Als Stefan Raab als Radiomoderator unter dem Namen Professor Hase bei der Lufthansa anrief und einen Flug von Düsseldorf nach Köln buchen wollte, blieb die Dame am anderen Ende der Leitung cool. Es sei schwierig für ein Verkehrsflugzeug, zwischen Düsseldorf und Köln eine akzeptable Flughöhe zu erreichen, aber sie könne einen Gabelflug anbieten: Düsseldorf-Frankfurt, Frankfurt-Köln.
Ich weiß nicht, ob die Frau von der Lufthansa den Fake erkannte, aber sie spielte das Spiel mit. Über Jahrzehnte war das Spaßtelefon im deutschen Radio ein beliebtes Mittel, arglose Zeitgenossen in komische Gespräche zu verwickeln, eine Art „Vorsicht Kamera!“ für die Ohren. Inzwischen ist der Telefonstreich etwas aus der Mode geraten, auch weil im Netz keine Instagram- oder Tiktok-Sekunde ohne Spaßvideo-Fake vergeht: Babys, die (angeblich) über Abgründe balancieren; Pärchen, die sich Spinnen unter die Bettdecken werfen; Menschen, die durch bloßes Augenzwinkern ihre Outfits wechseln. Hinzu kommen noch die trumpartigen politischen Fakes, da geht’s um Desinformation, Agitation, Denunziation.
Das Radio wird den Abgang des Telefonstreichs verkraften, denn in der schönen neuen Welt des Digitalen zeichnet sich für Audiomedien ein sehr wertvolles Alleinstellungsmerkmal ab: Menschen trauen der puren menschlichen Stimme offenbar mehr als dem gedruckten Wort oder dem inszenierten Video. So landet Radio/Audio bei Meinungsumfragen regelmäßig vor Fernsehen und Print. Social Media als Fake-Plattform schlechthin liegt sowieso abgeschlagen auf den hinteren Rängen. Das Radio genießt sogar mehr Vertrauen als der Papst.
Radio und Audio haben es in der Hand, auch in der digitalen Welt das glaubwürdigste Medium zu sein.
Hinter dem Vertrauen des Publikums steckt der Glaube an die Fälschungssicherheit der menschlichen Stimme, des Ausdrucks und der Sprache. Denn tatsächlich können wir Menschen – wenn wir nur wollen - richtig gut zuhören. Aus der Stimme, der Betonung und der Ausdrucksweise bewertet unser Gehirn die Glaubwürdigkeit des Gesagten, wir können Unsicherheiten, Ausflüchte oder Übertreibungen heraushören, unterscheiden ein aufgesetztes Lachen von wirklicher Freude, falsche von echter Trauer, ironisch gemeinte von ironiefreier Prahlerei. Und weil das so ist, arbeiten etwa Hörspielregisseure hart daran, dass der coole Jugendliche aus dem Skript auch wie ein cooler Jugendlicher klingt. Und nicht wie ein Schauspieler, der wie ein cooler Jugendlicher klingen will.
Film und Video können das Publikum leichter austricksen als das Radio: Mimik, Ausstattung, Kleidung lenken uns vom Gesprochenen ab, der Uncoole wird dann doch noch cool. Und spricht ein Funktionär oder Politiker mit gewinnendem Lächeln und möglichst eloquent in eine Kamera, kann das so stark vom Inhalt ablenken, dass selbst schlichteste Floskeln zu überzeugende Argumenten mutieren. Noch schwieriger ist es für den Lesenden, beim Geschriebenen den wahren Wahrheitsgehalt zu erkennen - relotiushafte Texte rutschen ja sogar professionellen Redaktionen durch.
Das funktioniert im Rundfunk nicht so gut. Dem Radio-Publikum bleibt ja nichts anderes, als den Worten und den Stimmen zuzuhören. Und wenn da in unserer Wahrnehmung Dissonanzen sind, nehmen wir eine Null-Aussage auch genau so wahr: eben als Null-Aussage. Ob künstliche Intelligenz, die auch die menschliche Sprache simulieren kann (Text to speech), je an das Original herankommen wird, ist eine spannende Frage, auf jeden Fall wird daran intensiv geforscht und gearbeitet.
Niemand wird ernsthaft behaupten, im Radio oder in Podcasts würde immer nur die Wahrheit gesagt. Aber die Reduktion auf Stimme, Sprache und Inhalt macht es schwieriger, dem Publikum etwas vorzugaukeln. Daraus lässt sich für Audiomedien eine Menge machen und viele Radioschaffende haben das erkannt: Anders als in den 90ern, als glattgebügelte, immer fröhliche Moderationen beliebt waren, Stimmen mittels Equalizern einander angepasst wurden und Trainer die totale „Wir-sind-immer-wahnsinnig- gut-drauf-Perfektion“ coachten, sind heute „richtige Typen“ an den Mikrofonen gefragter, das passt auch besser zum Glaubwürdigkeitsvorsprung des Radios.
Eine Radiopersönlichkeit muss auch im wirklichen Leben eine Persönlichkeit sein
Charakterköpfe haben im Radio höchste Beliebtheitswerte und Quoten, Authentizität ist angesagt. Diese großen Stimmen gibt es überall in den deutschen Radios, kreative, spontane, schlagfertige ModeratorInnen, die selbst aus einer Uhrzeit oder einer Musikmoderation einen „Hinhörer“ zaubern, die mit Worten Bildern kreieren, die das Publikum in ihren Bann ziehen. Auch im Journalistischen stehen Radioleute anderen Medienschaffenden in nichts nach, auch wenn sie (leider) im öffentlichen Diskurs nicht angemessen wahrgenommen werden. Dass selbst erstklassige RadiojournalistInnen nicht die Popularität der KollegInnen aus dem Fernsehen erreichen, liegt einzig und allein an der regionalen Verbreitung von Radio.
Im Podcast hilft teflonartiges Moderieren erst recht nicht weiter, es haben sich – und zwar bundesweit – bewusst individuell auftretende Audiostars entwickelt: Micky Beisenherz, Linda Zervakis, Laura Wohlers und Paulina Krasa („Mordlust“), Felix Lobrecht und Tommi Schmidt, Sophie Passmann, Gabor Steingart oder Sabine Rückert, um nur einige zu nennen. Sie alle sind hörbar authentisch und deutlich voneinander unterscheidbar. Insbesondere die jungen PodcasterInnen lassen sich beim Denken zuhören, suchen eben auch mal nach Worten oder überlegen laut, ob man das gerade Gesagte nicht doch lieber noch rausschneiden sollte. Gelegentlich geht es mit der Ehrlichkeit auch so weit, dass die Reporterin im True-Crime-Podcast zugibt, zur Psyche des Täters nichts sagen zu können, da sie am Tag der Anhörung des Psychologen leider nicht im Gericht gewesen sei. Und mit dem Podcast „Der Raum“ hat 1Live das Thema Audio-Authentizität auf die Spitze getrieben: für eine halbe Stunde wird ein Promi in einen abgedunkelten Raum gesetzt und sich und dem Mikrofon überlassen - die meisten kommen dabei sich selbst (und damit auch dem Publikum) sehr nah.
Das alles wirkt wieder zurück aufs Radio, die Sender suchen für ihre Mikros die authentischen Persönlichkeiten, die sich trauen, den Ball (wir haben gerade EM!) auch mal aus dreißig Metern aufs Tor zu zimmern und nicht immer nur Quer- und Rückpässe zu spielen, alle wollen Ronaldos und de Bruynes fürs Radio (gerne natürlich auch Frauen). Das ist leichter gesagt als getan, denn eine Radiopersönlichkeit muss ja auch im wirklichen Leben eine Persönlichkeit sein. Ein Gottschalk, ein Jan Böhmermann, eine Anke Engelke (alle mit Radiovergangenheit) kommen ja nicht jeden Tag zum Casting und selbst wenn, werden sie nicht immer erkannt.
Tatsächlich hat das junge Radio ein Nachwuchsproblem: es mangelt nicht an Bewerbungen, aber junge Menschen, die über Personality, Schlagfertigkeit, Wachheit und das Selbstbewusstsein verfügen, anderen Geschichten erzählen zu wollen, treibt es eher als „YouTuber“ oder PodcasterInnen ins Netz, wo sie ihr eigenes Ding aufbauen können, auf eigene Rechnung spielen, sich an keine Senderphilosophien oder Redaktionsvorgaben halten müssen.
Dabei ist Radio aber gerade für junge authentische Personalitys eine großartige Plattform, sie erreichen auf einen Schlag ein großes Publikum und der Aufwand ist gering, trainieren kann man Radio erst einmal allein (und später dann mit guten TrainerInnen): Live ins Smartphone sprechen und anhören. Immer wieder reinsprechen und immer wieder anhören. Oder einen eigenen Podcast machen. Und so findet jede und jeder ziemlich schnell heraus, ob sie/er etwas zu sagen hat? Oder ob es vielleicht doch besser sein könnte, durch Styling, Klamotten, Licht, Kameraperspektiven oder schicke Locations von inhaltlicher Leere abzulenken.
Denn (siehe oben) RadiohörerInnen können falsche Wimpern, Schminke und sogar den Teleprompter hören.