Am vergangenen Montagmorgen um 7.41 Uhr schlug das Handy von Kai Sturm Alarm. Elch-Alarm! Eine Woche hatte er auf diesen Moment gewartet, viele Elch-lose Stunden vor seinem Homescreen verbracht. Dann, endlich, zum ersten Mal fingen die Kameras gleich auch noch zwei Exemplare jener Lebewesen ein, die derzeit von der schwedischen Küste landeinwärts ziehen auf die üppigeren Weiden. Das ist ja der eigentliche Grund, warum sie bei Sturms Sender RTL diesen rund um die Uhr Aufriss gerade veranstalten: Sie wollen Elche zeigen. Viele Elche.

Es heißt ja nicht umsonst „Die große Elch-Wanderung“ und nicht „Stille Landschaften in Nordschweden“.

Was im Land der Elche seit Jahren ein TV-Ereignis ist mit angeblich zwölf Millionen Zuschauern, ist das jüngste Projekt von Kai Sturm, das er in seiner Rolle als „Head of Creative Circle“, also als Leiter einer Kreativ-Einheit zur Entwicklung neuer Programmideen, für die Streamingtochter von RTL angestoßen hat. Es wird auch sein letztes gewesen sein. Zum 30. Juni scheidet er aus dem Unternehmen aus. Nicht weil er muss, sondern weil er es so will.

Seine Entscheidung hat bis zur offiziellen Verkündung am gestrigen Tag eine längere Wanderung zurückgelegt als die Elche jetzt in der schwedischen Pampa. Die Tiere stapften um die Weihnachtszeit noch durchs Winterwunderland am Bottnischen Meerbusen, da dämmerte es schon in Kai Sturm, dass es jetzt Zeit sei, neue Pfade in seinem Leben zu beschreiten.

Geradezu erleichtert gibt er sich nun im digitalen Vis-à-vis, endlich könne er offen darüber reden, was er seit Monaten mit sich trägt: „Je älter man wird, desto wertvoller ist die Zeit, die man mit der Arbeit verbringt“, sagt er, „und desto wichtiger ist es, dass man auch richtig Freude daran hat.“

Die spezielle Kraft der Elche

Nicht, dass der Tag, an dem wir sprechen, kein freudiger gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Wie gesagt: zwei Elche, Donnerwetter. Vor lauter Freude schnappte sich Kai Sturm am frühen Morgen seine Ehefrau und schaute mit ihr bei einer Tasse Kaffee den langersehnten TV-Stars eine halbe Stunde lang beim mehr oder weniger Nichtstun zu. Sie hätten „so eine spezielle Kraft“, die Elche, seien „so ein besonders Tier“, schwärmt Sturm.

Warum hört er dann auf, anstatt weiter solch elektrisierendes Experimentalfernsehen für RTL zu entwickeln? Na, weil der inzwischen 63-Jährige seine letzten Berufsjahre bis zur Rente „wieder ein bisschen eigenständiger“ verbringen möchte, wie er sagt. Neuen, eigenen, auch privaten Projekten will er sich künftig widmen. Dazu zählt auch das Golfen, das ihn immer wieder Demut lehrt.

Kai Sturm © RTL / Boris Breuer
Man kann diesen Exit in die Freiheit sehr gut nachvollziehen, wenn man eine gute Stunde lang nicht nur auf Sturms mehr als 30-jährige Karriere als Produzent und TV-Manager zurückgeschaut hat, sondern dabei auch in sein Arbeitszimmer mit dem imposanten Kreuzgewölbe lugen durfte. Er wurde in Dortmund geboren, doch seit einigen Jahren ist der frühere Kuhstall eines Weinguts in der Pfalz seine Wahlheimat. Die Neustartbedingungen könnten dort nicht komfortabler sein.

Vor dem Fenster setzen Weinberge landschaftliche Akzente, ein Feigenbaum erblüht, Vögel zwitschern, von Großstadthektik keine Spur. Idylle pur. Fast wie in Schweden. Kein Wunder, dass Kai Sturm so viele Ideen gekommen sind.

Wobei er die Zuschreibung „Ideenhansel“, wie ihn Barbara Schöneberger für die Sorte von Fernsehkreativen wie ihn geprägt hat, weit von sich weist. Nein, er sei nicht derjenige, der den ersten Satz aufs Papier schreibt. „Ich lasse mich inspirieren von den verschiedensten Quellen, ob aus der Natur oder vom Fernsehen.“ Und: Er schaue „wirklich sehr, sehr viel Fernsehen aus der ganzen Welt“, stets auf der Suche nach besonderen Emotionen. Denn dass man im Entertainment das Rad neu erfinden könne, daran glaubt er nicht. Dafür glaubt er stark an „Hybridisierung“, also dass man Elemente zusammenbringt, die es vorher in dieser Konstellation noch nicht gab.

Es wurde gekuschelt, geherzt und gekocht

Seine produktivste und beständigste Phase hatte Kai Sturm zwischen 2006 und 2019 bei Vox, wo er als Chefredakteur auch für die Unterhaltung zuständig war. Es entstanden Dauerbrenner wie „Shopping Queen“, „Sing meinen Song“, „Die Höhle der Löwen“, „First Dates“ und „Kitchen Impossible“. Sozusagen hybridisiertes, aber ungemein wohliges Programm, in dem viel gekuschelt, geherzt, gekocht wird. Kai Sturm nennt es „positives Fernsehen, Menschenfernsehen“. Er habe Menschen zeigen wollen, „die einen eigenen Antrieb haben und denen man nicht sagen muss, geh jetzt von links nach rechts und tu so, als ob du deinem Sohn Frühstück machst“.

Auf welches Format er besonders stolz ist? In Erwartung dieser Frage hat sich Kai Sturm da was überlegt. Die mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnete Langzeitdokumentation „Asternweg“, in der sie wie niemand zuvor einen ungeschönten Blick auf deutsche Hartz IV-Realitäten warfen, nennt er als ein Beispiel. Und als zweites Tim Mälzers Weltreise durch die Kochtöpfe, weil das Format im Herstellungsprozess wie auch beim Durchhaltevermögen im Sendermanagement besonders war: „Kitchen Impossible“ war nämlich bei der Erstausstrahlung kein Erfolg und wäre bei anderen Sendern, da ist er sich sicher, „auf dem Fernsehfriedhof“ gelandet. „Aber wir fanden: Das ist so tolles Fernsehen. Es kann nicht sein, dass wir damit nicht mehr Menschen begeistern können.“

Interessanterweise fehlt in Sturms Favoritenliste ein RTL-Format.

Dass er sich bei der großen Senderschwester möglicherweise etwas schwerer tat, hört man heraus, wenn er sagt: „Bei RTL ist es ähnlich wie beim FC Bayern. Jede Zuckung wird registriert und kritisiert. Man fliegt nie unter dem Radar. Das macht es insgesamt schwieriger zu agieren, als wir es bei Vox tun konnten. Dort waren wir freier und konnten überraschen.“

Vor allem die Jahre damals unter der Geschäftsführung von Bernd Reichart behält Kai Sturm in bester Erinnerung: „Ich bin ein Mensch, dem es wichtig ist, mit anderen Menschen gut zusammenzuarbeiten. Manchmal geht es besser, manchmal nicht so gut. Mit Bernd lief es traumhaft.“ Sie beide hätten ein gutes Händchen gehabt in einer schwierigen Phase, als bei Vox die Fiction wegbrach und sie sich was Neues ausdenken mussten.

Der Ältere von beiden, also Kai Sturm, konnte da bereits auf einen reichen Fundus an Entertainmenterfahrung zurückgreifen. Sie reicht zurück in die Zeit, als das Privatfernsehen in Deutschland noch gar nicht erfunden war.

Kai Sturm: Der Unterhalter

Sturm studierte klassische Musik an der berühmten Folkwang Schule in Essen. Parallel machte er eine Ausbildung zum Clown, spielte Puppentheater, dirigierte ein Orchester. Im Hauptberuf Schülern an der Musikschule in Gelsenkirchen das Gitarre- und Fagottspielen beizubringen, erfüllte ihn nicht lang. Er warf die ganze Ernsthaftigkeit seines bisherigen Daseins über Bord und wurde Club-Animateur. Angeschickerte Urlauber abends mit einer einstündigen Musicalfassung des „Faust“ bei Laune zu halten, wurde für zwei Jahre sein Lebensinhalt.

Gerne würde er sagen, er hätte in jenen Jahren ein Gespür dafür entwickelt, was beim Publikum zieht. „Man spürt sehr viel in dem Moment“, lacht er, „aber Trends verändern sich permanent, auch das Publikum und die Sehgewohnheiten.“ Was er dagegen gelernt habe: „Wenn man mit Begeisterung an die Sache herangeht, kann man auch andere Leute begeistern. Ob es ein Erfolg wird, weiß man aber nie.“

Kai Sturm © RTL / Boris Breuer
Diese Unberechenbarkeit hat ihn freilich später, als er zurück in Deutschland war, nicht davon abgehalten, es immer wieder von Neuem zu versuchen. In München, wo er auf der Rückreise aus der Türkei hängen blieb, probierte er sich zum Beispiel als Redakteur und Moderator bei Helmut Markworts Radio Belcanto aus, dem ersten privaten Klassikradio. Als dieser schon nach einem Jahr den Stecker zog, weil er Geld brauchte für neue Projekte im Osten des gerade wiedervereinigten Deutschlands, zog Kai Sturm weiter Richtung Fernsehen.

Denn die Situation war ja genau so, wie er sie beschreibt: „Wer zu jener Zeit bis zehn zählen konnte, wurde Fernsehredakteur beim Privatfernsehen.“

Aus einem Erstkontakt mit Uwe Hübners RTL-Gameshow „Spiegelei“ entwickelten sich Jobs als Off-Sprecher bei „Ruckzuck“ und als Castingkoordinator bei Reg Grundy. Die Sommerurlaube auf Texel mit den Eltern machten sich bezahlt, als er die relativ verzweifelten Holländer Linda und John de Mol in einer Konferenzrunde in ihrer Landessprache begrüßte. Für sie fand er heiratswillige Kandidaten, sodass sie auf RTL die Show „Traumhochzeit“ endlich starten konnten.

Für Kai Sturm war es zugleich der Beginn einer langwährenden On-Off-Beziehung mit RTL. Mal arbeitete er direkt für den Sender und seine Senderschwester Vox, mal von der Produzentenseite aus, bei Endemol, bei der Constantin. Er gründete sogar eine eigene Firma, die Stormy Entertainment, sah aber schon bald ein, dass er als „vor allen Dingen inhaltlich und kreativ Getriebener nicht der ideale Unternehmer“ sei, weil ihm am Ende der Gewinn nicht so wichtig ist wie das Produkt.

 

Der Versuch, das Image von RTL als marktschreierischer und lauter Sender glatt zu bürsten, ist jedenfalls misslungen.

 

Nach den Jahren in Festanstellung bei Vox ging er 2019 mit Bernd Reichart hinüber zu RTL und wurde Co-Unterhaltungschef. Dieser habe ihn nicht geholt, um seine Interpretation von positivem Fernsehen dort umzusetzen, widerspricht Sturm. Man könne einen Markenkern nicht auf einen anderen Sender übertragen. Abgesehen davon: „Wenn Sie einen Stempel haben, dann kriegen Sie den nicht mehr los. Der Versuch, das Image von RTL als marktschreierischer und lauter Sender glatt zu bürsten, ist jedenfalls misslungen.“

Gerade deshalb ist es ja so erstaunlich, dass Kai Sturm jetzt am Ende seiner RTL-Karriere mit seinem Elch-TV so ein stilles, so gar nicht RTL-iges Ausrufezeichen setzt, nicht wahr?

Und dann zitiert er diesen „schönen Satz“ seiner Programmgeschäftsführerin und Dieter-Bohlen-Rückholerin Inga Leschek, dass sich alle bei RTL jeden Tag fragen sollen: „Was hast du heute für RTL+ getan?“

Kai Sturm findet: „Diesem Auftrag bin ich voll und ganz nachgekommen. Mit den Elchen sind wir in aller Munde.“

Die Idee dafür entstand in seiner Rolle als „Head of Creative Circle“. Auf dieses ruhigere, für ihn neu geschaffene Gleis hatte er sich 2023 freiwillig zurückgezogen. Die Herausforderungen der Pandemie und die Verantwortung für ein 20-köpfiges Team hätten ihn „regelrecht erschöpft“. Hinzukam, dass er in seiner Laufbahn bewusst immer nur Zeitverträge abgeschlossen hatte, um sich nach gewissen Abständen hinterfragen zu können.

Sturms Job war es fortan, „Dinge zu finden, über die Menschen reden, die imageprägend sind und möglichst aufmerksamkeitsstark“. Da war die Elch-Wanderung für ihn ein wunderbares Beispiel, „dass man fern von ausgetretenen Pfaden Ungewöhnliches finden kann.“ Wobei, räumt er ein, der Aufwand für RTL relativ klein sei: „Die Schweden machen die ganze Arbeit, wir übernehmen den Stream.“

Überzeugungsarbeit

Und dennoch ist es für seinen Sender ein riesengroßes Experiment. Bis auf ein Bushido-Konzert und ein paar Fußballspiele hielt man sich bei RTL mit Live-Streams bislang zurück. Sturm macht auch keinen Hehl daraus, dass er seine Vorgesetzten nicht sofort davon begeistern konnte. Er hielt es zunächst ja selbst für eine „total bekloppte“ Idee. „Manche fanden es ganz toll, manche dachten, ich wollte sie veräppeln.“ Letztlich sei es eine reine Abwägungssache gewesen: Wie viel Risiko gehen wir damit ein? Wie viel kostet es uns? Was haben wir für einen Ertrag?

Es sind Fragen, mit denen sich Kai Sturm künftig nicht mehr beschäftigen muss. Auf seinen letzten Metern bei RTL trifft er keine strategischen Entscheidungen mehr. Dafür hat er sich vorgenommen, sich bei allen Kreativen für die Zusammenarbeit in den letzten Jahren zu bedanken.

Vielleicht fällt dann in dem einen oder anderen Gespräch auch ein kleines Sorry. Denn Kai Sturm wird nachgesagt, dass er im leidenschaftlichen, kreativen Eifer manchmal, nomen est omen, stürmischer und direkter war, als es einem harmonischen Miteinander förderlich ist. Aber so geht es ja oft bei den inhaltlich getriebenen Machern, die von der eigenen Vision überzeugt sind und es auch sein müssen, damit es vorangeht.

Zu guter Letzt möchte der Noch-Chef den Mitarbeitenden noch eine „gute Schlussanalyse“ hinterlassen, was seine letzten beiden Projekte „Die große Elchwanderung“ und „Die Passion“ betrifft. Ginge es nach ihm, gäbe es von letzterem „auf jeden Fall“ eine Fortsetzung. Allein schon deshalb, damit die Kritiker endlich verstehen, dass „Die Passion“ „kein Trash“ ist.

Für eine finale Bewertung des Elch-TV ist es derweil noch zu früh. Ursprünglich bis 9. Mai, 23 Uhr, war die Live-Übertragung auf RTL+ angesetzt. Weil der Start aber über den Erwartungen liegt, wie es knapp aus der Zentrale in Köln heißt, soll es voraussichtlich ein paar Tage in die Verlängerung gehen. Die Voraussetzungen bessern sich schließlich von Tag zu Tag für die Zuschauer wie für die Elche.

Auch in Schweden wurde es zuletzt deutlich wärmer. Der Schnee schmilzt. Der Fluss Ångermanälven glitzert. Die Elche werden mobiler, nahezu übermütig. Als am Mittwoch gegen den Abend zu die ersten drei Exemplare ins Wasser galoppierten und ans andere Ufer schwammen, wo das Gras bekanntlich immer grüner ist, schickte Kai Sturm eine E-Mail, aus der eine Mischung aus Genugtuung und Enthusiasmus sprach: „Jetzt läuft’s.“

Kaum auszumalen, welche Dramatik noch zu erwarten ist. Aber ruhig Blut. Am heutigen Samstagmorgen, 7.41 Uhr, stand der „Elchzähler“ im Live-Stream auf RTL+ bei 9. 100 bis 200 Elche sollen sich angeblich alljährlich auf Wanderschaft begeben. Dem Showdown am Fluss dürften also noch viele weitere folgen.

Es bleibt spannend. Wir zählen mit.