Anno 1970 kniete ich mit einem Mikrofon vor einem UKW-Radio mit magischem Auge und hatte das Glück, Paranoid von Black Sabbath aufzunehmen. Ich hörte den Song hunderte Male auf dem Tonbandgerät an und nahm in Kauf, dass meine Mutter vor dem Gitarrensolo ruft: Kannst-du-den-Lärm-mal-leiser-machen? Mit der Zeit wurde diese Stelle übrigens Kult unter uns Freunden in der Nachbarschaft, man traf sich ja noch zum Musikhören.
Kaum etwas ist mit der Digitalisierung und Computerisierung so eng verbunden wie die Popmusik. Alles veränderte sich radikal in den vergangenen 50 Jahren, das Hören, Produzieren, Senden und Verkaufen von Musik. Waren die ersten Beatles-Songs noch quasi live im Studio eingespielt, entwickelte sich in den 70er Jahren die Mehrspurtechnik, 8, 16, 24, 48 separat bespielbare Spuren. Die Erfindung des Synthesizers machte Kraftwerk und die gesamte heutige elektronische Musik überhaupt erst möglich. Der Moog-Synthesizer in Lucky Man von Emerson, Lake & Palmer war für die Popmusik ungefähr so wegweisend wie die bemannte Mondlandung für die Raumfahrt.
Verbreitet wurde die elektronische Musik der 70er und 80er Jahre allerdings weiterhin vollkommen analog über Schallplatten und Radio. So blieb Musik teuer, für eine LP musste ein Schüler etwa vier Stunden Zeitungen austragen. „Progressive“ Musik war – abgesehen von Spezialsendungen im Abendprogramm der Radios - ohnehin nur als Platte erhältlich: Genesis oder Yes etwa, später auch Radiohead, produzierten epische Songs, die gar nicht fürs Radio gedacht waren. Der Punk der Sex Pistols oder The Clash fand auch kaum im Radio statt: zu laut, zu grell, zu böse. Kein großes Problem für die Künstler, das Geld wurde ja vor allem mit Schallplatten verdient.
In den 80er und 90ern die nächste Stufe der Digitalisierung: die Erfindung des Personal-Computers sorgte für eine „Demokratisierung“ des Musikmachens. Künstler waren plötzlich nicht mehr darauf angewiesen, dass Plattenfirmen teure Studio bezahlten, sondern konnten ihre Musik selber produzieren. Was zu viel mehr Veröffentlichungen führte. Die Verbreitung erfolgte allerdings – trotz CD - weiterhin analog. Fürs Radio war immer noch alles bestens, die Popsender blieben Hitmaker, auch wenn mit MTV und VIVA die große Zeit des Musikfernsehens begann.
Nach der Jahrtausendwende der vorerst letzte Schritt der Digitalisierung der Popmusik: das Internet. Napster und andere illegale Downloadplattformen traten auf, die CD begann, dahinzusiechen, die Musikindustrie verschlief die digitale Verbreitung von Pop, die dann Spotify, Apple und andere übernahmen. Gleichzeitig rüstete das Publikum digital auf, mit Laptops, Tablets und vor allem dem Smartphone. Ein Song, der 1970 – als Single gepresst – noch fünf Mark teuer war, ist heute quasi umsonst. Und das Radio hat nicht mehr die größte denkbare Plattensammlung, die haben jetzt die Streamer.
Hits werden auch nicht mehr von Radio oder Fernsehen gemacht, wie es noch in den goldenen Zeiten von „Wetten dass..?“ möglich war. Und von Ausnahmen abgesehen gibt es heute auch kaum noch erfolgreiche Bands, jedenfalls nichts, was sich mit den Stones, Genesis, U2 oder den Toten Hosen vergleichen ließe. Es gibt im kommerziellen Pop einige wenige Megastars wie Ed Sheeran, Billie Eilish oder The Weeknd, und dahinter unzählige mehr oder weniger gesichtslose Acts, hinter denen Produktionsfirmen stehen, die ähnlich arbeitsteilig wie beim Film aufgestellt sind: Teams aus SängerInnen, Komponisten, Textern, Arrangeuren, Studiomusikern, Produzenten. Produziert wird im Homestudio, die Files werden international verschickt, die Produzenten bleiben im Hintergrund. Wie sehen eigentlich Alle Farben oder Purple Disco Machine aus?
Die Geduld des Publikums ist geschrumpft
Die Teams produzieren vor allem Single-Tracks, keiner weiß genau, wie viele Songs jede Woche bei Spotify hochgeladen werden, die Schätzungen gehen ins Fünfstellige. Mit immer neuen Tracks hält man sich im Gespräch und füttert den Algorithmus. Nicht alle zwei Jahre ein neues Album, sondern alle vier Wochen ein neuer Track. Lagen Musikredaktionen von Radiosendern früher bei der wöchentlichen „Abhörsitzung“ 10 bis 20 relevante Songs vor, so sind es heute 70 bis 80.
Die schiere Masse an Musik, die übers Netz in den Markt gedrückt wird, hat für das Radio noch verschiedene andere Effekte. Besonders unangenehm: die Geduld der HörerInnen ist auf ein Mindestmaß geschrumpft. Wem bei Spotify oder YouTube ein Lied nicht nach 20, 30 Sekunden gefällt, springt zum nächsten. Das geht beim Radio nicht. Deshalb kommt bei vielen neuen Songs das Highlight des Liedes – der Refrain oder wenigstens eine Andeutung davon – gleich zu Beginn, so sollen die HörerInnen zum „Dranbleiben“ animiert werden. Bei dem 80er-Jahre-Hit „Sledgehammer“ (Peter Gabriel) kam der Refrain erst nach einer Minute und 40 Sekunden, da nähert sich die aktuelle Popware schon dem Ende zu.
Masse, Schnelllebigkeit und permanente Verfügbarkeit der Hits im Netz sind für das Radio ein Dilemma: RadiohörerInnen bevorzugen Lieder, die sie kennen. Bei den Befragungen, die Radiosender unter ihrem Publikum durchführen, bekommen die besonders bekannten Lieder besonders positive Werte. Ein Song wird jedoch nur bekannt, wenn er sich über Wochen und Monate zu einem Hit entwickeln kann. Spotify drückt aber – etwa mit dem New Music Friday, einer der kommerziell wichtigsten Playlisten – in dieser Woche zum Beispiel 89 neue potentielle Hits in die Welt. Würden die Radiosender genauso schnell ihr Musikprogramm wechseln, verlören sie unweigerlich HörerInnen, weil sie zu viele unbekannte und noch nicht beliebte Titel spielten. Gleichzeitig haftet den Radios beim jungen Publikum der Ruf an, zu viele „alte“ Sachen zu spielen.
Was bleibt dem Radio? Vielleicht die menschliche Ebene. Die Geschichten zu den Songs, zu den Musikern. Die Plattformen haben den Charme von Großhandelsketten, das Radio kann hingegen Wärme vermitteln, Emotion erzeugen, es kann der Musik Gesichter und Geschichten geben. Es kann Interviews führen, Konzerte veranstalten, Musik empfehlen, Ideen verbreiten. Die großen aktuellen Megastars bedienen diese Ansprüche: Ed Sheeran weiß, dass er das Wembley-Stadion nur dreimal hintereinander ausverkauft, weil er jenseits der Plattformen in Radio und Fernsehen auftritt und so ein Künstler mit einer interessanten Geschichte wurde, den die Fans nicht nur hören, sondern auch sehen wollen, nach der alten Showweisheit It´s not the song - it´s the singer.
Das gilt aber nur für wenige, ganz große internationale Acts und vielleicht auch noch für die deutschsprachige Popmusik. Ansonsten ist Musik im Streamingzeitalter ein noch brutaleres Geschäft geworden. Wer nicht zu den Megastars gehört, muss Konzerte spielen und T-Shirts verkaufen. Selbst der ehemalige Oasis-Sänger Liam Gallagher beklagt die Folgen des Streamings: in dem Video „Liam makes tea“ flucht er beim Teekochen, dass die Zeiten für Rockstars vor dem Streaming deutlich besser waren. Jedenfalls so gut, dass ein Rockstar nicht selber Tee kochen musste.