die Redaktion derart, dass der Neuzugang direkt zum Zentrum der Serie befördert wird. Als die ersten fünf Ausgaben im Dezember 1979 im Dritten Programm ausgestrahlt werden, tragen diese sogar seinen Namen: „Hallo Spencer“.
„Von A bis Z, von 1 bis 100, von Nord bis Süd, von Ost bis West.“
Von „Hallo Spencer“ entstanden insgesamt 275 halbstündige Episoden in unterschiedlicher Form und Qualität. Am bekanntesten und einprägsamsten waren jene, die im sogenannten Spencerdorf spielten. Sie erzählten eine durchgehende Handlung, die sich vollständig im Kosmos der kleinen Dorfgemeinschaft bewegte. Jenes Runddorf bestand hierbei aus acht wiederkehrenden Schauplätzen, die kreisförmig angeordnet waren. Neun, wenn man die Kreuzung mitzählte. Dazu gehörten im Uhrzeigersinn der Pilz des belesenen Ringelwurms Lexi, das Schloss des grantigen Bildhauers Nepomuk, der Kastanienbaum samt Fahrstuhl von Kasimir, Poldis Drachenkrater, das Hausboot der streitenden Zwillinge Mona und Lisa, der Eisenbahnwaggon von Elvis und Lulu, die wechselnde Showkulisse der Quietschbeus sowie das Studio des Bürgermeisters Spencer samt markanter Leuchtschrift und Rohrpost. Traten die Figuren an einem dieser Orte links oder rechts aus dem Bild, gelangten sie direkt zu ihren Nachbarn und konnten so einmal das ganze Dorf ablaufen.
Dabei war Spencer Dreh- und Angelpunkt der Ereignisse. Zunächst begrüßte er die Zuschauenden mit seinem berühmten Satz: „Hallo, liebe Leute, von A bis Z, von 1 bis 100, von Nord bis Süd, von Ost bis West, hier bin ich wieder, euer guter alter Spencer!“ Von seinem Studio aus konnte er danach mithilfe seines Visophon die anderen Dorfbewohner beobachten oder kontaktieren und auf diese Weise das Geschehen dirigieren. Geschah an einem der Schauplätze etwas Wichtiges, führte er mit seinem legendären Fingerschnippen einen Szenenwechsel dorthin herbei. Schnipp.
In diesem Rahmen durchlebten die Figuren verschiedene Jahreszeiten und Wetterlagen, Krankheiten und Feste. Sie litten an Schlaflosigkeit, gingen auf eine Schnitzeljagd oder wollten eine Zeitung herausgeben. Mal besetzte Poldi den Eisenbahnwagen, mal war Kasimir in eine der beiden Zwillingsschwestern verliebt. Mal bekam das Dorf eine neue Buslinie und mal verschwand Spencers markante Schiebermütze. Regelmäßig reinszenierten sie außerdem berühmte Märchen oder Sagen.
Bis 1993 entstanden jährlich bis zu 20 Abenteuer, manchmal weniger, die zum Kern der Serie gehörten. Dafür waren die aufwendigen und massigen Kulissen in einem Studio in Hamburg tatsächlich ringförmig aufgebaut. Allerdings stand die Produktion ständig in Konkurrenz zur „Sesamstraße“, die ebenfalls vom Norddeutschen Rundfunk in Lizenz des amerikanischen Children’s Television Workshops (CTW) produziert wurde. Da jedoch Poldi, Lexi und Elvis nie derart populär waren wie Kermit, Ernie, Samson oder Elmo, entschied sich der NDR im Zuge von Sparbemühungen Anfang der 90er-Jahre, sich fortan auf den US-Import zu konzentrieren. In der Folge mussten die letzten 40 Ausgaben mit verändertem Konzept und sichtbar billigeren Kulissen entstehen, die selbst bei eingefleischten Fans auf wenig Gegenliebe stießen. Bis ab dem Jahr 2001 gar keine Aufträge mehr kamen. Doch hier endet diese Telegeschichte nicht.
Weiter geht’s im Heide Park, schnipp.
Pünktlich zum 25. Jahrestag der Premiere kündigte der Heide Park in Soltau an, eine eigene Show rund um die Dorfgemeinschaft zu eröffnen. Möglich war dies, weil sich Debertin im Zuge der Trennung vom NDR nahezu alle Nutzungs-, Vermarktungs- und Merchandisingrechte an seinen Figuren sichern konnte. Erste Ideen gab es bereits im Jahr 1997. Dennoch bedurfte es vieler Gespräche und eines Eigentümerwechsels des Parks, bis das Projekt im Jahr 2004 schließlich realisiert werden konnte.
So konnte man sich in den Parks von Disney, Universal oder Six Flags bereits in Achterbahnen oder Shows zu „Star Wars“, „Der weiße Hai“, „Indiana Jones“, „Zurück in die Zukunft“, „Batman“, „Terminator 2“, „Jurassic Park“, „E.T.“, „King Kong“, „Shrek“ sowie zu fast allen Disney-Filmen amüsieren. Selbst die reinen TV-Formate „Mord ist ihr Hobby“, „The Twilight Zone“, „Ellen“, „Hör‘ mal, wer da hämmert“ oder „Wer wird Millionär?“ lockten dort schon mit eigenen Attraktionen.
Mit einer Stuntshow zu „Police Academy“, mit den Achterbahnen zu „Wild Wild West“ und „Lethal Weapon“ sowie einer bizarren Themenfahrt, in der Alf auf die „Gremlins“ traf, gab es zwar auch in Deutschland schon einige Rides, die auf Film- und Fernsehfiguren basierten, diese befanden sich allerdings in der „Warner Bros. Movie World“ und wurden vom amerikanischen Lizenzgeber mitgebracht. Entsprechend bezogen sie sich ausschließlich auf amerikanische Produktionen. Die Eigenentwicklung einer Attraktion, die auf einem deutschen Format basiert, war die absolute Ausnahme. Bis dahin waren in heimischen Parks, wenn überhaupt, höchstens Kulissen und Requisiten aus Filmen zu sehen. Ein immersives Erlebnis boten sie in der Regel nicht. Und das ist bis auf einige Ausnahmen bis heute so geblieben. Daher stellte die mäßig bekannte Show im Heide Park um ein Dutzend in die Jahre gekommene Handpuppen einen bemerkenswerten Meilenstein in der deutschen Fernsehhistorie dar.
Auf Knopfdruck
Schnell war klar, dass das Vorhaben nur funktionieren würde, wenn die Figuren in ihrem gewohnten Design, in ihren vertrauten Umgebungen und mit ihren markanten Stimmen agieren. Weil aber jede Puppe zwei oder drei Spieler:innen brauchte, um zum Leben erweckt zu werden, fiel ein Live-Puppenspiel aus. Ein derartiger Ablauf war mehrmals am Tag nicht umsetz- und finanzierbar. Stattdessen sollte eine voll automatisierte Darbietung entstehen, die dann beliebig oft ablaufen konnte.
Dafür entwickelte Winfried Debertin mit seiner Firma Penta TV eine neue Story, die alle Figuren einband und einen realisierbaren Aufbau hatte. Erzählt wurde sie von 19 eigens entwickelten Audio-Animatronics in Gestalt der Handpuppen, die über ein Druckluftsystem automatisch bewegt werden konnten. Ihre Stimmen erhielten sie von den originalen Puppenspieler:innen wie Achim Hall (Spencer), Matthias Hirth (Elvis und Lexi), Horst Lateika (Nepomuk), Martin Leßmann (Kasimir), Friedrich Wollweber (Poldi) oder Karime Vakilzadeh (Mona, Lisa, und Karl-Heinz), die ihre Zeilen extra einsprachen.
Da Debertin im Besitz der echten Kulissen des Runddorfs war, konnten diese in der Park-Show eingesetzt werden. Es handelte sich somit nicht um Nachbauten, sondern um die tatsächlichen Bühnenbilder, die einst für die Aufzeichnungen genutzt wurden. In einer neu errichteten Halle wurden sie auf acht Bühnen in ihrer ursprünglichen Anordnung im Kreis aufgebaut. Nach all den spärlichen Kulissen in der jüngsten Vergangenheit konnten die Figuren so endlich wieder in ihre einstige Heimat zurückkehren. Im Zentrum installierte man für die Zuschauenden eine Tribüne mit 250 Plätzen, die drehbar war und sich auf diese Weise zu jedem Schauplatz ausrichten konnte.
Der Plot folgte den Quietschbeus, die für ihre neue Melodie auf der Suche nach einem passenden Text waren und hierfür alle Bewohner und Bewohnerinnen des Dorfes mit ihrem Motorrad abfuhren. Die Tribüne mit dem Publikum drehte sich mit ihnen, wie sie von Setting zu Setting fuhren, bevor sie am Ende das fertige Lied vortrugen. Spencer sorgte hierbei vor allem für die Begrüßung und Ankündigung des finalen Songs. Zwischendurch war er aus dem Off zu hören.
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Um die Immersion zu erhöhen, waren an einigen Schauplätzen zusätzliche Effekte installiert. So übertrug etwa ein Gebläse das Pusten von Nepomuk auf das Publikum. Als am Hausboot die Zwillingsschwester Lisa ins Wasser fiel, sorgte eine Sprinkleranlage dafür, dass die Zuschauenden den Platscher fühlen konnten. Zudem unterstützten Dufteffekte einige Szenen.
All diese Elemente waren aufeinander abgestimmt und liefen selbstständig ab, sobald die Vorführung einmal gestartet war. Nach deren Ende setzten sich alle Komponenten wieder auf ihre Ausgangsposition zurück, wodurch der 15-minütige Durchlauf bis zu drei Mal pro Stunde mühelos und unverändert wiederholt werden konnte.
Im Wartebereich versüßte der Song „Ich sitz da und schreib ein Lied” die Anstehzeit. Er war so gestaltet, dass er an mehreren Stellen vorzeitig abgebrochen werden konnte, falls der Andrang geringer ausfiel und die Wartezeit verkürzt werden konnte. Ein Shop voll mit Spencer-Merchandise am Ausgang der Attraktion komplettierte das Erlebnis. Gänzlich zufrieden war Mitentwickler Winfried Debertin mit dem Ergebnis trotzdem nicht, wie er im Jahr 2023 im Interview mit Podcaster Julian Schlichting gestand: „Meine Idee war immer, Du hast das Gefühl innerhalb des Runddorfs zu sein und Du sitzt unter Bäumen. Das wäre doch ein ganz anderes Feeling gewesen, als diese technische schiefe Ebene.“
Achtung, Aufnahme läuft… äh, doch nicht.
Rund 2,5 Millionen Euro ließ sich der Heide Park die Entwicklung und den Aufbau der Attraktion kosten. Ein Teil der Beträge floss in den Einbau einer funktionierenden Aufnahmetechnik. Von Anfang an war angedacht, die Halle ebenso als Produktionsstudio zu nutzen. Im Winter, wenn der Park geschlossen ist, sollten in den Kulissen neue Folgen aufgezeichnet werden. So zumindest der Plan. Deswegen waren alle Sets in einer Höhe von 1,50 Meter montiert, sodass darunter theoretisch genügend Platz für die Puppenspieler:innen blieb. Hierzu kam es aber nie. Weil es an entsprechenden Aufträgen eines Senders fehlte und weil die Kulissen für den Publikumsverkehr fest verschraubt und feuerfest aufgebaut werden mussten. Die Spieler:innen konnten sich darunter gar nicht so frei bewegen, wie es eigentlich nötig gewesen wäre.
Trotzdem entwickelte sich die Attraktion nach ihrer Eröffnung am 02. Juni 2004 zu einem großen Erfolg und zu einem wichtigen Ort für die Fans der Reihe. Dank der Mitwirkung von Debertin und der Verwendung der Originalkulissen betrachteten sie sie als legitime Fortsetzung und organisierten dort zahlreiche Treffen und Veranstaltungen. Zwischen 2004 und 2016 war der Heide Park der Treffpunkt für Spencer-Fans aus der ganzen Welt.
Während ihrer zwölfjährigen Laufzeit erfuhr die Vorstellung einige Anpassungen, blieb aber im Kern unverändert. Als durch die fehlenden TV-Ausstrahlungen das generelle Interesse an den Figuren abnahm. erfuhr die Anzahl der Aufführungen am Tag eine sukzessive Reduktion. Da die Konstruktionen in dieser Zeit auch keine technische Überholung erhielten, die allgemeine Entwicklung der Animatronics jedoch voranschritt, traten die starren Inszenierungen und die limitierten Bewegungsmöglichkeiten der Puppen zunehmend hervor. Mit ähnlichen Anlagen in anderen Parks konnten sie irgendwann nicht mehr mithalten.
Als der Nutzungsvertrag für die Figuren im Jahr 2016 auslief, entschied sich die Geschäftsführung des Heide Parks, diesen nicht zu verlängern. Am 10. Juli 2016 fand schließlich die letzte Show im Spencer-Studio statt. Sie wurde ab der folgenden Saison durch das interaktive Indoor-Fahrgeschäft „Ghostbusters 5D“ ersetzt und damit durch eine weitere Attraktion, die auf einem nicht aus Deutschland stammenden Film basierte.
Zwischen Baggerloch und Müllverbrennung
Nach dem Abbau gingen die Kulissen wieder in den Besitz von Winfried Debertin über, der sie zusammen mit den hydraulischen Puppen unweit seines Wohnortes in der ehemaligen Diskothek MicMac in Moisburg einlagerte. Stets in der Hoffnung, mit ihnen irgendwann eine Neuauflage der TV-Reihe oder gar einen Kinofilm umsetzen zu können.
Doch einen ruhigen Aufenthalt war ihnen dort nicht vergönnt. Regelmäßig vergriffen sich Diebe und Vandalen an den Requisiten, beschädigten oder stahlen diese. Allein zwischen den Jahren 2021 und 2022 beklagte Debertin acht Einbrüche. Einige der Figuren tauchten im Februar 2023 ramponiert am Baggersee auf dem angrenzenden Gelände des Todtglüsinger Sportvereins (TSV) auf. Ohne zu wissen, um welche Puppen es sich handelte, setzte der Verein eine Belohnung für Hinweise auf deren Herkunft aus. Und zwar in Form von selbst gemachtem Apfelsaft.
Einige andere Figuren endeten offenbar in der örtlichen Müllverbrennungsanlage, wie der damalige Platzwart gegenüber der örtlichen Kreiszeitung gestand: „Wir können nicht alles aufheben und recherchieren, wem was gehört“. Man hätte angenommen, dass die Puppen aus irgendeinem Partykeller stammten und sie dann zur Entsorgung gegeben.
Kinoreifes Happy End
Glücklicherweise befanden sich in der alten Disco lediglich die mechanischen Roboter-Kopien aus dem Heide Park. Die Figuren aus der Fernsehserie blieben unversehrt im Besitz von Winfried Debertin. Gut so, denn diese sollte er bald wieder brauchen.
Als das „ZDF Magazin Royale“ am 06. November 2020 nämlich erstmals im Hauptprogramm erschien, startete es mit einem kurzen Beitrag über den vermeintlichen Absturz Spencers. Dieser, so die satirische Erzählung, hätte sich in Anlehnung an Michael Wendler zum Corona-Leugner und Querdenker entwickelt.
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Debertin sah die Diffamierung seiner geliebten Kreation und konterte direkt auf seinem YouTube-Kanal. Darüber geriet er in Kontakt mit Jan Böhmermann und dessen Redaktion, woraus letztlich ein Film mit und über Spencer entstand, der in Kürze im ZDF läuft. So war der Gemeinschaft des Spencerdorfes nach ihrer Fernsehkarriere und ihrem Ausflug in den Heide Park doch noch ein drittes Leben vergönnt. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte.