Jochen Rausch © Rausch
Was Print und Fernsehen schon hinter sich haben, geschieht nun auch dem Radio: Die digitale Evolution erzwingt ein Umdenken, stellt Sender und Sendungen in Frage, bietet aber auch enorme Chancen für das Medium - fast vier von fünf Deutschen hören jeden Tag Radio. Podcast, Streaming, Apps, DAB, Audiotheken - die Radio- und Audiobranche gerät in Bewegung wie vielleicht zuletzt durch die Einführung des Fernsehens. In seiner DWDL.de-Kolumne "Schall und Rausch" befasst sich Jochen Rausch in den kommenden Wochen samstags mit der Zukunft von Wort, Moderation und Musik. Welche Rolle könnte Radio in der digitalen Welt spielen, welche Trends und Entwicklungen zeichnen sich ab, auf welche Stärken und Qualitäten können RadiomacherInnen zurückgreifen?

Der Journalist und Grimmepreisträger gehört dem Gründungsteam von 1Live an und leitet den Sender neben WDR2 und WDR4 bis heute. Als Musiker produzierte er mehrere Platten, unter anderem mit Udo Lindenberg, ist Hörspiel- und Hörbuchautor und Schriftsteller. Die ARD-Verfilmung seines Romans "Krieg" mit Ulrich Matthes in der Hauptrolle erhielt 2018 unter anderem den Deutschen Fernsehfilmpreis in Baden-Baden. 

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Und dann wurde eines morgens im Radio gesagt, Kennedy sei tot. Erschossen. Ich ging in die erste Klasse, wir saßen beim Frühstück und mein Vater, der von uns Kindern verlangte, weder zu schmatzen, noch zu schlürfen oder zu reden, wenigstens nicht während der Radio-Nachrichten, stand auf, schaute aus dem Fenster und sagte: "Jetzt gibt es Krieg". Meine Mutter weinte, die Eltern nahmen uns zwischen sich, einige Tränen tropften mir auf den Kopf.

An diesem Morgen im November 1963 fiel mir das Radio zum ersten Mal auf. Es stand sonst unbeachtet neben dem Toaster, ein Telefunken Bajazzo Sport, von der Größe einer Handtasche, mit Tragebügel, Stationstasten und ausziehbarer Antenne. Ich kann mich nur deshalb so genau erinnern, weil das Gerät noch ungefähr dreißig Jahre an dieser Stelle stehen sollte, während der Toaster mehrere Nachfolgetoaster bekam.

 

Es gab dann doch keinen Krieg, aber ich begann, Radio zu hören. Die kraftvollen dunklen Stimmen der Sprecher, die sich nie versprachen, die nicht mal wie normale Menschen sprachen, sondern irgendwie schlauer. Sie schienen sich auch mit allem besser auszukennen als normale Menschen und erklärten, warum etwas so war, wie es war oder wie etwas sein könnte, wenn nur dieses oder jenes geschähe. Es ging in den 60ern und 70ern um die großen Themen, die Russen, die Amerikaner, die Mauer, Willy Brandt und so weiter, aber von einer Radiosprecherin erfuhr ich auch, dass die Beatles gar nicht Beat-Läss ausgesprochen wurden und eine Jeans nicht Je-anns, wie meine Mutter behauptete.

Das Telefunken Bajazzo Sport lief den ganzen Tag, was Bertolt Brecht in den frühen 1920er Jahren vorhersah, als er das Radio als denkbar großartigsten Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens beschrieben hatte. Eine Vision, die sich im Guten wie im Schlechten als zutreffend herausstellen sollte. Brecht sah im Rundfunk das geniale Instrument der unmittelbaren Verbindung zwischen Sender und Empfänger, er erkannte die Macht des Radios, durch Stimmen und Worte – anders als Zeitungen es vermochten – die Herzen von Millionen von Hörern zu erreichen. 

Vielleicht ahnte Brecht, dass das Radio auch zu Propaganda und Kriegstreiberei benutzt werden könnte. Und so geschah es ja auch. Was aber nicht dem großartigsten Kommunikationsapparat mit seiner faszinierend simplen Nachbildung der Mensch-zu-Mensch-Kommunikation anzulasten war, sondern jenen, die das Radio für ihre Zwecke missbrauchten, die Hass säten, agitierten, falsch informierten. Also alles taten, was im Internet gerade eine bedrückende Wiederkehr erlebt. Die Siegermächte teilten das deutsche Nachkriegs-Radio nach Bundesländern auf, die Deutschen sollte nur ja nie wieder ein zentral steuerbares Agitationsinstrument betreiben dürfen. 

Das Radio wurde im prosperierenden Wirtschaftswunder-Land großartig im ursprünglichen Sinne: Musik, Kultur, Hörspiele, Politik, es gab Unterhaltungssendungen wie Hans Rosenthals "Allein gegen alle", bei der richtigen Antwort wurde majestätisch gegongt, bei der falschen gab es nervöses Vogelgezwitscher. Auch wenn dann die "Tagesschau" zur Pflichtsendung der Deutschen wurde, blieb das Radio das wichtigste Frühwarnsystem in Zeiten des Kalten Krieges, denn anders als das Fernsehen war damals nur das Radio in der Lage, live zu erklären, warum gerade die Luftschutzsirenen heulen und ob die im Keller gestapelten Notfall-Konserven zum Einsatz kommen müssen. 

Was hat nun die Vergangenheit des großartigsten Kommunikationsapparates mit der Zukunft von Radio und Audio in der digitalen Welt zu tun? Vielleicht, weil es klug sein könnte, die Zukunft des Radios mit einem Blick auf seine Herkunft zu gestalten. 

Der unselige Begriff des "Nebenbei-Mediums"

Das Radio von heute entstand in den 70ern und 80ern, als die Existenzängste der Deutschen abnahmen, sich der Kalte Krieg verflüchtigte und das Fernsehen zunehmend attraktiver, schneller und farbiger wurde, das Fernsehen gewann und das Radio verlor. Nicht an Publikum, damals wie heute hörten etwa vier von fünf Deutschen täglich Radio. Aber das Radio verlor an Bedeutung, auch an Ansehen. 

Radio hatte keine Stars wie das Fernsehen, es war „nur“ regional, unter Radiomachern entwickelte sich der unselige Begriff des „Nebenbei-Mediums“. Darin spiegelte sich keineswegs der Wunsch der Macher, aber die Realität. Radio wurde eben „nebenbei“ gehört, im Auto, beim Kochen, Aufräumen, Putzen, bei den Hausaufgaben. Das „Nebenbei“ zog enorme programmliche Konsequenzen nach sich, die unsere Radiokultur bis heute prägen. Diskussionen, Literatur, Features, Hörspiele, also alles, was wortintensiv war, wanderte weitgehend in die Nische der Kulturradios und Infoprogramme ab.

Die Massenradios hingegen programmierten sich zum perfekten Tagesbegleiter: immer da, aber nie auffällig, nur nicht stören wollen neben dem Toaster und Gefahr laufen, weggeschaltet zu werden. So kam die Musik, immer mehr Musik, gefällige Musik, Musik, die man kennt, also oft dieselbe Musik. Und das Wort wurde weniger, kürzer, immer kürzer, Sprüche wie „Du kannst alles sagen, nur nicht über einsdreißig“, geisterten durch die Radio-Branche, Interviews wurden schneller gepitcht, hart geschnitten und „wie live“ verkauft, bloß keine „schwierigen Themen“, Hit für Hit ein Hit. 

Und jetzt ist Digitalisierung. Ist Internet. Das sich auf arrogante Weise gar nicht mit dem Radio abgibt, dem sinnlichsten und ältesten elektronischen Medium. Der Feind des Telefunken Bajazzo Sport heißt Smartphone und sitzt bei den meisten ziemlich locker, wir gehen damit ins Netz, schauen alles, was da ist, hören Musikstreams und manchmal Worte, schauen Videos, schauen fern, chatten, lesen, alles auf einmal, jederzeit abrufbar, auf ewig verfügbar. 

Junge Frau mit Kopfhörern © IMAGO / Addictive Stock

Das Radio wirkt da wie der UKW-Empfänger im Smartphone, also überflüssig. Es konkurriert auch längst nicht mehr mit Internetsendern oder DAB-Radios, der größte Konkurrent des Radios ist – wie bei den anderen „klassischen Medien“ auch - das schier unendliche Angebot im Netz. Noch sind die Radionutzungszahlen gut, fast überraschend gut sogar, aber die Erosion hat begonnen, zuallererst bei den Jungen, die nach den Erhebungszahlen weniger oder gar nicht mehr hören. Auch, weil ein Radio, das nicht auffallen will, eben nicht weiter auffällt.

Die Smartphone-Sozialisierten sind wahnsinnig schnell mit den Daumen über dem Display, verstehen nicht, warum sie Radio hören sollten, wenn der Musikstream unablässig die eigenen Lieblingshits spielt. Und wenn Radio dann auch noch weniger interessant ist als Videos bei Youtube, Instagram-Reels oder Tiktok-Stories, dann wird es eng fürs Radio, denn plötzlich wird „nebenbei“ hören unmöglich, das schafft selbst die Multitasking-Generation nicht. 

Menschen hören sich wieder zu

Doch es gibt Hoffnung. Den berühmten Lichtstreif am Horizont. Die Hoffnung heißt Podcast. Im Podcast reden Menschen. Miteinander, übereinander, gegeneinander, pubertär, elitär, eloquent, dämlich, informativ, destruktiv, übellaunig, motivierend, schlau, dumm, cool, uncool, peinlich, manche auch sehr peinlich. 

Aber sie sprechen und führen das wunderbare Radio-Medium an seinen Ursprung zurück: Menschen sagen etwas und andere hören zu. So wurden wir als Menschen sozialisiert, nicht mit Fernsehen, Zeitungen, Filmen oder Musik, nein, uns wurde vorgelesen, so lernten wir die Sprache und staunten, was anderen Menschen irgendwo auf der Welt geschehen war und in unserer Phantasie sahen wir Urwälder und Gespenster, Gesichter, Maschinen oder Raumschiffe.

Auf Foren treten nun junge Podcaster auf, die beseelt sind von dieser schlichten Kommunikation: Menschen erzählen vom Leben und andere hören zu. Ambitionierte journalistische Projekte werden präsentiert, aufwändige Ideen, Dutzende Interviewpartner, Geräusche, O-Töne und so weiter, und als Älterer muss man sich zurückhalten, im Videocall nicht mit der gelben Hand zu winken, um nachfolgende Generationen besserwissen zu lassen, dass es das doch alles schon gab, damals im Radio, als es noch kein Nebenbei-Medium war und auch heute noch gibt, etwa in den Kultur- oder Wortprogrammen. 

Aber man lässt die Hand unten, weil es faszinierend ist, dass die Jungen über den Umweg eines digitalen Formats wie dem Podcast den Ursprung des Radios wiederentdecken und auch ein Stückchen neu erfinden, denn natürlich wird Radio in der digitalen Welt, wo alles immer und überall abrufbar ist, wo es keine Primetime und Nachtstrecken gibt, nicht so klingen können wie in der analogen Vergangenheit. Fernseh- und Print-Menschen wird das ein müdes Lächeln abringen, aber jetzt ist eben auch das Radio an der Reihe. 

Podcasts an sich sind eine wunderbare Erfindung, aber auch eine Inspiration für das - man möchte fast hinschreiben - „gute alte Dampfradio“.  Den Inhalt über die Form stellen und in den Mittelpunkt rücken, ist für alle klassischen Medien letztlich die einzig denkbare Überlebensstrategie in der digitalen Welt. 

Klingt banal, wird aber für das Radio der Zukunft eine enorme qualitative, finanzielle und logistische Herausforderung. Das Radio wird nicht mehr als „Nebenbei-Medium“ durchkommen, es muss gehört und nicht überhört werden wollen. Das großartigste Medium wird überleben, wenn es aus der Defensive kommt, wenn es seinem Publikum etwas zu sagen hat, das Publikum im Herzen berührt, es inspiriert, motiviert, informiert, unterhält, ganz gleich, ob mit Worten oder Musik, Tönen, Geräuschen, Stimmen, möglichst live, im Hier und Jetzt, authentisch, menschlich, unmittelbar, echt, kein Fake, ganz in der Nähe, ein echter Freund, ein Begleiter. 

Dazu braucht es kluge Moderatoren, Redakteure und Reporter, die zuerst denken und dann reden, denen es gelingt, die Alleinstellungsmerkmale und Kompetenzen des Radios auszuspielen: Live, regional, informativ, unterhaltend. So wie es der begnadete Ein-Satz-mit-Pointe-Moderator Dieter Thoma vom WDR konnte, als er die Autofahrer (live) warnte, auf der A1 bei Burscheid (regional) treibe sich (informativ) ein herrenloser Hund herum. Um (unterhaltend) anzufügen, ob nicht eher der Hund vor den Autofahrern gewarnt werden müsse?