Auf die Frage, wer seinen Kommentatorenplatz beim Eurovision Song Contest einnehmen soll, antwortete Peter Urban vor ziemlich exakt einem Jahr hier an dieser Samstagsstelle, dass er sich darüber keine Gedanken gemacht habe. Das sollten die Verantwortlichen beim Sender tun. Was er sich höchstens wünsche: dass die Kommentierung „mit Liebe gemacht wird und cool bleibt“. Einen „marktschreierischen Radio-DJ, der fröhlich, lustig, laut ist“, fände er ebenso unangemessen, wie das Publikum in den 30 Sekunden vor und 10 Sekunden nach dem Song mit Statistiken und Fakten zu überladen, so wie es zu seinem Graus in der Fußballwelt Unsitte geworden ist.
Seit Dienstag ist nun die Nachfolgefrage beantwortet: Thorsten Schorn ist TNGVOE, The Next German Voice of ESC. Der NDR in Hamburg, der in der ARD für den weltgrößten Musikwettbewerb zuständig ist, hat sich für ihn entschieden, einen Mann vom Radio, so wie es Peter Urban ist.
Hat sich Urbans Wunsch damit erfüllt?
Wir treffen uns, da ist die Nachricht kaum drei Stunden in der Welt. Thorsten Schorn hat sich für eine Stunde herausgezogen aus dem Wahnsinn des Tages, wartet auf einer Bank im Rheinpark unweit von RTL in Köln, seiner Heimatstadt, wo er vor 48 Jahren geboren wurde. Er genießt die Sonne, so denn sie sich mal bei diesem nordseewürdigen Wetter zeigt; checkt, was alles auf seinem Smartphone aufploppt.
Oha, es ist viel.
Stimme von "Shopping Queen"
Außerhalb Kölns muss man vielleicht erklären, wer Thorsten Schorn ist: seit 2017 Moderator am Nachmittag beim lokalen WDR2, aber nicht nur. Man sieht und hört ihn auch im Fernsehen, vorzugsweise bei den RTL-Sendern. Früher als Außenreporter bei „Stern TV“, seit 2018 als Spielleiter von „Denn sie wissen nicht, was passiert“. Er hat im Off „Prince Charming“ vertont und seit mehr als 2.500 Folgen „Shopping Queen“. Ende dort nicht in Sicht.
Gerade war er nebenan am Picassoplatz wieder bei einer Besprechung für „Shopping Queen“. Für ihn ist das ursprünglich in der Türkei entwickelte Format nach wie vor „eine geniale Spielidee“ und der Designer Guido Maria Kretschmer „mit seinem sprudelnden Witz, seiner Hingabe und Fachkompetenz“ ein „absoluter Glücksgriff für das Format“. Im Sound unserer letztmaligen ESC-Gewinnerin Lena Meyer-Landrut sagt Schorn fröhlich: „Ich habe große Freude daran, wie ein kleiner Satellit, like a satellite, um ihn herum zu kreisen. Guido ist meine Sonne.“
Es ist ein schönes Bild, was Thorsten Schorn an diesem Tag wählt, wo die Sonne der Aufmerksamkeit so kräftig auf ihn selbst scheint. Und es ist so passend auch mit Blick auf seine bisherige Karriere. Es gab eigentlich immer jemanden an seiner Seite, der im Fernsehen ein bisschen mehr strahlte und in dessen Lichtkegel er sich sonnte. Sei es „der Guido“, sei es Harry Wijnvoord bei der Neuauflage von „Der Preis ist heiß“, seien es Thomas Gottschalk, Günther Jauch und Barbara Schöneberger bei „Denn sie wissen nicht, was passiert“.
In deren Schattenexistenz hat sich Thorsten Schorn offenbar sehr bewusst eingerichtet. Noch sehr präsent ist ihm ein Dialog, als Jauchs damalige Produktionsfirma i&u auf die Idee kam, ihn als Spielleiter in eben jener Samstagabendshow zu platzieren.
Produzent Andreas Zaik habe gezweifelt, ob er überhaupt annehmen würde: „Sie haben doch schon so viel gemacht und können zurecht sagen: Ich will jetzt auch mal selber als Host auf die Bühne kommen und nicht wieder an der Seite von anderen an einer Sendung beteiligt sein.“ „Herr Zaik, Sie haben mir doch gerade die Namen Jauch, Gottschalk und Schöneberger genannt. Wenn ich mit diesen Dreien eine gemeinsame Sendung machen darf, dann weiß ich ganz genau, wo mein Platz ist: sehr gerne als Spielleiter in einer Schiedsrichterkabine.“
Eloquenz und Witz
Andererseits: Wer Thorsten Schorn zum Beispiel in Hamburg bei der Verleihung des Deutschen Radiopreises als Kommentator erlebt hat, weiß, dass er sich in punkto Eloquenz und Witz auf der Bühne neben der hauptmoderierenden Barbara Schöneberger nicht verstecken muss, bevor er sich dann in seine Glaskabine verabschiedet, um den Zuhörern an den ARD-Radios zu beschreiben, was sie nicht sehen.
Den Deutschen Radiopreis hat er 2015 übrigens selbst gewonnen in der Kategorie Bester Moderator. Er begann ja auch schon sehr früh, dafür zu üben.
Mit elf in Pulheim, tief im Westen von Köln, stöpselte sich Thorsten Schorn aus zwei Kassettenrekordern und einem Mikrofon ein Studio zusammen. Bei Radio Erft machte er ein Schülerpraktikum, volontierte bei Radio Neandertal in Mettmann, arbeitete sich hoch zum Frühmoderator, wechselte nach Frankfurt zum Jugendradio des HR und landete schließlich im Jahr 2001 bei 1Live in Köln, wo er 16 Jahre blieb – und die Offerte von Wellenchef Jochen Rausch, in aller Herrgottsfrüh zu moderieren, potzblitz ausschlug.
Keine Lust mehr auf die Radio-Primetime, so was muss man sich mal trauen! Schorn, der von sich sagt, er sei „eine Eule, keine Lerche“, konnte es sich offenbar leisten. Er brauchte nicht zuletzt die Ausgeschlafenheit fürs Fernsehen.
Schon als Schüler jobbte er in den Ferien als Hilfe für alles bei der Quizshow „Jeopardy“, die seinerzeit von Frank Elstner moderiert wurde. Und wenn bisher jemand gezweifelt hat, dass Thorsten Schorn eigentlich ganz schön cool und forsch und konsequent seine Karriere verfolgt, bitte sehr:
Als die Produktionsfirma ihn bat, eine Liste mit Namen für die ausgefallene Off-Stimme von „Jeopardy“ zusammenzustellen, setzte er auch seinen unten drunter, wurde prompt genommen und sagte fortan die Kandidaten an mit dieser unglaublich geschmeidigen Stimme, die ihm geschenkt wurde. Er habe halt das große Glück, „dass da offenbar bei meiner Zeugung ein Tropfen Olivenöl dabei war“, lacht er.
Vom Gestirn Frank Elstner zum nächsten war es nicht weit. Bei Günther Jauchs „Wer wird Millionär?“ machte Schorn das Warm-up und so gut, dass dieser ihn als Außenreporter für „Stern TV“ empfahl, wo seine erste Aufgabe war, spätnachts bei ahnungslosen Menschen zu klingeln und um Frischkäse zu bitten, damit Jauch und Tim Mälzer damit im TV-Studio live kochen können. Und siehe da, diese Menschen öffneten ihm tatsächlich die Tür, seiner Schlagfertigkeit und seinem Charme sei Dank.
Früher ein Wanderer zwischen den Welten
Zeitgleich startete Schorn ebenso als Außenreporter bei der Anarcho-Show „Zimmer frei!“ im WDR. Er war also ein früher Wanderer zwischen den Welten öffentlich-rechtliches und privates Fernsehen, als das noch gar nicht so üblich war. Anders als bei Elton, der gerade schmerzliche Erfahrungen macht, habe man von ihm „nie verlangt, ein Engagement woanders sein zu lassen“.
Nun war Thorsten Schorn bislang vor der Kamera, das gehört zur Wahrheit dazu, nie so eine prominente Figur wie Elton und all die anderen Sonnen im Unterhaltungsuniversum. Seine große Chance sieht er jetzt beim ESC gekommen.
„Ich werde dort zwar lediglich zu hören und nicht zu sehen sein“, sagt er, „doch es ist wie mit Fußballkommentatoren: Durch die Kraft der Stimme ist man sehr präsent. Manchmal sogar mehr als die, die aus dem Gastgeberland auf der Bühne stehen und die Show präsentieren. Es ist ein tolles Privileg, was ich da jetzt habe, und ich bin mir der Bedeutung dieser Aufgabe bewusst.“
Sehr, sehr kurzfristig kam er zu diesem „Privileg“, aber hallo. Erst am 2. April, seinem 48. Geburtstag, kam der Anruf aus Hamburg.
Perfect Match
Der NDR hatte es offenbar überhaupt nicht eilig, sich frühzeitig festzulegen. Man kannte sich über die jahrelange Zusammenarbeit beim Deutschen Radiopreis. Aus Spaß habe er irgendwann gesagt, dass er den Kommentator bei der Preisverleihung eigentlich nur mache, „um mich für den ESC warm zu laufen“, scherzt Schorn. Beim deutschen Finale im März durfte er schon mal ran.
Aus Sicht von Andreas Gerling, Chef des ARD-Teams für den ESC beim NDR, sind Thorsten Schorn und der Eurovision Song Contest ein perfect match. Viele Ultras in der ESC-Community sehen das genauso (wobei wiederum andere lieber Constantin „Consi“ Zöller vom SWR favorisierten). Auch frühere Weggefährten vom WDR-Radio sind sich sicher: Das passt. Der Thorsten sei einer, „der immer eine Schippe drauflegt“, dessen Stärke die inhaltliche Arbeit ist, der weiß, wann und was er zu reden hat und wann er schweigen muss.
Das werde er auch beim ESC beherzigen, beteuert Schorn: „Mein Verständnis von Kommentierung ist, dass sich das Erlebnis vor Ort nach Hause transportiert.“ Egal ob Radiopreis, Rosenmontagszug (den er in diesem Jahr erstmals neben seiner WDR2-Kollegin Sabine Heinrich kommentierte) oder ESC: „Ich nehme das Publikum an die Hand. Es geht nicht darum, irgendwas nach oben zu jubeln oder zynisch schlecht zu reden.“
Nach Marktschreier-Attitüde klingt das gar nicht – und ist damit bestimmt sehr im Sinne von Peter Urban, der den Job beim ESC ja 25 Jahre lang gemacht hat. „Keine Ratschläge“ habe er seinem Nachfolger gegeben, teilt dieser auf Nachfrage mit, er gebe ihm „auf jeden Fall die besten Wünsche mit auf den Weg“. Schorn selbst will mit seinem persönlichen Stil punkten und nicht als „Party-Crasher“ auftreten: „Es geht um die Show, nicht um mich.“
Er will es also nicht auf die Jan-Böhmermann-Olli-Schulz-Tour machen, die für den österreichischen Sender FM4 zum zweiten Mal in die ESC-Kabine gehen. Für alle, die den Jan (übrigens Schorns Kollege in 1Live-Zeiten!) und den Olli reden hören, und da zähle er sich selbst dazu, sei das im Vorjahr in Liverpool ein großer Spaß gewesen. „Für die breite Masse, das wissen die beiden ja auch selbst, solltest du natürlich nicht in die Titel reinquatschen, dich ein bisschen zurückhalten und vor allem die Acts glänzen lassen. Denn du bist der Kommentator und nicht ein Beitrag im Wettbewerb.“
Die Aufgabenstellung bleibe für ihn die gleiche, wie sie für Peter Urban gewesen sei: „Hole aus allem, was du vor Ort aufsaugst, das Spannendste fürs Publikum heraus und erzähle es halbwegs unterhaltsam.“
Um was erzählen zu können, muss man natürlich gut vorbereitet sein. An Urbans beinahe enzyklopädisches Wissen über Musik und ESC-Geschichte kommt Schorn (noch) nicht ran. Wie aufs Kommando greift er aber zu seiner braunledernen Aktentasche und zieht das Buch „Eurovision Song Contest: Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“ von Lukas Heinser heraus. Dieser, von Schorn „The Brain“ genannt, wird ihn in der ESC-Kabine unterstützen wie zuvor schon Peter Urban.
Und dann muss Thorsten Schorn schon wieder los, zurück zu RTL, die nächste Sendung vorbereiten. An diesem Samstag gibt's die nächste Ausgabe von „Denn sie wissen nicht, was passiert“ live aus Hürth.
Natürlich kann man ihn nicht ohne die quälende Frage entlassen, wie gut Deutschland am 11. Mai in Malmö abschneiden wird. Schorn bleibt da fröhlich-höflich: Als Besitzer einer Dauerkarte für den 1. FC Köln habe er gelernt, „große Freude, Begeisterung und Liebe für etwas zu haben, obwohl das eigene Team am Ende vielleicht nicht den Pokal gewinnt“.
Armer Isaak.
Ach, nein, so will Thorsten Schorn das nicht gemeint haben. „Always on the run” sei ein „richtig toller Radiosong“, er habe ihn selbst auch schon öfter in seiner eigenen Sendung gespielt und jedes Mal mitgesungen. „Nur wissen wir alle: Der ESC hat seine eigene Dynamik. Pyro-Effekte im Hintergrund, eine Windmaschine oder ein witziges Trickkleid können jedem Auftritt einen gewissen Kick geben und das Ganze positiv befeuern.“ Es gelte: „kräftig die Daumen zu drücken“, dass Isaak „möglichst weit vorne“ landet.
Wie und wo der Eurovision Song Contest im deutschen Fernsehen 2025 landet? Auch das steht noch in den Sternen. Nach DWDL.de-Informationen bereitet lovely Lena’s Karrierebereiter Stefan Raab mit seinem Geschäftspartner Daniel Rosemann ein „Rettungskonzept“ vor.
Und Thorsten Schorn? Seine Vereinbarung mit dem NDR gilt nur für die Austragung des Wettbewerbs jetzt in Malmö. Es gebe da „keinen Mechanismus einer automatischen Verlängerung“, sagt er. Und dann zitiert er das Online-Magazin queer.de, das für ihn schon mal vorgerechnet habe: Wenn er das solange mache wie Peter Urban, wäre sein letzter ESC im Jahr 2050. „Mal gucken, ob ich bis dahin durchhalte.“
I’m always on the run, na-na-ayy, run, na-na-ayy – wir sind uns da nicht ganz sicher, ob Isaaks Song, in dem es um Flucht und Selbstzweifel geht, als Motivationshilfe taugt.