Eine Zeitlang bin ich sehr häufig Taxi gefahren und habe mich gerne mit den FahrerInnen unterhalten, am Ende waren es 200, es entstand daraus ein Radio- und Buchprojekt. Es ging dabei nicht ums Radio, sondern um das Leben im Großen und Ganzen. Aber mir fiel auf, dass in vielen Taxis das Radio eingeschaltet war, TaxifahrerInnen gehören – wie etwa Pförtner, Kiosk-Betreiber oder Strafgefangene – zu einer ganz besonderen Spezies: sie sind DauerhörerInnen und damit eine besonders schützenswerte Minderheit des Radiopublikums. Und zugleich – vor allem mit Blick auf den Podcast – eine zunehmend interessanter werdende Zielgruppe.
Die meisten Menschen hören Radio in kurzen Episoden, irgendwie über den Tag verteilt, auf Radioweckern, Küchen- oder Autoradio, auch über Apps und DAB. In der Summe kommen so im Durchschnitt rund zwei Stunden zusammen. Dagegen hören Dauerhörende eben ausdauernd, in Taxis läuft das Radio oft Tag und Nacht, es werden auch Hörbücher, Playlisten und Podcasts gehört, oft gestreamt über Smartphones. Rührend, im angeblich ältesten Taxi Münchens ein Kassettenabspielgerät vorzufinden (der Fahrer spielte uns „Live at Leeds“ von The Who). Im Schlagertaxi einer rheinischen Frohnatur in Köln werden die Fahrgäste zusätzlich zum Audio mit Videoprojektionen auf dem Wagenhimmel unterhalten.
Fragt man TaxifahrerInnen, was am Radio gefällt, löst das Emotionen aus. Man könnte auch sagen, es wird geschimpft. Immer dieselbe Musik, zu viel Gequatsche, andauernd Werbung, immer dasselbe Wetter, immer dieselben Nachrichten und noch einiges, was auch immer Dasselbe sei. Die harsche Kritik bezieht sich auf die Popwellen. Woher sollen TaxifahrInnen auch wissen, dass die Popsender nicht sie, die stunden- und tagelang Hörenden im Blick haben, sondern die eiligen gestressten Pendler, die Berufstätigen, die Familien mit Kindern, die hier und da eine halbe Stunde oder auch nur ein paar Minuten hören, beim Frühstück, im Auto, im Bad, in der Bahn, irgendwie zwischendurch. Und die in all diesen Zeitfetzen eben die beliebtesten Hits, die wichtigsten Nachrichten, die witzigste Comedy und „das“ Thema das Tages hören wollen (und sollen).
Was Kurzzeithörende erfreut, sie schnell informiert und gut unterhält, kommt bei Dauerhörenden also weniger gut an und sie fühlen sich wie Bill Murray in „Und ewig grüßt das Murmeltier“. Dauerhörende durchschauen ja irgendwann die Programmierung der Sender, die hot rotierenden Musiktitel, merken, dass sich die Nachrichten oft über Stunden nicht verändern und auch die Wettervorhersage für den nächsten Tag immer gleich bleibt.
Psychoterror ist das, sagte ein Taxifahrer in Dortmund, die Beschallung mit immer gleicher Musik gehöre eigentlich zum Schreckensinstrumentarium barbarischer Folterknechte.
Popwellen sind natürlich weit davon entfernt, ihr Publikum misshandeln zu wollen. Im Gegenteil. Sie passen sich nur den Hörgewohnheiten an, wollen in der kurzen Zeitspanne, die das Publikum ihnen Aufmerksamkeit gewährt, möglichst gut unterhalten und informieren. Und da bleibt die Wiederholung nicht aus, es gibt eben nicht hundert aktuelle Superhits, sondern nur zehn oder zwanzig, es gibt auch nicht stündlich eine neue Nachrichtenlage oder ein anderes „Thema des Tages“, nicht mal die Blitzer der Polizei wechseln so oft ihren Standort, die größte Abwechslung bei den sogenannten Standards bieten da noch die Staumeldungen. Zwischen die Standards setzen die Redaktionen über den Tag wechselnde Themen, Anrufaktionen oder Beiträge, aber die Hits, die News, das Wetter wiederholen sich eben stündlich, bei vielen Sendern auch halbstündlich.
Aber was hören nun die Taxifahrer, wenn sie stundenlang am Halteplatz auf Fahrgäste warten? Der Blick aufs Radio-Display lohnt sich, denn es werden oft anspruchsvolle Wort- und Musikformate angezeigt, Infosender, Kulturprogramme, Hörspiele, exotische Musiksender, also das, was in der Radiobranche als Sparte, Nische oder Einschaltprogramm gilt. Fragt man nach, werden besondere Radiomomente aufgezählt, die Taxifahrerin aus Hamburg schwärmt von einem Reporter, der einen Sprung vom Zehn-Meter-Turm so plastisch beschrieb, dass sie es gleich nach der Schicht selber riskierte. Ein taxifahrender Frankfurter Studienabbrecher wird privat Professor genannt, weil er gerne über die im Radio gehörten politischen Diskurse referiert. Ein Iraner in Berlin hörte sich durch die deutsche Nachkriegsliteratur und empfiehlt das Gesamtwerk Martin Walsers, ein Fahrer aus Bremen war mit den Reisereportagen aus dem Radio schon auf der ganzen Welt unterwegs, zumindest in seiner Fantasie. Und ein Duisburger empfiehlt im Taxi mit Hörbeispiel die Doku über den NSU-Prozess – 24 Folgen á 30 Minuten.
All diese Menschen sind Zielpublikum für das prosperierende Audiogeschäft. Für die sogenannten „gehobenen“ Radioprogramme tut sich im Digitalen eine riesige Chance auf, sind die Redaktionen doch plötzlich nicht mehr darauf angewiesen, ihr Publikum für das soundgewaltige Hörspiel, die aufwändige Doku, das liebevoll komponierte Musikfeature zu einer ganz bestimmten (Sende)-Zeit vor den Rundfunkempfangsgeräten zu versammeln. Sie erreichen ihr Publikum nun „zeitunabhängig“ über Audiotheken, Streamingdienste oder die Sender-App.
Eine Chance nicht nur fürs Radio, sondern für alle Audio-Produzenten. Entsprechend groß ist jetzt schon – und der Audio-Markt ist noch gar nicht richtig ausdifferenziert - das Angebot an Fiktion, Talk, Doku, Comedy, Wissenschaft, Service, Politik, Sport. Allerdings können – ähnlich wie beim Fernsehen - nicht einfach fürs Radio produzierte Inhalte in die digitale Welt übertragen werden, für das zeitautonome Hören müssen Themen, Storytelling, Dramaturgie, Stimmen, Sounds neu gedacht werden. Und natürlich muss man sich auch sehr sehr viele Gedanken machen, wie das tolle Audioprojekt in der Unendlichkeit des Internets sein Publikum findet.
Denn es wird sich nicht „rechnen“, nur die TaxifahrerInnen und andere berufsbedingte Dauerhörende anzusprechen, das digitale Audio braucht neues, zusätzliches Publikum. Und das kommt eher nicht vom Live-Radio, sondern von anderen, ebenfalls zeitautonom konsumierbaren Medien: TV, Film, Buch, Video, Social Media.
Audio hat dabei übrigens einige unschlagbare Vorteile: ein Hörbuch, eine Radio-Doku, ein Hörspiel oder Podcast lassen sich im Vergleich zu TV-Serien oder Spielfilmen für einen Bruchteil der Kosten herstellen. Und dann noch die Nutzung: die HörerInnen müssen nicht vor einem Bildschirm verharren, sie hören parallel zum Kochen, bei der Gartenarbeit, im Auto, beim Spaziergang oder Joggen.
Oder im Taxi. Vielleicht ein neues Geschäftsmodell für die Branche. Audiophile Stadtrundfahrten. Ein Wiener Taxilenker steigert sein Trinkgeld, wenn er Liebespaaren romantische Musik spielt. In Hamburg unterhielt mich ein Fahrer mit dem Demo-Tape seiner Band, der Nachtfahrer aus Düsseldorf beschallt komatös weggedöste Fahrgäste am Zielort mit Death-Metal. Bisher habe sein spezielles Audioangebot noch jeden Fahrgast aufgeweckt.
Jochen Rausch - „Im Taxi – eine Deutschlandreise“ – WDR 5, NDR Kultur, Piper Verlag.