Eine wie sie kann es im öffentlich-rechtlichen Fernsehbetrieb eigentlich gar nicht geben: Nadia Kailouli ist preisgekrönte Filmautorin, Reporterin, Investigativjournalistin, Podcasterin, Moderatorin und Hochschulprofessorin, obwohl sie keine klassische karriereförderliche Ausbildung vorweisen kann. Weder studierte sie (schon gar nicht Germanistik), noch besuchte sie eine Journalistenschule oder absolvierte ein Volontariat. Sie machte nicht einmal Abitur, dort in Wermelskirchen bei Köln, wo sie als Kind marokkanischer Eltern 1983 zur Welt kam. Und jetzt moderiert sie auch noch "Report Mainz", das investigative Flaggschiff des SWR im Ersten, dessen Sendungsgesicht 20 Jahre lang der studierte Germanist Fritz Frey war?
Wie konnte das passieren? Trotz ihres rheinisch-bergischen Hintergrunds?
Das mit dem Hintergrund ist ja wichtig zu betonen, nach all der Aufregung, die es im vorigen Sommer um Nadia Kailouli gab. Wer sich nicht erinnert, hier in Kürze die Hintergründe (die auf DWDL.de natürlich auch Thema waren):
Nadia Kailouli, damals Moderatorin des damals noch vom RBB verantworteten ARD-"Mittagsmagazins", machte auf dem damals noch Twitter genannten Portal X ihrem Ärger Luft, dass sie und ihr Moderationskollege Aimen Abdulaziz-Said nicht mit der Sendung zum MDR nach Leipzig ziehen würden, weil sie keinen "ost-deutschen Hintergrund" hätten. Man konnte da einen schlimmen Vorwurf herauslesen: "Bleibt das Moderatoren-Duo mit Migrationsgeschichte auf der Strecke, weil es nicht aus Bautzen oder Güstrow stammt?", fragte "Business Insider" bang und die "Frankfurter Rundschau" mutmaßte "Rassismus gegen People of Color". Der MDR dementierte eiligst, man stehe "für Vielfalt, in jeder Hinsicht". Die Recherchefüchse von "BI" über "Süddeutsche" bis "ZAPP" legten sich ins Zeug, zerrten vertrauliche interne E-Mails an die Öffentlichkeit. Es gab keine Maulwurf-, aber eine Rassismusdebatte.
Nur wer sich über den eigenen Tweet hinaus nicht mehr äußerte: Nadia Kailouli. Bis jetzt.
"Zwei Menschen, die in Deutschland geboren wurden, aber offenbar nicht als Deutsche wahrgenommen werden, direkt die Rassismuskeule vorzulegen, finde ich problematisch. Aimen und ich sind Norddeutsche, deswegen sind wir nicht mehr im ,Mittagsmagazin‘ drin."
Eine Norddeutsche also. Genau genommen ist das Nadia Kailouli, die wie gesagt aus der altbergischen Schiefer- und Fachwerkhausidylle von Wermelskirchen stammt, noch nicht sooo lang. Am Anfang ihrer Fernsehkarriere hätte aus ihr durchaus eine Oberbayerin oder Mittelfränkin werden können, wenn sie der Bayerische Rundfunk, nun ja, nicht "rausgeschmissen" hätte, wie sie erzählt.
Nach dem Realschulabschluss und einer anschließenden Ausprobierphase in Köln mit Jobs auf Messen und Events begann Nadia Kailouli mit 19 eine Ausbildung zur Groß- und Außenhandelskauffrau in Nürnberg. In der Frankenmetropole kam sie auch zum ersten Mal mit dem Fernsehen in Berührung: Der Bayerische Rundfunk suchte in einem Café frische Gesichter für ein neues, innovatives Jugendformat, das Fernsehen, Online und Radio erstmals vernetzen wollte. Inzwischen 23 und festangestellt in einer Event-Agentur, brachte sie keinerlei TV-Erfahrung zum Casting mit ein, und wurde prompt genommen.
Fortan tourte Kailouli mit dem "Südwild"-Team quer durch Bayern, sendete auf Marktplätzen vom Doppeldeckerbus aus live und crossmedial, bis der Redaktion nach drei Jahren auffiel, dass ihre Moderatorin ja gar nicht studiert hatte. Sie kann sich noch gut an das letzte Gespräch erinnern: "Wir sind Bildungsfernsehen und du hast keine akademische Ausbildung. Das ist dann schwer, weiterhin zu rechtfertigen, dass du für uns arbeitest."
Was heute händeringend gesucht wird, journalistischer Nachwuchs eben nicht aus der akademisch gebildeten Kaste, war damals offenbar ein Makel. Kailoulis Vertrag wurde nicht verlängert, wobei sie die fehlende Weihe an der Alma Mater eher für eine Ausrede hält: "Ich bin bekannt dafür, in Redaktionskonferenzen Sachen anzusprechen, die ich nicht gut finde, anstatt nur zu loben. Vielleicht war das der eigentliche Grund, warum sie mich bei ,Südwild‘ nicht mehr wollten." Dass sie keinen M.A. oder sonstigen Uniabschluss hat, habe seither nie wieder irgendwen gestört. Sie wurde im Oktober 2022 ja sogar zur Professorin an der Hochschule für Fernsehen und Film berufen.
Wie das geht? "Mein beruflicher Werdegang und was ich beibringen kann, ist mit einem Studium halt nicht unbedingt aufzuholen", antwortet Nadia Kailouli selbstbewusst. Und hat auch allen Grund dazu.
Und immer wieder geht's um ihre Optik
Dabei wollte sie, nach der ernüchternden Episode beim BR, eigentlich nie wieder beim Fernsehen arbeiten. Nur blieb ihr halt keine andere Wahl. Bewarb sie sich in ihrem erlernten Beruf als Kauffrau, bekam sie zu hören: Was wollen Sie denn hier? Warum wollen Sie zurück ins Büro? Sie waren doch beim Fernsehen! Also machte sie sich auf zu einer Casting-Odyssee, wurde eingeladen von Privatsendern bis Öffentlich-Rechtliche, und stellte immer wieder überrascht fest, wie sehr ihr Aussehen im Vordergrund stand.
Weil der Nischensender Einsfestival, wo sie unter anderem eine Reportagereihe ("Nadia auf den Spuren der Liebe") moderierte, in seiner damaligen Form eingestampft wurde, zog sie von Köln nach Hamburg, auch um privat einen Cut zu machen. Im Café lernte sie per Zufall einen Redakteur des NDR kennen, der sie für eine Gastkritik der regionalen Reportagereihe "7 Tage" einlud. Es wurde ihr Entrée, um endlich auch als Autorin tätig werden zu können.
Für ihren ersten Film "7 Tage unter Singles" bekam sie gleich mal einen Nachwuchspreis. Weitere Aufträge blieben dann aber erstmal aus. Und wer sich jetzt fragt, wie hat denn Nadia Kailouli weiter ihre Miete bezahlt? Sie arbeitete parallel weiter in einem Büro, machte die Ablage, sortierte Akten, öffnete die Post. Bis vor drei Jahren! Das Fernsehen allein hätte sie nicht ernähren können. Auch nicht, als sie die Chance ihres Lebens sah und in der Redaktion von "hier und heute" des WDR "superfrech" (Kailouli) ein Thema pitchte mit den Worten: "Ich bin da dran und die BBC ist dran. Entweder fährt die BBC mit oder wir."
Und dann fuhr sie mit, auf einem Seenotrettungsschiff der Organisation SOS Méditerranée, woraus 2016 ihr erster eigener Film entstand und in der Folge eine freie Mitarbeit bei den Reportern des jungen "Panorama"-Ablegers "STRG_F", die bis heute andauert. Die Flüchtlingsnot auf hoher See ließ Nadia Kailouli derweil nicht mehr los. Auf eigene Faust recherchierte sie in Süditalien und Südfrankreich. "Der Spiegel" kaufte ihr mal was ab, sonst wurde ihr Drängen in den Redaktionskonferenzen, wir müssen da noch mal hinschauen, nicht erhört. Erst im Sommer 2019, als sich die Lage auf dem Mittelmeer verschärfte.
Drei Wochen verbrachte Kailouli mit ihrem Kollegen Jonas Schreijäg auf der SeaWatch3. Für ihren wirklich sehenswerten wie erschütternden Dokumentarfilm wurden sie 2020 mit dem Grimme-Preis und mit dem Sonderpreis des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises ausgezeichnet. (Wer sich dieses vergessene Grauen noch einmal in Erinnerung rufen mag: Just in dieser Woche stellte die ARD "SeaWatch3" wieder in die Mediathek ein.) Claus Richter, der schon als Mitglied des Vereins zur Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrichs-Preises Kailoulis Arbeit schätzen lernte, holte sie nicht nur als Gastdozentin an die Hff. Er schlug sie auch als seine Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl für Fernsehjournalismus vor.
Und so versucht die Frau Professorin nun, den Nachwuchs dafür zu sensibilisieren, dass es noch viele andere Möglichkeiten gibt, Themen filmisch umzusetzen, als den langen Dokumentarfilm fürs Kino. Fernsehreportagen zum Beispiel, insbesondere bei den Öffentlich-Rechtlichen.
Alles super bei der ARD? "Natürlich nicht"
Die Jungen für ARD und ZDF allein schon als Zuschauer zu erwärmen, ist bekanntlich keine leichte Aufgabe. Natürlich merke auch sie hin und wieder, dass ihre Studenten denken, "also öffentlich-rechtlich, das ist schon ein bisschen quarkig alles", lacht Nadia Kailouli. Es wäre auch vermessen, ihnen zu sagen: Alles ist super bei der ARD. "Nein, das ist es natürlich nicht." Sie selbst würde sich freuen, wenn es mehr Geld für investigativen Journalismus gäbe und weniger für Sport, Musikantenfeste und Quizshows, und wenn all die Reportagen und Polit-Magazine, die dazu beitrügen, "dass wir in unserem demokratischen Zusammenleben gut miteinander auskommen", am frühen statt am späten Abend liefen.
Dass gerade "Report Mainz" und Co. im ARD-Gefüge kontinuierlich an Publikum verlieren, weiß Nadia Kailouli aber auch. Sie ist erst seit Januar beim SWR-Magazin mit dem Fuchs dabei, hat aber als Grund für den allgemeinen Quotenschwund bereits erkannt: "Es ist die Aufmachung. Und da haben wir ein Problem, wenn wir Beiträge fürs Fernsehen weiter klassisch anfertigen." Und dann erzählt sie von ihrer 92-jährigen Nachbarin, die sagt: "Die ARD nimmt mich nicht ernst, dass ich auch mit der Zeit gegangen bin. Ich gucke lieber Arte, denn die Reportagen dort sind zackig, die sind flott, da bin ich direkt drin."
Nadia Kailouli könnte das nun freilich ändern. Sie ist ja nicht nur als neues, wie man so schön sagt: telegenes Sendungsgesicht angetreten. Die 40-jährige Frontfrau will und soll "Report Mainz" auch mit eigenen Recherchen mit prägen. Irgendwann soll das auch passieren, nur so schnell funktioniere es nicht, denn: "Erstens dauern die Prozesse in der ARD. Zweitens hat auch mein Tag nur 24 Stunden."
Davon abgesehen, sei sie kein Freund davon, irgendwo hinzukommen und gleich alles anders machen zu wollen. Also zu sagen: "Ich brauche den Fuchs nicht mehr, der da durchs Bild läuft, können wir ein anderes Studio-Design machen und kann ich vielleicht direkt anfangen und dann zeigen wir erst den Clip? Das sind ja alles Kosten." Es wäre, glaubt sie, finanziell gar nicht möglich und auch den Kolleginnen und Kollegen gegenüber unfair, weil der Eindruck entstünde: So wie ihr das gemacht habt, war es nicht gut. Sie sei auf jeden Fall offen dafür, dass man sich gemeinsam verändert, und glaubt, dass ein Politik-Magazin wie "Report Mainz" auch anders funktionieren könnte. Sei es, dass man es für Gespräche öffnet oder die Inhalte anders verpackt. Aber, wie gesagt, das dauert. "Louis Klamroth hat ja auch nicht sofort alles anders gemacht."
Der Vergleich mit Louis Klamroth
Stimmt. Die Bürde, eine Traditionssendung zu übernehmen, haben Klamroth und Kailouli in gewisser Weise gemein. Nur beim Moderationsgehalt, merkt sie lachend an, habe sie es "mit ganz anderen Dimensionen" zu tun als der bekanntlich sehr gut verdienende Kollege von "hart aber fair": Von den dreizehn Sendungen "Report Mainz" allein könnte sie ihre Wohnung in Hamburg nicht bezahlen, und sie wohne "nicht dekadent".
Dass Klamroth gebürtiger Hamburger ist, hielt den WDR in Köln jedenfalls nicht davon ab, ihn als Nachfolger von Frank Plasberg zu holen. (Dieser wurde übrigens quasi um die Ecke von Kailoulis Geburtsort Wermelskirchen geboren, in Remscheid.) Weshalb wir jetzt kurz vor Schluss unbedingt noch einmal nachfassen müssen mit der Frage:
Frau Kailouli, gibt es in der ARD nun Rassismus gegen Moderatorinnen und Moderatoren mit Migrationshintergrund?
Das eigentliche Problem sei, dass aus ihrem Tweet, zu dem sie nach wie vor stehe, in der Berichterstattung einiger Kolleginnen und Kollegen eine Rassismus-Debatte gemacht wurde, von der sie sich ganz klar distanziere, antwortet sie. Überrascht sei sie gewesen, dass sich der MDR dahingehend geäußert habe. Ihr Thema sei doch ein anderes gewesen: Dass man sie aus dem Bewerbungspool für das neue "Mittagsmagazin" herausgenommen habe "aufgrund der norddeutschen Herkunft" (wobei MDR-Programmdirektor Klaus Brinkbäumer hier auf DWDL.de einem Bewerbungsausschluss widersprach: "alle bisherigen Mima-Moderatoren waren informiert und konnten sich bewerben").
Was auch immer zu den Differenzen führte: Nadia Kailouli findet es grundsätzlich "fragwürdig", Leute aufgrund ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, Alters oder was auch immer auszuschließen. Dem müsse sich die ARD wie jedes andere Unternehmen stellen. Das sei ein stetiger Prozess, in alle Richtungen: "Ich als dunkelhaarige Frau möchte auch nicht, dass eine blonde Frau diskriminiert wird, weil sie blond ist."
Andererseits wisse sie nach 17 Jahren in der ARD, dass jede Sendeanstalt das Recht hat, den Fokus auf neue Leute zu legen. Das sei auch vollkommen in Ordnung. "Nur die Begründung in unserem Fall fanden wir halt nicht so cool."
Gerne hätte sie als Norddeutsche den MDR in der ARD repräsentieren können wollen dürfen, sagt Nadia Kailouli noch. Jetzt tut sie es eben im Auftrag des SWR. Und das kann gerne so weitergehen. Nächster "Report Mainz"-Termin: 5. März, 21.45 Uhr.