Fasching. So nennt sich das, was sich in diesen nassen Februartagen in den südlichen Hemisphären der Republik abspielt und am „Faschingsdienstag“ auf dem Münchner Viktualienmarkt darin gipfelt, dass ein paar Marktweiber umanand tanzen. Draußen in Freimann, wo der Bayerische Rundfunk seine Fernsehnachrichten herstellt, wird Mirjam Kottmann im Nachrichtenblock des früher „Rundschau“ genannten Flaggschiffs „BR24“ ganz bestimmt die passenden Worte zu diesem, nun ja, närrischen Treiben finden.
Und wer beim Zusehen stutzen sollte: Richtig gesehen, die Moderatorin sitzt im Rollstuhl.
Mit Mirjam Kottmann will der BR nichts weniger als „ein Zeichen von gelebter und unkomplizierter Inklusion“ setzen und „vielen Menschen Mut machen“. Die 49-jährige Journalistin ist nicht nur die erste in 75 Jahren Bayerischer Rundfunk, die die TV-News vom Rollstuhl aus präsentiert. So was gab’s im deutschen Fernsehen überhaupt noch nie.
Warum eigentlich nicht?
Tja, das Warum weiß Mirjam Kottmann auch nicht so recht, als man sie danach fragt, und kann nur spekulieren: „Vielleicht gibt es nicht so viele Journalisten, die im Rollstuhl sitzen und gerne moderieren wollen. Oder es hat sich bislang keiner getraut.“
Dass sie, die 1974 in München geboren wurde, sich traute, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass eine Freundin von ihr in London lebt und ihr Bilder von besagten BBC-Kolleginnen und -Kollegen zuspielte. Wenn das in England geht, dachte sich Mirjam Kottmann, warum sollte es nicht auch bei uns gehen? Das habe sie motiviert: „Ich bin ohnehin der Typ, der sagt: Geht nicht, gibt’s nicht.“
Und so beginnt mit dieser couragierten Frau – man kann das gar nicht hoch genug hängen – ein neues Kapitel in der deutschen Fernsehgeschichte. Nur gar so „unkompliziert“ war es bis dahin nicht. Die Pionierin spricht von „einem Prozess“ nicht zuletzt auch für sich selbst.
Um es vorwegzunehmen: Das Stehpult im „BR24“-Studio (das zuletzt 2017 grundlegend umgemodelt wurde) war nicht die größte Barriere.
„Es war einfach noch nicht in den Köpfen drin, dass auch jemand im Rollstuhl die Nachrichten präsentieren kann“, sagt es Mirjam Kottmann geradeheraus. Stattdessen kamen Fragen wie: „Wie willst du sitzend hinter dem Tisch hervorschauen?“ „Das ist doch kein Hexenwerk“, entgegnete sie, „es gibt immer technische Lösungen!“
Ihre Lösung ist: ein individuell angefertigter Spezialrollstuhl, dessen Sitzfläche sie ohne Fremdhilfe nach oben fahren kann, sodass sie mit einer stehenden Person von ca. 1,75 Metern Körpergröße auf Augenhöhe kommt. Um die 15.000 Euro kostet so ein Hightech-Gefährt und damit ganz bestimmt deutlich mehr als das Ding aus dem 3D-Drucker, das der NDR für seine „Sesamstraße“-Figur Elin anfertigen ließ. Glücklicherweise übernahm Kottmanns Rentenversicherung umstandslos die Kosten (und ihr Arbeitgeber war damit fein raus).
Aber wie gesagt, es brauchte seine Zeit, bis sich auch in Mirjam Kottmanns eigenem Kopf das Bild einer Rollstuhlfahrerin vor der Kamera verankerte. Seit zwölf Jahren ist sie auf das Hilfsmittel angewiesen. Als sie 1997 beim BR anfing, war sie kerngesund.
Rasende Reporterin war ihr Traumberuf, seit sie nach dem Abitur als Praktikantin beim BR ins Fernsehmachen hineinschnupperte. Nach weiteren Praktika (u.a. beim Regionalfernsehen Rosenheim), Diplom-Journalismus-Studium und freier Mitarbeit etwa bei der Süddeutschen Zeitung blieb sie bei ihrem Heimatsender als Reporterin hängen. Wenn irgendwo was passierte, Hochwasser, Lawine, Unglücke und Unfälle aller Art, wurde sie losgeschickt. „Mirjam, du bist live eine Bank“, sagte man ihr immer wieder.
Ende 1998 erfuhr sie dann, dass sie an Multipler Sklerose erkrankt war, dieser Krankheit mit tausend Gesichtern, die ganz unterschiedlich verlaufen kann und in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Lange sagte die Nachwuchsreporterin niemandem im BR davon, weil sie Angst hatte. In der Neuerkranktengruppe der MS-Gesellschaft rieten sie: „Sagt es ja nicht eurem Arbeitgeber, sonst werdet ihr aufs Abstellgleis gestellt mit dem Argument, dass Stress nicht guttut und es deshalb besser wäre, kürzerzutreten.“
Sich schonen? Keine spannenden Geschichten mehr, wo es hektisch zugeht? Sie hatte doch grad erst im Beruf angefangen! Also schwieg Kottmann. Hatte sie einen Schub, meldete sie sich krank wegen Grippe. Nach einigen Cortison-Infusionen ging sie zurück in die Arbeit, als wäre nichts Besonderes gewesen. Sie konnte ja auch noch jahrelang laufen. Als Papst Johannes Paul II. im Sterben lag, war sie Studiovertretung im ARD-Studio Rom und berichtete live unter anderem für die „Tagesschau“.
Aber irgendwann ging es nicht mehr. Die Krankheit schritt voran, die Beine wurden schlechter. Das Hinken konnte sie nicht mehr mit einem Skiunfall erklären. Also schenkte sie ihrem damaligen Chef reinen Wein ein. Dieser reagierte mit Verständnis, bot ihr einen Parkplatz direkt auf dem BR-Gelände an, damit sie nicht mehr weit laufen musste. Und sie bekam, auf ihren Wunsch, mehr Schichten im Innendienst. Es war eine Umstellung für sie, die sie auch schmerzte. Denn die Reporterin, die rausgeht und mit Leuten spricht, das sei eigentlich ihr Wesen: „Ich musste erst lernen und akzeptieren, dass da eine Krankheit ist, die mich bremst, und dass ich andere Akzente setzen muss.“
Und so wurde aus der rasenden eine rollende Reporterin – die erst einmal eigene Hemmungen vor der Kamera überwinden musste.
Mirjam Kottmann weiß noch, dass sie vor einer „Tagesschau“-Schalte zur Gerichtsverhandlung über das Zugunglück in Bad Aibling mit dem Team überlegte, wie man sie am besten positioniert und filmt, damit der Rollstuhl ja nicht zu sehen ist. „Ich wollte nicht, dass man meine Einschränkung sieht.“ Ein paar Live-Einsätze später dachte sie: Ist doch egal. Sollen es doch alle sehen.
Heute hat sie das Selbstbewusstsein zu sagen: „Manche Menschen haben schlechte Augen und tragen eine Brille. Ich habe schwache Beine und nutze deshalb den Rollstuhl. Ja und? Leider wirst du immer in diese Ecke geschoben, ach, behindert, vielleicht noch eine Krankheit, die müssen wir schonen.“
Nicht wegzudiskutieren ist, dass eine Reportage wie „Zu Fuß über die Alpen mit Dialyse-Patienten“ (die Kottmann gerne gemacht hätte) halt nicht mehr geht, weil sie selber nicht mehr über die Alpen kommt. Also musste sich die Reporterin eine neue Herausforderung suchen.
2018 bekam sie vom Nischensender ARD alpha erstmals die Chance, sich als Moderatorin zu bewähren. Konzept der Gesprächssendung „alpha-demokratie“ (Ende 2023 leider abgesetzt) war bis dato, dass Moderator und Gäste stehen. Die erste Idee, dass sich Kottmann am Stehtisch auf einen Hochstuhl setzt, erwies sich als nicht umsetzbar. Eine halbstündige Sendung, live, ohne Teleprompter, hochkomplexe Themen (wie dieses hier) – da konnte sie sich nicht auch noch darauf konzentrieren, nicht vom Stuhl zu fallen. Die Redaktion baute ihr ein Podest mit Rampe für den Rollstuhl. Der zweite Schritt zu gelebter Inklusion im On war damit getan.
Bis zum dritten Schritt, also zu den News, dauerte es dann wieder eine Weile. Es musste ja auch erstmal ein Platz frei werden. Erst als Sandra Rieß mehr Moderationen für „BR24“ um 21.45 Uhr übernahm und bei tagesschau24 in Hamburg anfing, konnte Mirjam Kottmann in der 16 Uhr- und 18.30 Uhr-Schiene aufrücken.
Andererseits: Nachrichten nicht von Kopf bis Fuß präsentieren? Eigentlich unvorstellbar, wenn man sich durchs Programm zappt und nicht gerade bei WELT oder ntv hängenbleibt.
Paradoxerweise wurde in den Anfängen des deutschen Nachrichtenfernsehens durchweg gesessen. „Tagesschau“-Sprecher und „heute“-Moderatorinnen waren über Jahrzehnte Menschen ohne Unterleib. Als Jan Hofer am 25. Oktober 2015 als erster seit 63 Jahren mit der Tradition brach und vors „Tagesschau“-Pult trat, um seine (selbstverständlich behosten) Beine zu zeigen, kam das fast schon einer Revolution gleich. Auch RTL und Sat.1 machten die News vor 40 Jahren zunächst zu einer Angelegenheit im Sitzen, bis sich die Erkenntnis durchsetzte: Im Stehen ist das Atmen und Sprechen einfacher, die Moderation wirkt dynamischer und lockerer.
Wie Mirjam Kottmann ihr Manko wettmacht? Indem sie alles dafür tut, möglichst fit zu bleiben: Atemübungen und Physiotherapie, um das Lungenvolumen zu erhalten und die Muskultur zu lockern, und das schon seit Jahren. Sie müsse sicher viel mehr Zeit und Training aufwenden als Kollegen ohne Einschränkung, aber das ist es ihr absolut wert: „Ich wollte nie frühverrentet werden, sondern weiter in diesem Beruf arbeiten und Teil der Gesellschaft sein.“
Dass unter dem Schlagwort „Diversity“ sehr engagiert über Teilhabe und Sichtbarkeit debattiert wird und dass Medienhäuser wie der BR einen „Diversity Beirat“ sowie eine Inklusionsbeauftragte für die aktuell 6,2 Prozent Schwerbehinderten in der Belegschaft beschäftigen – das sind Entwicklungen, die in Mirjam Kottmanns Karriere sicher einzahlen. Allein, da muss noch mehr gehen, findet sie. Sie sehe im Fernsehen sehr viele Menschen mit anderer Hautfarbe oder Migrationshintergrund, „und das ist auch gut so. Aber wo sind bitte die rund acht Millionen Menschen mit einer Einschränkung repräsentiert?“
Dass jetzt sie vom 12. Februar an (wenn auch nur eine Woche im Quartal) eine Nachrichtensendung moderieren dürfe, sei „ein Riesenschritt für mehr Sichtbarkeit und Normalität“. Und was die Moderatorin besonders freut: Für die allermeisten Zuschauer spiele es keine Rolle, dass sie im Rollstuhl sitze. „Für sie zählt nur, dass sie gut informiert werden.“
Es lief gut. Redaktionsleiter Andreas Bachmann glaubte an sie und ließ sie im November eine ganze Woche die 16-Uhr-Ausgabe moderieren. Vielleicht auch, um zu testen, wie die Zuschauer reagieren. Ob sie sich von Kottmanns Untersatz ablenken lassen, womöglich verschreckt abwenden. In einer auf Optik fixierten Branche wie dem Fernsehen wird ja jedes Detail, jeder Makel kommentiert, sei es der Fleck auf der Krawatte, der dunkle Teint, der lichte Scheitel, die lackierten Fingernägel an Männerhänden (die der SWR verbieten will) oder eben der Rollstuhl.
Ja, es mag Zuschauer geben, die sich Gedanken machen: „Warum sitzt die Frau im Rollstuhl?“, räumt Mirjam Kottmann ein. Sie glaubt aber, es werde „zu viel Bohei“ darum gemacht. Es müsse um den Inhalt gehen „und nicht darum, was der Mensch für eine Einschränkung hat oder woher er kommt“.
Und dann erzählt sie von der Zuschrift einer Schülerin, die sie besonders berührt habe, weil es ihr zeigt, dass sie anderen Menschen Mut machen kann. Das Mädchen schrieb also, sie habe vor Glück geweint, als sie Kottmann in einer on-Reportage für das ARD-„Morgenmagazin“ sah, denn sie wisse jetzt: Auch ich kann diesen Beruf ergreifen, trotz meiner Einschränkung.