Na, Ihr Hasen, wer ist die neue Wunderwaffe des deutschen Fernsehens? Für Olivia Jones liegt die Sache klar auf der Hand. Und nein, die Entertainerin und Muddi aller Fernsehhasen meint nicht Joko & Klaas, mit denen sie am kommenden Donnerstag in Köln um einen Deutschen Fernsehpreis in der Kategorie „Bestes Entertainment“ konkurrieren wird, sondern: „Steffen Hallaschka und ich.“ Der strunzseriöse „Stern TV“-Moderator und sie, die selbsternannte „Multifunktionstranse“, die nach eigener Aussage bis heute das Wort „zurückhaltend“ nicht buchstabieren kann, passten einfach super zusammen, findet sie. Verschmitzt wie selbstbewusst behauptet sie sogar: „Wir sind innovativer als Joko & Klaas und sehen auch viel besser aus.“
Letzteres stimmt ganz bestimmt (ha ha ha). Und das mit der Innovation ist auch nicht falsch. Denn was Steffen & Olivia in ihrer nominierten RTL+-Dokuserie „Sterben für Anfänger“ über eins der vielleicht größten Tabuthemen in Erfahrung bringen, hat man in dieser Form noch nicht gesehen. Es ist, um einmal diese sehr treffenden Worte (von hier) zu klauen: „Ernstzunehmende Doku und Esoterik-Firlefanz, Kneipentheke und Sterbebett. Alles auf einmal. Eine Sendung wie ein Autounfall: Unmöglich abzuschalten, aber nur unter Qualen zu ertragen.“
Olivia Jones selbst sagt über „Sterben für Anfänger“: Es gab bisher kein TV-Format, das ihr so viel gegeben und sie zugleich so sehr gefordert habe. Hitze, Maden und Gezicke im australischen RTL-Dschungel? Pfff, ein Spaziergang im Vergleich dazu.
Fun Fact: Es waren mal 2,01 Meter. Weil ein Bein kürzer war als das andere und der Rücken deshalb Probleme machte, ließ sie sich vor einiger Zeit sechs Zentimeter heraussägen. Den Gruselfaktor ihrer in Formaldehyd eingelegten Beinscheiben weiß sie seither gekonnt einzusetzen (bitte hier ab Min. 23 in der „NDR-Talkshow“ die entgleisten Gesichtszüge von Schauspielerin Anja Kling bewundern, herrlich!). Der Hang zum Morbiden, Makabren liegt offenbar in Olivia Jones‘ DNA. Denn schreibt sie nicht in ihrer Autobiografie „Ungeschminkt – Mein schrilles Doppelleben“, dass sie sich schon als Pubertier in der Gothic-Phase nichts sehnlicher wünschte als einen Sarg zum Schlafen?
Seit „Sterben für Anfänger“ hat sie ihn. Das gute Stück, das sie dort in den schönsten Regenbogenfarben bemalt und dabei wie in einem meditativen Akt ihr Leben an sich vorbeiziehen lässt, nutzt sie allerdings nicht als Bettersatz. Der Sarg ist eingelagert und wird demnächst Ausstellungsstück in einer ihrer Bars – bis er dann mal gebraucht wird. Vielleicht legt sie sich bis dahin auch mal rein, als Gästeschreck. Wer weiß.
„Sterben für Anfänger“ scheint also aufgrund ihrer biografischen Prädisposition wie gemacht für Olivia Jones. Aber eine Fernsehpreis-Nominierung in der Information ausgerechnet für sie, den buntesten Vogel im Fernsehnest? Das ist schon eine kleine Überraschung.
Nur nicht für Olivia Jones.
Anruf in Hamburg. Frau Jones? Herr Knöbel? Wie darf man Sie ansprechen? „Einfach Olivia“, sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung, die vor fast 54 Jahren im Körper von Oliver Knöbel geboren wurde. Die Gratulation zur Nominierung – es ist übrigens die zweite nach „Viva la Diva – Wer ist die Queen?“ (RTL) im vorigen Jahr, damals allerdings in der Kategorie „Beste Show“ – nimmt sie kurz wahr und legt dann los mit ihrem Wortfeuerwerk.
Ganz so überrascht sei sie nicht. Sie versuche schon ihr ganzes Leben lang, „Unterhaltung mit Haltung“ zu machen und „den Menschen was mitzugeben“, also zu unterhalten und zu informieren im besten Sinne des Genres Infotainment. Auf der einen Seite sei sie bunt, schrill und lustig, ja, stimmt. Andererseits setze sie sich seit Jahren für Toleranz und gegen Diskriminierung ein, immer mit der wichtigsten Waffe im Gepäck, dem Humor. Die Zuschauer wüssten: „Wenn ich etwas mache, dann gibt es zwischendurch auch mal was zu lachen.“ Mit Humor könne sie sie einfacher an ernste Themen heranführen.
Egal ob sie auf Einladung der Grünen als erste Dragqueen in der Geschichte der Bundesversammlung Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten wählt oder mit mütterlicher Geduld und Zugewandtheit dem späteren Dschungel-König Joey Heindle den Unterschied zwischen Travestiekünstlern und Transsexuellen erklärt: Als Mensch, der in der Öffentlichkeit steht, sieht sich Olivia Jones in der Verantwortung, sich zu engagieren und aufzuklären. Auch aufgrund ihrer eigenen Vergangenheit.
Die geschminkten Augen, die wild frisierten Haare, die lackierten Fingernägel, die schrillen Klamotten: So etwas hatte man in ihrer Geburtsstadt Springe Anfang der 1980er bei einem Jungen noch nicht gesehen. Das Aussehen, diese Rebellion nach außen gegen Konvention und Kleinstadtmief, blieb nicht ohne Konsequenzen. Der Rektor zitierte die Mutter an die Schule: Ihr Oli sei ein schlechtes Vorbild. Manche Eltern befürchteten gar, ihre Kinder könnten sich bei ihm „anstecken“. Es gab Anfeindungen von Nachbarn, Bekannten, Schulfreunden. Selbst die eigene Familie wollte ihm die „schwulen Flausen“ austreiben. So was macht was natürlich mit einem.
2019 initiierte sie das Projekt „Olivia macht Schule“. Mit Künstlern ihrer Olivia-Jones-Familie, allen voran Veuve Noire, gehen sie in Schulen, die ein Problem mit Mobbing, Ausgrenzung und Intoleranz haben. Und sie versuchen, den jungen Menschen beizubringen, „dass es etwas Schönes und nichts Negatives ist, anders zu sein“. Ihr selbst wurde das allmählich klar, als sie anfing, die Nachthemden der Mutter anzuprobieren. Mit Sex, mit ihrer sexuellen Orientierung hatte das freilich noch nichts zu tun. Es war der reine Spaß am Verkleiden, aus dem sie später einen Beruf machen sollte.
Anfang der 1980er Jahre sah man zwar schon den ein oder anderen Travestiekünstler im Fernsehen, aber dass Dragqueens eigene Sendungen hatten oder in Talkshows saßen – davon war man noch Jahrzehnte entfernt. „Typen“ wie das deutsche Travestieduo Mary und Gordy fand Olivia Jones damals grandios: „Sie haben Travestie aus der Schmuddelecke geholt und vielen den Weg geebnet“, schreibt sie in ihrem Buch und dankt: Ohne deren Vorarbeit hätte sie wahrscheinlich kaum bei „Maischberger“ mitdiskutieren oder das „Wort zum Sonntag“ (hier entlang) anmoderieren dürfen.
Ihren allerersten TV-Auftritt hatte Olivia Jones in der NDR-„Spätshow“ von Götz Alsmann, als Horror-Stripperin, die sich in ihrem Schlüpfer verheddert und dabei sächselt. Es war nicht wirklich gut, aber hurra, sie war im Fernsehen. Weiter nach oben ging’s dadurch, dass sie Partys auf der Reeperbahn veranstaltete und schriller war als die anderen. In den 1990ern kamen dann Drags in Mode – sie war die einzige, die das machte. Die Medien hatten jemanden, auf den sie zurückgreifen konnten. Aber nur bunt, das reicht Olivia Jones – wir erwähnten es bereits – nicht.
Legendär ist zum Beispiel ihr Reportereinsatz für den NDR beim Parteitag der NPD, wie sie den, ähem, Herren das Mikrofon unter die Nase hält, ihr kleinen braunen Häschen, hier sind ja gar keine Frauen, ihr müsst euch doch auch vermehren, nicht, dass das doch ein Schwulenclub ist? Respekt, zum Schaudern schön! Gegen die Vorbehalte, dass man ihre Kunst, die Drag-Kunst, einem größeren Publikum zur besten Sendezeit nicht zumuten könne, kam sie trotz ihres unterhaltsamen wie gesellschaftspolitisch engagierten Könnens lange nicht an.
Bestimmt zehn Jahre lang versuchte sie, ein Dragqueen-Format wie den Welthit „RuPaul’s Drag Race“ ins Fernsehen zu bringen. Sie sprach mit Senderverantwortlichen, mit Ideengebern, mit Produzenten. Und stieß immer auf taube Ohren. 2015 durfte sie, immerhin, ihrem Vorbild RuPaul in der deutschen Synchronisation ihre Stimme leihen.
Womit wir wieder bei „Sterben für Anfänger“ sind.
Olivia Jones gibt in dieser Doku nicht bloß das „bunte Moderationsmäuschen“. Die Idee für das Format entwickelten sie und ihr langjähriger Manager Philip Militz gemeinsam mit Anne-Katrin und Steffen Hallaschka. Als RTL sofort Interesse zeigte, kam als Produzent I&U TV ins Boot und Anne-Katrin Hallaschka übernahm als Executive Producerin. Dass daraus gleich eine „Streaming-Sensation“ wurde (konkrete Zahlen behält RTL auf Nachfrage für sich) und ein Fernsehpreis winkt, erfülle sie alle mit Stolz.
Nun mag es auf den ersten Blick befremdlich wirken, wenn ein quietschbunter Vogel wie Olivia Jones im so genannten Versorgungsraum eines Bestatters Farbe auf die wachsweißen Hände eines Verstorbenen schminkt oder wenn sie mit Gummistiefeln irgendwo auf dem Feld mit der Pinzette das Igitt-Gewürme aus einem sich zersetzenden Waschbären herauspuhlt. (Gott sei Dank hat sich das Geruchsfernsehen nicht durchgesetzt!) Aber es gibt der Schwere des Themas eine Leichtigkeit. Drag-Kunst und Information gehen hier eine erstaunlich stimmige Verbindung ein, weshalb man diese Frage Olivia Jones unbedingt stellen muss:
Sind Drags endgültig im Mainstream angekommen?
Ja, sind sie, „wir haben viel erreicht“, findet Olivia Jones. Und dann kommt ihr Aber: „Wenn ich sehe, wie queere Menschen und vor allem Dragqueens immer noch angefeindet werden, muss noch eine ganze Menge mehr passieren. Es gibt viele Konservative und Politiker, die uns wieder in die Steinzeit beamen wollen, weil wir ihnen zu bunt sind. Da muss man gegenarbeiten, so wie ich mit dem Slogan: Lieber bunt als braun.“ Toleranz, fährt sie fort, sei etwas, was man immer wieder neu definieren und erkämpfen müsse. Deswegen brauche es Formate wie „Viva la Diva“. Oder „Sterben für Anfänger“. Oder oder oder.
Aus ihrer Sicht kann schon noch ein bisschen mehr kommen im Fernsehen an Sichtbarkeit, wenn man überlegt, dass zehn Prozent in der Gesellschaft queere Menschen sind. Sie glaubt sogar: „Der Siegeszug der Dragqueens beginnt erst.“ Und ist selbst natürlich „für jede Schandtat bereit“.
Eine Transe als Kommissarin im „Tatort“ zum Beispiel, das wäre ganz nach Olivia Jones‘ Geschmack, doch leider, leider, „still ruht der See“, seit sie selbst mal im „Großstadtrevier“ an der Seite von Jan Fedder Krimi übte. Dass sich noch niemand an das „Tatort“-Thema herangewagt hat, verstehe sie gar nicht, „das wird ja wohl langsam mal Zeit, ne?“ Auf der Fernsehpreis-Gala will sie sich „bei einem Kaltgetränk“ die ARD-Verantwortlichen jedenfalls vorknöpfen.
Thank TV-God, ein paar andere potenzielle Gesprächs- und Geschäftspartner werden am Donnerstag im Coloneum auch noch herumstehen. Denn es ist ja so: In Olivia Jones und ihrem Management lodern noch viele weitere Ideen, wie man Drag-Kunst mit Mainstream-TV verbinden könnte. Weitere Projekte im Stile von „Sterben für Anfänger“ schweben ihnen vor. Noch ist nichts spruchreif, wie schade. Bestätigen kann die Diva nur, dass mit RTL bereits über eine Fortsetzung des Sterbe-Formats gesprochen wird, sozusagen über ein „Sterben für Fortgeschrittene“.
Apropos fortgeschritten.
Auch eine Olivia Jones wird nicht jünger. Dagegen kann die Spachtelmasse im Gesicht ebenso wenig ausrichten wie das Gassigehen mit dem Hund oder der Besuch im Fitnessstudio. In der RTL-Doku wurde ihr zwar eine Lebenserwartung von jenseits der 80 attestiert, aber Vorsorge ist in allen Belangen ratsam, nicht wahr?
Also, Olivia, sehen Sie unter den vielen anderen Drags, die ins Rampenlicht streben, eine würdige Nachfolgerin? „Gott sei Dank nicht“, antwortet die one and only Queen mit empörtem Lachen. Trotzdem, sie hofft, dass sie nicht die letzte Dragqueen ist, die für den Deutschen Fernsehpreis nominiert ist. „Im Fernsehen ist auf jeden Fall noch ganz viel Platz neben mir.“
Habt Ihr gehört, Ihr Hasen?