Wann ist ein „Tatort“ ein guter „Tatort“? Wenn fast neun Millionen Menschen zuschauen wie vorigen Sonntag bei „Bauernsterben“? Sabine Derflinger, die bei diesem Krimi aus Wien Regie führte, weiß natürlich sehr genau, dass die Quote über die Qualität eines Films nichts aussagt. Obwohl sie ihr das Überleben als Regisseurin sichert und sie immer den Ehrgeiz hat, den Vorgänger-„Tatort“ zu übertrumpfen (Check: gelungen!): Reichweite ist ihr nicht das Wichtigste. Für sie zählt, dass sie mit ihren Filmen zufrieden ist, und das sei sie eigentlich immer, „auch wenn sie nicht perfekt sind“, denn, und da spricht aus ihr auch die Mutter einer Tochter und Großmutter zweier Buben:
„Das ist so wie mit einem Kind: Das hat vielleicht eine schiefe Nase, trotzdem liebt man es. An den Ecken und Kanten eines Films kann sich Diskurs verhaken.“
Dann verhaken wir uns.
Reden wir darüber, warum ein guter Film und speziell der „Tatort“ aus Sabine Derflingers Sicht ein Thema braucht, was im weitesten Sinne engagiert ist oder irgendwas bewegen möchte, sodass sie ein halbes Jahr ihres Lebens mit dem Projekt verbringt. Bei der Flut von Filmen, wo es um überhaupt nichts gehe, da müsse sie nicht auch noch einen machen, findet sie.
Und reden wir nicht zuletzt auch darüber, warum Frauen beim „Tatort“ immer noch seltener Regie führen als Männer, obwohl sie vor der Kamera in der Ermittlerrolle inzwischen aufgeholt haben.
Als sich Sabine Derflinger dazu aus ihrer Wohnung im neunten Wiener Bezirk, unweit ihres Stammcafés Monarchie meldet, steht die Ausstrahlung von „Bauernsterben“ kurz bevor. Es ist ihr vierter „Tatort“. Die Kommentare der „Tatort“-Fans, auch die der professionellen Schreiber, sind noch nicht in die Tastatur gehaut. Und so kann sich die Regisseurin, die während des Gesprächs selbstvergessen an ihrem Nasenpiercing zwirbelt (ein Souvenir von ihren Indien-Reisen), nicht grämen, sofern sie das überhaupt täte.
Wer „Bauernsterben“ verpasst hat: Es ging um Tierhaltung im Spannungsfeld zwischen Ökonomie, Ökologie und Tierwohl. Die Story führte in die Welt von Schweinezüchtern, EU-Beihilfebetrug, Tierschutzaktivisten, Agrar-Multis. Und endete dann, ganz klassisch, in einem tödlichen Vater-Tochter-Konflikt. Nix mit naiver Bauernhof-Romantik. Wie so oft am Sonntagabend: Es gab ein „Thema“, sogar mehrere und vielleicht zu viele für 90 Minuten. Was die Regisseurin besonders packte an dem Buch von Lukas Sturm: der hier verhandelte Generationenvertrag, den die Alten nicht einhalten, weshalb die Jungen zu radikalen Lösungen greifen.
Es ging also ums große Ganze und die Frage, ob wir noch Fleisch essen sollen. Und auch wenn „Bauernsterben“ keine eindeutige Antwort darauf gab: Der Appetit auf Schwein dürfte manch einem vergangen sein.
Die von den Viecherln angefressene Leich‘ im Stall gleich zu Filmbeginn – nach Sabine Derflingers Empfinden hätte dieser unter FSK12-Bedingungen „geradezu reduziert gelöste“ Schockmoment „noch radikaler“ ausfallen können, weil er über das aktuell Politische hinausgeht: „Wir essen die Schweine und die Schweine essen uns. Das hat etwas Metaphorisches.“ Solche mythischen Elemente gefallen ihr. Sie komme immer vom Inhalt zur Form, so funktioniere ihre Kreativität, erklärt die Regiemeisterin.
Als das kann man sie ruhigen Gewissens bezeichnen.
In Österreich, wo sie 1963 geboren wurde, ist Sabine Derflinger eine Filmgröße, vielfach ausgezeichnet auch in Deutschland, und zudem eine Frau, die sich vehement und ohne Rücksicht auf Verluste einmischt für die Gleichberechtigung.
Sei es, dass sie darauf achtet, möglichst viele Frauen hinter der Kamera zu besetzen wie auch davor, was in „Bauernsterben“ eingelöst wird (wobei man sich fragt, warum die Frauenfiguren wie die Wurst mampfende Witwe, die kaltherzige Managerin oder die überengagierte Landpolizistin mit rassistischen Zügen – „die Rumänen waren’s“ – so karikaturenhaft daherkommen).
Sei es, dass sie für die Geschlechterquote bei der Fördermittelvergabe streitet, weil Frauen sonst aus den heiß umkämpften Töpfen nichts abbekommen, schon gar nicht die großen Budgets, die die Männer lieber unter sich verteilen mit dem Vorwand, es gehe schließlich um Qualität und nicht um das Geschlecht, was Derflinger mit dem Satz für die Ewigkeit kontert: „Erst wenn genau so viele Frauen schlechte Filme machen dürfen wie Männer, können wir ernsthaft über diesen Vorwurf reden, aber das ist ja noch lange nicht der Fall, ja?“
"Es müsste viel mehr Einzelfilme geben jenseits des Sicherheitsgefühls, dass es ausschließlich ein Krimi sein muss."
Oder sei es, dass sie Vorkämpferinnen für die Frauensache ein filmisches Denkmal setzt wie zuletzt mit den Dokumentarfilmen „Alice Schwarzer“ (2022) und „Die Dohnal“ (2019) Deutschlands respektive Österreichs Ikonen der Frauenbewegung.
Frauenrechte sind für Sabine Derflinger eben Menschenrechte und Feminismus „kein privates Hobby so wie Bilderaussticken“, sagte sie in einem Podcast: Es gehe um die Einhaltung der Rechte für alle und dass alle dieselben Chancen haben können unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Zugehörigkeit zur Kultur.
Zum Glück haben sich die Verhältnisse, was die Filmbranche betrifft, gebessert. Das erkennt die 60-Jährige an, schränkt dann aber ein: Manches in der Genderdiskussion werde „völlig absurd“. Sie selbst beispielsweise sei „übergangslos von der Frauendiskriminierung in die Altersdiskriminierung abgestürzt“. Frau ja, aber nicht jung genug – das bekam sie als Argument zu hören. Es würden immer wieder neue Ausschlusskriterien gesucht, weil der Konkurrenzkampf so groß ist.
Die Frauen kämpfen jetzt mit. Am Anfang von Sabine Derflingers Karriere waren die Männer fast konkurrenzlos unter sich.
Schauspielerin wollte sie werden, als sie Kind war. In Vöcklabruck wuchs sie auf, einem Städtchen in Oberösterreich, das übrigens just in diesem Frühjahr wegen eines toten Schweins in die Schlagzeilen geriet und in Derflingers Jugend mutmaßlich nicht viel Aufregenderes zu bieten hatte. Von in der Früh bis Sendeschluss schaute sie fern. Tolle Fernsehspiele, tolle internationale Filme, tolle Regisseure, tolle Diskussionen, tolle Boxkämpfe . . . Vor der Kamera, das wurde ihr bald klar, war nicht ihr Platz.
Dass man als Frau auch Regisseurin werden kann, wusste sie nicht und tastete sich erstmal als Regie- und Produktionsassistentin vor. Ab 1991, da war sie schon Mutter, studierte sie an der Filmakademie Wien Buch und Dramaturgie. Erste Kurz- und Dokumentarfilme entstanden parallel. Mit „Vollgas“ (über die Auswüchse des Skitourismus) drehte sie 2002 ihren ersten Langspielfilm und setzte zwei Jahre später mit „Kleine Schwester“ (mit Maria Simon und Esther Zimmering in den Hauptrollen) ein erstes großes Ausrufezeichen im Krimigenre.
Auf die Frage, welche Fernsehsendung sie gerne schaue, antwortete die nun recht bekannte Sabine Derflinger 2007 in einem Interview: „Tatort. Ich möchte einmal eine Folge drehen; hoffentlich fragt mich jemand.“
How dare you! Für eine österreichische Regisseurin war das damals ganz schön forsch.
Ilse Hoffmann durfte 1981 als erste Frau überhaupt einen ARD-„Tatort“ inszenieren, die Schimanski-Folge „Grenzgänger“. 1999 brachte die gebürtige Deutsche dann für die Österreicher den Oberinspektor Eisner in die Spur. Obwohl der ORF seit Beginn der Reihe im Herbst 1970 eigene Ermittler hat, gab es in vier Jahrzehnten österreichischer „Tatort“ nie eine österreichische Regisseurin, bis 2012. Da wurde Sabine Derflingers „wirklich langes Anklopfen“ beim Sender endlich gehört.
Auf ihr „Tatort“-Debüt „Falsch verpackt“ folgte im Jahr drauf „Angezählt“ und ein Grimme-Preis. Der NDR engagierte sie 2014 für „Borowski und das Meer“. Weitere Österreicherinnen kamen fortan zum Zug, Barbara Eder, Catalina Molina, Evi Romen . . . Dennoch haben Regisseurinnen, ob österreichisch oder deutsch, in „Tatort“ und „Polizeiruf“ nach wie vor weniger Chancen als Regisseure. Nach aktuellen Zahlen des Bundesverbands Regie stieg ihr Anteil zwar von 20 Prozent (2019) auf 38 Prozent (2020). Das geforderte 50:50 auf dem Regiestuhl ist das aber noch nicht.
Sabine Derflingers Berliner Regiekollegin Claudia Garde (11 „Tatorte“) mutmaßte vor Jahren, es könnte daran liegen, dass man männlichen Regisseuren den Umgang mit Gewalttaten, von denen die Sonntagskrimis nun mal handeln, eher zutraut – was sich aber spätestens mit Derflingers menschenfressenden Schweinen in „Bauernsterben“ widerlegen lässt, nicht wahr?
Klar, das sonntägliche Täter-Rätsel sei eines der wenigen Fernsehevents, wo Millionen Menschen gemeinsam schauen und am nächsten Tag darüber sprechen. Das sei schon was ganz Besonderes im Vergleich zur Streamingware, worüber man sich vielleicht mit drei anderen Menschen austauschen könne und den Rest allein verarbeiten müsse oder einfach vergisst. Beim „Tatort“ dagegen sei „viel Kommunikation drin“. Ob er einem gefällt oder nicht, sei eine Sache, sagt sie. „Viel wichtiger ist, dass er verschiedene Menschen aus verschiedenen Blasen ins Gespräch bringen kann.“ Gerade im Moment, findet sie, „dass es viel zu wenig Austausch zwischen den Generationen gibt.“
Und dann kommt ihr Aber: „Aber es müsste viel mehr Einzelfilme geben jenseits des Sicherheitsgefühls, dass es ausschließlich ein Krimi sein muss.“ Mit einem Einzelstück, okay, da schauten nicht gleich so viele Leute zu wie bei einem „Tatort“. „Aber dann muss man das halt öfter machen und Geduld aufbringen. Das Publikum stellt sich nicht von heute auf morgen um.“
Und dann erzählt sie von ihrer 80-jährigen Mutter, die wahnsinnig viel fern schaue und die ihr neulich sagte, ,ich langweile mich, ich könnte anspruchsvolleres Programm vertragen“.
Recht hat sie. Und was hat Sabine Derflinger noch so vor?
In diesem Sommer hat sie gerade zwei (sic!) „Bozen“-Krimis fürs ZDF abgedreht. Mit ihrer Tochter Isabella Derflinger, einer Kostümbildnerin, mit der sie schon in der ORF-Serie „Vorstadtweiber“ und dem ZDF-Zweiteiler „Süßer Rausch“ zusammengearbeitet hat und die auch in „Bauernsterben“ für die ästhetischen Highlights (Eisner in hellblau-weißer Trainingsjacke vor hellblau-weiß karierter Tapete) zuständig war, schreibt sie momentan an der ersten Drehbuchfassung für eine Christine-Nöstlinger-Verfilmung: „Das Austauschkind“, ein Kinderbuch! Damit erfüllt sich Sabine Derflinger einen lang gehegten Wunsch.
Und ein bisschen klingt es danach, als nehme sie sich mit diesem Kinoprojekt, das sie mit der 2010 gegründeten eigenen Firma produziert, eine Verschnaufpause vom Kampf für die Frauen. Aber nicht für immer.
Das Motto der von ihr porträtierten ersten österreichischen Frauenministerin Johanna Dohnal hat Sabine Derflinger zu ihrem eigenen gemacht: „lästig bleiben“, denn: „Es nutzt ja nichts.“ Zwischendurch denke sie zwar, jetzt mache ich das nimmer, ich ziehe mich zurück. Aber dann sehe sie, es ist einfach noch so viel zu tun.
In der Filmbranche zum Beispiel, wo Frauen weltweit in der Tendenz weniger Zugang zum großen Geld für Drehs haben; „Barbie“-Blockbuster, ja, gut, ein Meilenstein, „aber in der Masse rücken keine Frauen nach“. Und dann das Problem mit den gestiegenen Produktionskosten durch Inflation und höhere Löhne, was zur Folge hat, dass die Vorbereitungszeit gekürzt wird und die Regieassistenz das ohne Extra-Honorar auffangen muss. „Es ist höchste Zeit, dass sich die Fernsehanstalten da was einfallen lassen“, findet Sabine Derflinger.
Nicht zuletzt auch in der Frauenfrage generell sieht sie weiter Handlungsbedarf: „Dort, wo es grundsätzlich ist, sind die Sachen nicht gelöst.“ Österreich sehe sich zum Beispiel als Vorreiter in der Bekämpfung von Femiziden, aber tatsächlich bewege sich gar nichts. Und wenn sie in den Iran schaue oder nach Afghanistan, ach, es ist Sabine Derflinger zum Weinen. „Da muss ich weiter lästig bleiben.“
Bleiben Sie es, Frau Derflinger!